Zum Gedenken an Wadim S. Rogowin
In seiner Würdigung von Wadim S. Rogovin erklärt David North, was diesen sowjetischen Historiker zu einem bemerkenswerten „Propheten der historischen Wahrheit“ gemacht hat.
Wadim Sacharowitsch Rogowin (1937–1998) war der größte russische marxistische Soziologe und Historiker der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Der Mehring Verlag hat sein Hauptwerk »Gab es eine Alternative?« in deutscher Sprache herausgegeben. Trotz unzähliger Veröffentlichungen zum Stalinismus, die seit den 1990er Jahren die Bücherregale füllen, sucht Rogowins lebendige und detaillierte Geschichte der Linken Opposition unter der Führung Leo Trotzkis bis heute seinesgleichen. In sieben Bänden schildert er den politischen Kampf gegen die stalinistische Entartung der Sowjetunion zwischen 1923 und 1940. Sechs Bände sind bereits erschienen, der siebte ist in Vorbereitung.
Die Bedeutung seiner Arbeit liegt in seiner Aktualität: »Gab es eine Alternative zum Stalinismus?« ist auch heute die Schlüsselfrage für ein Verständnis des 20. Jahrhunderts. Wer nach einer Antwort auf die gesellschaftlichen Probleme sucht, muss die Niederlagen der internationalen Arbeiterbewegung studieren, die mit dem Aufstieg der stalinistischen Bürokratie in den 1920er Jahren verbunden waren. Rogowin zeigt in seinem Werk auf, dass der Hauptzweck von Stalins blutigem Terror in den 1930er Jahren die Auslöschung von Trotzkis politischem Einfluss war.
In seinem Hauptwerk analysiert Rogowin die politischen Konflikte in der Kommunistischen Partei der Sowjetunion und der Kommunistischen Internationale zwischen 1922 und 1940. Es stützt sich auf Materialien aus zu zuvor geheimen sowjetischen Archiven, die in den 1990er Jahren zugänglich geworden sind, sowie eine Vielzahl von Memoiren. Diese herausragende Buchreihe ist für ein Verständnis des Stalinismus unerlässlich. Die sechs Bände sind als Gesamtausgabe in gebundener Form und im E-Book-Format erhältlich.
Wadim S. Rogowin war Doktor der Philosophie und Professor am Soziologischen Institut der Russischen Akademie der Wissenschaften in Moskau, wo er die soziale Differenzierung in der sowjetischen Gesellschaft untersuchte. Nach der Auflösung der Sowjetunion 1991 begann Rogowin mit der intensiven Arbeit an seinem Werk »Gab es eine Alternative?«. Bis zu seinem Tod am 18. September 1998 entwickelte sich eine enge Zusammenarbeit mit dem Internationalen Komitee der Vierten Internationale.
Im ersten Band der Reihe »Gab es eine Alternative?« werden die Auseinandersetzungen in der Kommunistischen Partei von 1922 bis 1927 beschrieben. Die Bildung der Linken Opposition 1923 ist der Beginn des Kampfs gegen den wachsenden Einfluss der Bürokratie in der Sowjetunion.
Im zweiten Band zeigt Rogowin, dass die Opposition gegen das stalinsche bürokratische Regime in den Jahren von 1928 bis 1933 trotz Isolation und Illegalität weiter anwächst und die Bürokratie in ihrer Existenz bedroht. Während Stalin mit der Zwangskollektivierung den Bürgerkrieg gegen die Bauernschaft entfesselt, legen Trotzki und die Linke Opposition in allen Grundfragen des Aufbaus des Sozialismus ein alternatives Programm vor, das viel Unterstützung erhält.
Der stalinsche Terror Ende der dreißiger Jahre übersteigt, wie auch der Holocaust, in seinen Ausmaßen und Gräueln das menschliche Vorstellungsvermögen. Rogowin gelingt es, die gesellschaftlichen Veränderungen in der Sowjetunion 1934–1936 aufzudecken, die den großen Terror möglich und für die herrschende Bürokratie notwendig machten. Er widerlegt all jene, die das anscheinend Unerklärliche der stalinschen Verbrechen nutzten, um sie als notwendiges Ergebnis der sozialistischen Ideen zu bezeichnen.
Die große Säuberung von 1936 bis 1938 in der Sowjetunion war kein irrationaler, sinnloser und krankhafter Gewaltausbruch. Es handelte sich vielmehr um einen präventiven Bürgerkrieg gegen jene sowjetischen und ausländischen Kommunisten, die potentiell oder tatsächlich eine Alternative zu Stalins totalitärem Regime boten. Dieser Band behandelt einen zentralen Wendepunkt in der Geschichte der Sowjetunion.
In diesem Band beleuchtet Rogowin den dritten Schauprozess gegen die alten Bolschewiki in der Sowjetunion, untersucht dessen innen- und außenpolitische Ziele und geht der Frage nach, ob es überhaupt Schuldige in den Prozessen gab. Anhand von Flugblättern und Briefen beweist er, dass es zur Zeit der Säuberungen Widerstand in unterschiedlich starker Form gab.
Mit dem Hitler-Stalin-Pakt steht einer der wesentlichen Wegbereiter des Zweiten Weltkriegs im Mittelpunkt dieses Buchs. Es widmet sich zugleich einer detaillierten Geschichte der Linken Opposition gegen den Stalinismus und stützt sich dabei auf sowjetisches Archivmaterial sowie die Schriften Leo Trotzkis. Rogowin zeigt, welche Bedeutung der stalinistische Vernichtungsfeldzug in der Zerschlagung der Weltrevolution und den Kriegsvorbereitungen des Nazi-Regimes hatte.
Dieser Band enthält neben dem Vorwort zu seiner Buchreihe »Gab es eine Alternative zum Stalinismus?« drei Vorlesungen zur Geschichte des Widerstands gegen den Stalinismus in der Sowjetunion, die er 1995 und 1996 an Universitäten in den USA, Großbritannien und Australien hielt. Weiter umfasst das Buch eine Besprechung der verleumderischen Trotzki-Biografie von Dimitri Wolkogonow und eine Studie der sozialen und politischen Hintergründe der Perestroika.
In seiner Würdigung von Wadim S. Rogovin erklärt David North, was diesen sowjetischen Historiker zu einem bemerkenswerten „Propheten der historischen Wahrheit“ gemacht hat.
David North zur Bedeutung des Chronologen der linken Opposition gegen den Stalinismus.
Am 10. Mai wäre der russische marxistische Historiker und Soziologe Wadim S. Rogowin 70 Jahre alt geworden.
Am 21. September ist der sozialistische Historiker Wadim Rogowin in Moskau eingeäschert worden.