David North
Das Erbe, das wir verteidigen

Die SWP auf dem Rückzug

Die Fehleinschätzung der SWP über McCarthy 1954 war ein Symptom einer tiefen politischen Krise, die ein Jahr später gefährlichere Formen annahm. Die Reaktion der SWP auf die Mobilisierung der unterdrückten schwarzen Arbeiter und Bauern gegen die Rassengesetze in den Südstaaten war eine Zurückweisung der marxistischen Prinzipien in Bezug auf den Kampf gegen den kapitalistischen Staat. Nach dem Oktober 1955 forderte die SWP wiederholt den Einsatz bundesstaatlicher Truppen, um die Verfassung der Vereinigten Staaten »durchzusetzen« und die schwarze Bevölkerung des Südens zu »schützen«. Diese Aufrufe waren eine qualitative Fortentwicklung der Degeneration der SWP.

Aber Banda übergeht diese kritische Episode, weil sie den inneren Zusammenhang zwischen der politischen Degeneration der SWP – ausgedrückt in ihrer opportunistischen Anpassung an das schwarze Kleinbürgertum und ihrer Kapitulation vor der bürgerlichen Demokratie und dem kapitalistischen Staat – und ihren ersten Bemühungen um eine Wiedervereinigung mit den Pablisten beleuchtet.

Die Forderung nach dem Einsatz von Bundestruppen erhob die SWP, nachdem der vierzehnjährige Emmett Till brutal ermordet worden war und eine weiße Jury seine Mörder freigesprochen hatte. In einer Erklärung der SWP, die am 17. Oktober 1955 auf der ersten Seite von »The Militant« erschien, hieß es: »Die Arbeiterbewegung muss mit all ihrer organisierten Kraft darum kämpfen, die Bundesregierung zu zwingen, in Mississippi tätig zu werden und die verfassungsmäßigen Rechte der dortigen Negerbevölkerung 100 %ig durchzusetzen.«

In derselben Ausgabe erschienen Auszüge einer Rede, die George Breitman am Abend des 7. Oktober auf einer öffentlichen Veranstaltung der SWP in Detroit gehalten hatte. Breitmans Rede war die öffentliche Enthüllung einer neuen Klassenlinie der SWP – eine klare Wegwendung vom Programm des revolutionären Klassenkampfs hin zu einem sozialen Reformprogramm. Er vertrat eine völlig neue Auffassung der Aufgaben und historischen Perspektiven der SWP.

Was also ist zu tun? Wofür sollten wir heute kämpfen? Ich kann es Euch in zwei Worten sagen: Intervention der Bundesregierung, nötigenfalls mit Truppen. Das ist es, was gefordert und verwirklicht werden muss. Die Bundesregierung sollte nach Mississippi gehen und der Terrorherrschaft ein Ende bereiten, die Lynchmörder bestrafen und die Rechte der Negerbevölkerung schützen.

Das ist es, worauf die Negerbevölkerung Mississippis – und auch Michigans – wartet: die Forderung, die Regierung der Vereinigten Staaten dürfe sich nicht länger hinter technischen Rechtsfragen verstecken. Sie darf sich nicht länger vor ihrer Verantwortung drücken und muss ihre ganze Macht einsetzen, um die Bürgerrechte der Negerbevölkerung zu garantieren und zu schützen. Der Staat Mississippi und seine Gerichte haben vor dem Angesicht der ganzen Welt bereits bewiesen, dass es ihnen fern liegt, diese Rechte zu garantieren oder zu schützen. Das ist es, was in dieser Situation getan werden muss – nichts Geringeres wird ausreichen.

Diese Position war weder theoretisch noch politisch zu rechtfertigen. Den Eindruck zu erwecken, die Verteidigung der schwarzen Bevölkerung des Südens könne in irgendeiner Hinsicht der Bourgeoisie des reaktionärsten imperialistischen Landes der Welt anvertraut werden, war ein schändlicher Verrat an der Arbeiterklasse und dem gesamten programmatischen Erbe der Vierten Internationale.

Fünfzehn Jahre zuvor hatte die SWP ihre Weigerung, im Zweiten Weltkrieg die US-Regierung zu unterstützen, damit begründet, dass zwischen der amerikanischen Demokratie und dem deutschen Faschismus kein grundlegender Klassenunterschied bestand und Trotzkisten kein Vertrauen in den amerikanischen Imperialismus setzten, wenn es um einen Krieg gegen die Nazis ging. Sie hatte nichts Progressives in Roosevelts Kampf gegen Hitler gesehen und darauf bestanden, dass die Voraussetzung für einen wirklichen Kampf gegen den deutschen Imperialismus der Sturz des Kapitalismus in den Vereinigten Staaten war.

Als während des Kriegs rassistische Banden in Detroit gegen Schwarze losschlugen, hatte die SWP darüber hinaus jeden Appell an die Roosevelt-Administration nachdrücklich abgelehnt: »Was muss unternommen werden, um dieser Lynchgewalt Einhalt zu gebieten? Fest steht, dass man sich dabei nicht auf die Bundesbehörden, die Armee, die staatliche und lokale Polizei, den guten Willen der kapitalistischen Herrscher, die Maßnahmen des Kongresses oder des Präsidenten verlassen kann. Sie haben bewiesen, dass sie nicht die notwendigen Schritte unternehmen werden, um Leben und Rechte der Neger zu schützen.«[1]

Aber zwölf Jahre später vertrat die SWP eine Politik, die nicht auf eine unabhängige politische Mobilisierung der Arbeiterklasse gegen den kapitalistischen Staat ausgerichtet war, sondern darauf, den kapitalistischen Staat unter Druck zu setzen, damit er einen Teil der Bourgeoisie und ihre schlimmsten Mietlinge zur Ordnung rufe. Die SWP forderte nicht die Bildung von Verteidigungsmilizen der schwarzen Bevölkerung, um gegen die rassistischen Gangster zu kämpfen, die unter dem Schutz der Regierung operierten. Noch rief sie die Arbeiterbewegung im Norden auf, gegen die Rassentrennung in einen Generalstreik zu treten und bewaffnete Kampfeinheiten aufzustellen, um an der Verteidigung der schwarzen Bevölkerung mitzuwirken.

Diese Politik war eine prinzipienlose Anpassung an die kleinbürgerliche Führung der »National Association for the Advancement of Colored People« (»Nationales Bündnis zur Förderung der farbigen Bevölkerung«), die ebenfalls eine Intervention der Bundesregierung forderte. Wenn die SWP überhaupt Differenzen mit der NAACP äußerte, dann nur insofern, als sie die Reformisten geißelte, sie würden ihre Forderung nach einem Handeln der Regierung nicht energisch genug vorbringen und die Notwendigkeit eines Truppeneinsatzes nicht genau genug erklären. In seiner Rede vom 7. Oktober, die in einer späteren Ausgabe von »The Militant« wiedergegeben wurde, erklärte Breitman:

Wir sagen, ein Truppeneinsatz des Bundes wird ebenso notwendig sein wie in der Wiederaufbau-Periode. Die Forderung der NAACP ist vage und ungenau. Der Vorteil unseres Vorschlags liegt darin, dass er klar, einfach und unzweideutig ist und deshalb eine kämpfende Massenbewegung inspirieren kann. Und der Nachteil des NAACP-Vorschlags ist, dass er vage und zweideutig ist, verschieden ausgelegt werden kann und deshalb womöglich keinen wirklichen Einfluss auf das Denken der Millionen Menschen in unserem Land gewinnen kann, die fragen, was sie nach dem Fall Till unternehmen können …

Das Problem mit der NAACP ist ganz klar, dass sie nicht genug fordert. Sie fordert ein Eingreifen der Regierung auf der Grundlage der sogenannten bundesweiten Bürgerrechtsgesetze, die die Regierung praktisch nie anruft oder durchsetzt. Das spielt denjenigen in die Hände, die uns hinhalten wollen. Anstatt ihre Forderung auf diese Bürgerrechtsgesetze zu beschränken, die ohnehin so beschränkt sind, dass man damit einen Angeklagten zu höchstens einem Jahr Gefängnis verurteilen kann, sollte die NAACP sich nicht um diese technischen Gesetzesfragen kümmern und stattdessen zum Kern der Sache kommen: Intervention mit US-Truppen. Diese Forderung wird eine Flut von Enthusiasmus und Militanz im amerikanischen Volk hervorrufen, es anfeuern und ihm ein Ziel geben, für das es sich zu kämpfen lohnt. Sie würde die Lage klarer machen und zuspitzen. Deswegen sagen wir, die Forderung nach bundesstaatlichem Eingreifen sollte verdeutlicht, ausgeweitet und konkretisiert werden.[2]

Die SWP stellte sich nicht vom Standpunkt revolutionärer proletarischer Klassenkämpfer gegen die kleinbürgerlichen Führer der NAACP, sondern vom Standpunkt konsequenterer und radikalerer kleinbürgerlicher Demokraten. Diese Haltung bedeutete eine programmatische Neubestimmung der politischen Aufgaben der SWP. Das Hauptgewicht der Parteiarbeit wurde auf die Verteidigung und Ausweitung demokratischer Rechte im Rahmen des kapitalistischen Staats hingelenkt, anstatt auf den Sturz dieses Staats und die Errichtung einer proletarischen Diktatur. Ausgangspunkt von Breitmans Programm war die kleinbürgerlich-opportunistische Haltung, die bürgerliche Herrschaft als gegeben zu akzeptieren und in diesem Rahmen nach »praktischen« Lösungen für das unmittelbare Problem zu suchen. Prinzipielle Überlegungen, die vom Standpunkt der Entwicklung revolutionären Bewusstseins in der Arbeiterklasse ausgehen, hatten darin keinen Raum. Eine solche Herangehensweise führt zwangsläufig dazu, dass die strategische revolutionäre Linie aufgegeben wird.

Die häufige Anrufung der Wiederaufbau-Periode – der radikalsten Phase der amerikanischen bürgerlich-demokratischen Revolution Mitte des neunzehnten Jahrhunderts – war ein Anzeichen dafür, in welch gewaltigem Ausmaß sich die gesamte Perspektive der SWP änderte. Desorientiert durch das reaktionäre politische Klima in den USA, begann die SWP mit dem Gedanken zu liebäugeln, der Bürgerkrieg und die Wiederaufbau-Periode hätten die bürgerlich-demokratische Revolution in den Vereinigten Staaten nicht vollendet. Diese Anschauung gestand dem bürgerlichen Staat einen Rest Progressivität zu. Sie war geeignet, Bündnisse mit Teilen der Bourgeoisie zu begründen und rechtfertigte politische Unterstützung für den kapitalistischen Staat, wenn er die Vollendung angeblich ungelöster demokratischer Aufgaben in Angriff nahm.

Die SWP-Führung rechtfertigte ihren Ruf nach dem Einsatz bundesstaatlicher Truppen mit dem Argument, diese Forderung würde die Regierung »entlarven«, denn sie werde sich weigern, ihren eigenen Gesetzen Geltung zu verschaffen. Darüber hinaus, so argumentierten die SWP-Führer, würde diese Forderung mit Leichtigkeit die Demokratische Partei entlarven: Wahlkandidaten wie zum Beispiel Adlai Stevenson würden diese Forderung nicht zu unterstützen wagen, weil sie um ihre Anhängerschaft im Süden fürchteten.

Die Parole für den Einsatz von Bundestruppen entzündete interne Auseinandersetzungen in der SWP. Neben anderen wandte sich Sam Marcy, damals Führer der Ortsgruppe in Buffalo, richtigerweise gegen diese Parole. Marcy wandte sich gegen Breitmans Rede und die Theorie, die Forderung nach Bundestruppen werde die Regierung »entlarven«. In einem Brief an das Zentralkomitee schrieb er am 21. Januar 1956:

Im Marxismus bedeutet das Wort »entlarven«, den Klassencharakter einer gegebenen Erscheinung zu zeigen oder nachzuweisen. Die Entsendung bundesstaatlicher (kapitalistischer) Truppen nach Mississippi entlarvt nicht, sondern verschleiert in Wirklichkeit den Klassencharakter des Terrorapparats der Bourgeoisie, ihrer kapitalistischen Armee. Anstatt ihren Klassencharakter zu erhellen, verdunkelt sie die wirkliche Rolle und Bedeutung der Stellung der Kapitalistenklasse gegen die Arbeiterklasse und die unterdrückten Minderheiten. Die Parole erstickt die schöpferische Initiative der Massen zum unabhängigen Kampf und stärkt ihr Vertrauen auf den kapitalistischen Staat.[3]

In einer weiteren treffenden Kritik an der Linie der SWP schrieb Marcy:

Die Parole Bundestruppen nach Mississippi soll angeblich aus den Tiefen der Negerbevölkerung emporgestiegen sein. In Wirklichkeit sind das Ideen der bürgerlichen und kleinbürgerlichen schwarzen Reformisten, die sich an die Wall-Street-Regierung anstatt an die Negermassen und die Arbeiterbewegung wenden, um Unterstützung gegen den Terror der weißen Herrscher zu gewinnen. Der Klassencharakter der kapitalistischen Angriffe gegen die Negerbevölkerung wird von diesen Führern entweder übersehen oder vertuscht. Stattdessen schüren sie die Illusion, die kapitalistische Regierung in Washington stehe über den Klassen. Es erscheint ihnen vom Standpunkt ihrer Ideologie aus logisch, die Regierung zur Entsendung von Truppen aufzufordern, um die Rechte der Negerbevölkerung zu schützen.[4]

Außerdem warnte Marcy: »Die US-Regierung der Regierung von Mississippi gegenüberzustellen – einen Unterschied zu machen zwischen der Bundesarmee und ihren diversen Anhängseln in den Staaten –, heißt ihren identischen Klassencharakter verwischen.«[5]

Später kapitulierte Marcy als einer der vielen Führer, die durch die Krise in der Socialist Workers Party desorientiert worden waren, vor dem Stalinismus und brach völlig mit dem Trotzkismus. Seine Unfähigkeit, mit den zentralen Problemen der sozialistischen Weltrevolution zurechtzukommen, die sich in seiner Position zur ungarischen Revolution zeigte, machte es Marcy unmöglich, einen konsequenten und prinzipiellen Kampf gegen den wachsenden Opportunismus der SWP zu führen. Sein Versuch, ohne den Kampf für die Vierte Internationale eine revolutionäre proletarische Orientierung beizubehalten, endete mit einem Fiasko, wie die heutige ­politische Rolle der Marcy-Gefolgschaft als halboffizielle Berater der Gewerkschaftsbürokratie beweist. Trotzdem war Marcys Kritik an der SWP in der Frage der Bundestruppen 1956 richtig. Die Debatte, die sie am 9. Februar 1956 im Politischen Komitee der SWP auslöste, entlarvte den üblen politischen und theoretischen Niedergang der zentralen Führung.

Morris Steins Argumente liefen auf eine vulgäre Rechtfertigung für Klassenkollaboration hinaus. Wie ein unerschrockener Pragmatiker argumentierte er:

Wir diskutieren hier nicht nur, ob es für uns statthaft ist, den Einsatz von Bundestruppen zur Durchsetzung der Bill of Rights im Süden zu fordern, wir diskutieren eine Parole, die von anderen bereits im großen Maßstab verbreitet wird, und wir müssen wissen, wie wir uns dazu stellen. Die Negerbevölkerung hat sich diese Parole zu eigen gemacht. Die Negerpresse tritt dafür ein und die Negerführer haben diese Parole im Wahlkampf zum Prüfstein für Politiker gemacht. Was die Gleichberechtigung der Neger angeht, so wurde Stevenson mit dieser Parole kaltgestellt. Die Parole der Bundestruppen ist bereits Wahlkampfthema, und ich wage zu behaupten, dass nicht nur die kapitalistischen Politiker, sondern auch unsere eigenen Kandidaten damit konfrontiert sein werden. Im Laufe des Wahlkampfs wird zwangsläufig irgendjemand fragen: »Wie steht Ihr zu der Frage, ob Bundestruppen nach Mississippi entsandt werden sollten, um das Leben der Neger zu schützen?[6]

Einem Marxisten hätte diese Frage keinerlei Probleme bereitet. Zunächst hätte er darauf aufmerksam gemacht, dass schon in der Fragestellung ein großer Fehler lag: Es wurde vorausgesetzt, dass Bundestruppen, würden sie in den Süden entsandt, tatsächlich »das Leben der Neger« schützen würden. Während des gesamten Zweiten Weltkriegs hatte die SWP die Frage »Wie steht Ihr zum Kampf gegen Hitler und zum Sieg über den Faschismus?« stets mit der Entlarvung der reaktionären Lüge beantwortet, amerikanische Truppen würden nach Europa und Asien geschickt, um die Demokratie zu verteidigen. Aber 1955 war die SWP nicht mehr bereit, gegen die Illusionen der Massen über die Rolle der Bundesregierung zu kämpfen und den reaktionären Wesenskern der bürgerlichen Demokratie in den Vereinigten Staaten zu entlarven. Der Verlust ihrer revolutionären Perspektive zeigte sich in ihrer Ausdrucksweise. Sie erwähnte die »Negerbevölkerung«, die »Negerpresse« und die »Negerführer«, ohne den wirklichen Klasseninhalt dieser unmarxistischen Abstraktionen zu definieren.

Die SWP revidierte jetzt ihre Auffassungen über den Charakter der bürgerlichen Demokratie. Um ihren Appell an den kapitalistischen Staat zu rechtfertigen, entwickelte die SWP die Theorie, im Norden und Süden herrschten zwei grundsätzlich unterschiedliche Formen bürgerlicher Herrschaft:

In der Frage der bürgerlichen Herrschaftsmethoden waren Marxisten niemals neutral. Seit den Tagen von Marx haben Marxisten auf Seiten der fortschrittlicheren Ausbeutungs- und Unterdrückungsmethoden gegen reaktionärere und brutalere Stellung bezogen. Wir hatten diese Auseinandersetzung bereits im Zusammenhang mit dem spanischen Bürgerkrieg. Wir hatten Genossen, die die Regierungstreuen im Kampf gegen Franco nicht unterstützen wollten, weil sie »grundlegend« nicht anders waren. Grundlegend waren es alles Kapitalisten. Grundlegend war es die Eröffnung des Zweiten Weltkriegs, und was hatten sich reine Revolutionäre da hineinzuhängen? Dagegen sprachen wir uns in aller Schärfe aus und würden es heute wieder tun, denn wir haben ein Interesse daran, die bürgerliche Demokratie gegen alle totalitären Methoden zu verteidigen. Und das ist im Wesentlichen die Situation im Süden, was die Neger betrifft. Sie stehen unter totalitärer Herrschaft.[7] (Hervorhebung hinzugefügt)

Diese Analogie war nicht nur an den Haaren herbeigezogen und völlig unzutreffend. Stein gebrauchte sie, um dem Marxismus feindliche Auffassungen vorzubringen und die wirklichen bisherigen Positionen der Vierten Internationale zu verdrehen. Die Rassengesetzgebung im Süden konnte unmöglich Ausdruck wirklich antagonistischer Spaltungen in der amerikanischen Bourgeoisie sein, die es zugelassen hätten, die Bundesregierung als politische Vertreterin eines fortschrittlicheren Teiles der herrschenden Klasse zu bezeichnen. Eine solche Linie konnte zu nichts anderem als der Rechtfertigung von Klassenzusammenarbeit dienen. Außerdem »vergaß« Stein bei seinem Vergleich mit Spanien eine Kleinigkeit: Wenn die Trotzkisten während des Bürgerkriegs die bürgerliche Demokratie gegen den Faschismus »verteidigten«, dann auf der Grundlage eines unnachgiebigen Kampfs für den Sturz des kapitalistischen Staats. Sie lehnten die verlogenen Behauptungen, zwischen dem liberalen Politiker Azaña und dem Faschisten Franco gebe es grundlegende Unterschiede, ab und betonten beharrlich, dass ein Sieg über Franco nur möglich wäre, wenn Azaña und die Volksfront niedergeschlagen würden. Niemals ließen die Trotzkisten den Gedanken zu, das von den Sozialdemokraten, Stalinisten und Anarchisten unterstützte Azaña-Regime könne auch nur eine einzige progressive Aufgabe erfüllen. Als sich Shachtman 1937 darüber überrascht zeigte, dass Trotzki gegen eine Stimmabgabe zugunsten des Militärhaushalts der Volksfrontregierung auftrat, räumte Trotzki ein, Shachtmans Kritik habe ihn »erstaunt«, und bezeichnete seine Position als kleinbürgerlichen Opportunismus.

Die Grundlage für Steins Position bildete die durch nichts zu rechtfertigende Behauptung, die Rassengesetze im Süden seien Ausdruck historisch nicht überwundener Spaltungen innerhalb der Bourgeoisie, deren Ursache in der Nichtvollendung der demokratischen Revolution liege.

Es besteht ein Unterschied in den Unterdrückungsmethoden. Dieser Unterschied macht der amerikanischen kapitalistischen Gesellschaft schon lange zu schaffen. Er ist einer der Widersprüche des amerikanischen Lebens, die zu sehr scharfen Konflikten geführt haben. Er ist ein schreiender Widerspruch, der den amerikanischen Imperialismus auf der ganzen Welt verfolgt. Im fortgeschrittensten kapitalistischen Land findet sich ein Überbleibsel eines unbewältigten bürgerlich-demokratischen Problems – das Jim-Crow-System. Und sie konnten es bisher nicht lösen.[8]

Diese Interpretation war eine grundlegende Revision der früheren Auffassungen der SWP über die historische Beziehung zwischen der Rassengesetzgebung und der Entwicklung des Industrie- und Finanzkapitalismus in den USA nach dem Bürgerkrieg. Zuvor hatte die SWP ständig die organischen politischen und wirtschaftlichen Zusammenhänge zwischen den Industriellen und den Finanzmagnaten im Norden und der ungeheuerlichen Institutionalisierung des Rassismus im Süden hervorgehoben. Sie hatte darauf beharrt, dass die Unterdrückung der schwarzen Bevölkerung im Süden ein wesentlicher Bestandteil der bürgerlichen Herrschaft in den Vereinigten Staaten war.

Unter dem Einfluss Trotzkis unternahm die SWP ausgehend von der Entwicklung der Strategie der sozialistischen Revolution ein ernsthaftes Studium der Probleme der schwarzen Bevölkerung. Zu den wichtigsten Ergebnissen dieser Arbeit zählt »Die Befreiung der Neger durch revolutionären Sozialismus« (»Negro Liberation Through Revolutionary Socialism«), eine Resolution, die die SWP ursprünglich auf ihrer Nationalen Konferenz 1948 annahm und in überarbeiteter Form im Februar 1950 veröffentlichte. In dieser Resolution wurde erklärt: »Neben der Emanzipation der Arbeiterklasse vom Kapitalismus ist die Befreiung der Negerbevölkerung von ihrer Erniedrigung das überragende Problem der amerikanischen Gesellschaft. Diese beiden sozialen Probleme hängen untrennbar zusammen. Der einzige Weg, der die Arbeiter zur Freiheit und die Neger zur Gleichberechtigung führt, ist ihr gemeinsamer Kampf für die Abschaffung des Kapitalismus.«[9]

Die Resolution hob hervor, dass es »nicht das geringste Zugeständnis an all die Auffassungen geben darf, die dem Kapitalismus nicht die volle, gezielte und bewusste Verantwortung für die jetzige Lage der Neger zuschreiben, sowie für die Verbreitung rassistischer Vorurteile überall in den Vereinigten Staaten und für die Förderung rassistischer Hetze und Verfolgung auf der ganzen Welt durch das Beispiel der amerikanischen ›Demokratie‹«.[10]

Sorgfältig wies die SWP die historische Entstehung des untrennbaren Zusammenhangs zwischen der Rassengesetzgebung und der kapitalistischen Herrschaft nach:

Vor und nach dem Bürgerkrieg haben sie [die Bourbonen des Südens] systematisch Rassendiskriminierung, Rassentrennung, Überausbeutung und Vorurteile in diesem Land propagiert, um ihre privilegierte Stellung zu erhalten. Geholfen haben ihnen dabei die Industriekapitalisten des Nordens. Nachdem das nördliche Industriekapital seine ­politische Vormachtstellung über die besiegten Sklavenbesitzer errichtet hatte, ging es 1876 erneut ein Bündnis mit den Besitzenden des Südens ein, um die weiße Vorherrschaft aufrechtzuerhalten. Seitdem hat das Kapital des Nordens seine finanzielle Kontrolle beständig ausgeweitet, und heute hat es den Süden vollständig im Griff. Daher erfordern heute die Interessen des Kapitalismus selbst die Aufrechterhaltung und Fortdauer des südlichen Systems …

Der Standpunkt, die bürgerliche Demokratie könne den Süden zugunsten der Neger erneuern oder reformieren, verschleiert und unterstützt die heutigen Befürworter und Nutznießer der Negerverfolgung. Nur die proletarische Revolution kann die Neger befreien, mit der sozialen Kloake des Südens aufräumen und seine Wirtschaft reorganisieren.[11]

Um dieser revolutionären Wahrheit Nachdruck zu verleihen, wies die Resolution der SWP auf die abscheulichen sozialen Bedingungen hin, unter denen die Schwarzen im Norden leben mussten.

Der Kapitalismus verurteilt die meisten Arbeiter zu einem Leben in Slums und Elendsvierteln. Schon dies ist eine Form der Abtrennung, obwohl versucht wird, dies durch demokratische Propagandamärchen zu verschleiern. Diese Absonderung des Proletariats als Ganzem nimmt im Falle der Neger besonders scharfe Formen an.

Das System der Plantagensklaverei diktierte eine strenge soziale Abtrennung der Sklaven. Getrieben durch die Bedürfnisse des südlichen Systems und seine eigenen Bedürfnisse bezog der Kapitalismus die Neger zwar in die nördliche Industrie ein, hielt aber die Rassentrennung aufrecht und weitete sie aus. Überall sind die Neger in Ghettos gepfercht worden.[12]

Die Resolution der SWP definierte den »besonderen Beitrag des Kampfs der Neger zu der proletarischen Bewegung in den Vereinigten Staaten« folgendermaßen:

Unter der Parole der Rechte für Neger reagiert die Negerbewegung sehr leicht und empfindlich auf soziale Spannungen. Sie spornt die Kämpfe für demokratische Grundrechte an. Sie entlarvt den Klassencharakter des kapitalistischen Staats. Sie hilft, die Arbeiterklasse in der Erkenntnis der reaktionären Rolle der bürgerlichen Demokratie und der Notwendigkeit eines erbarmungslosen Kampfs gegen sie zu erziehen, und sie treibt die wichtigsten politischen Kräfte des Landes und die organisierte Arbeiterklasse zur Aktion.[13]

Zwischen 1955 und 1957 fanden sich in der Position der SWP zum Kampf der Schwarzen für Bürgerrechte weder die historische Analyse noch die programmatischen Standpunkte der Resolutionen von 1948–1950. Der reaktionäre Inhalt der Forderung nach Einsatz von Bundestruppen wurde anlässlich der Little-Rock-Krise sichtbar. Eisenhower entsprach der SWP und schickte Truppen nach Arkansas. Während der folgenden zehn Jahre bewies der kapitalistische Staat immer wieder mit brutaler Deutlichkeit seine Rolle bei der Unterdrückung des Kampfs der Schwarzen. Von FBI-organisierten Ermordungen schwarzer Führer und Bürgerrechtler bis zum Eintreffen der 82. Luftlandetruppe in Detroit wirkte der kapitalistische Staat als der zentrale Koordinator aller Verschwörungen gegen die demokratischen Rechte der schwarzen Massen in den Vereinigten Staaten.

Marxistisch betrachtet müsste die SWP die Verantwortung übernehmen für die Verbrechen der Bundestruppen an der schwarzen Bevölkerung im Norden, denn sie hatte Illusionen über den »progressiven« Charakter des kapitalistischen Staats geschürt.

Zu den eifrigsten Verfechtern des Rufs nach dem Einsatz von Bundestruppen im Süden zählte Hansen, der die Argumente eines vulgären kleinbürgerlichen Demokraten vorbrachte. Die Forderung, Bürgerrechte mittels Bundestruppen durchzusetzen, definierte er als »bürgerlich-revolutionäre« Parole und argumentierte, solche Parolen »können wir im jetzigen Stadium nur deswegen aufstellen, weil die Bourgeoisie in ihr Verfallsstadium eingetreten ist und sie nicht länger aufrechterhalten kann. Sie verschleudert ihre Errungenschaften und wirft sie fort. Sie fällt in Wirklichkeit hinter die Position zurück, die sie zu Beginn ihres Kampfs gegen den Feudalismus vertrat. Deswegen fällt es uns zu, diese bürgerlichen Parolen zu verteidigen und aufzustellen.«[14]

Hansen hatte mitbekommen, dass die Bourgeoisie in der imperialistischen Epoche die demokratischen Ideale ihrer Vergangenheit aufgibt, und verdrehte diese Binsenwahrheit zu dem Argument, eine marxistische Partei müsse nun zum glühendsten Verfechter der bürgerlichen Demokratie werden – und dabei auch nicht vor einer landesweiten Kampagne haltmachen, um zu fordern, dass der kapitalistische Staat die Verfassung schützt.

Inhaltlich geht es vor allem darum, elementares bürgerliches Recht durchzusetzen und Menschenleben in Mississippi zu schützen. Von diesem Gesichtspunkt her ist die Parole völlig gerechtfertigt. Dann stellt man fest – der Inhalt der Parole entspricht den Gefühlen breiter Schichten der Negerbevölkerung, wonach man der Regierung von Mississippi nicht trauen kann. Das ist eine sehr progressive Entwicklung. Man kann der Regierung von Mississippi nicht den Schutz menschlichen Lebens anvertrauen. Das ist ganz und gar revolutionär, und ich sehe nicht den geringsten Grund, warum wir eine politische Position einnehmen sollten, in der wir dieses Gefühl nicht zu bestärken versuchen und uns, wenn möglich, an die Spitze stellen.[15]

Hansens alberne Darstellung, als hätten die Schwarzen in Mississippi nach 80 Jahren Ku-Klux-Klan-Herrschaft eben erst begonnen zu begreifen, dass man »der Regierung von Mississippi nicht den Schutz menschlichen Lebens anvertrauen« kann, diente zur Verteidigung einer Anpassung an deren Illusionen über die Bundesregierung:

Natürlich hat die Negerbevölkerung Illusionen über die Bundesregierung. Sie trauen der Regierung von Mississippi nicht und wollen dort eine neue Regierung, denken aber immer noch, dies könne die Bundesregierung sein. Wir stehen vor der Frage, ob wir mit ihnen durch diese Erfahrung gehen oder uns darauf beschränken sollen, aus der Ferne gute Ratschläge zu erteilen. Unsere gesamte revolutionäre Erfahrung sagt uns, dass wir mit ihnen gehen sollten.[16]

Hansens Formulierungen waren Argumente zur Verteidigung der übelsten Formen von politischem Opportunismus. Hätte die SWP Hilferufe an die Bundesregierung abgelehnt, die Schwarzen im Süden vor Vertrauen in die imperialistischen Tyrannen in Washington und ihre militärischen Statthalter gewarnt, zur Bildung schwarzer Verteidigungsmilizen und der landesweiten Mobilisierung der Gewerkschaftsbewegung aufgerufen, um dem rassistischen Terror im Süden ein Ende zu machen, dann hätte sie laut Hansen »aus der Ferne gute Ratschläge« erteilt. Folgt man Hansens Methode, dann wäre es zulässig gewesen, wenn die SWP im Zweiten Weltkrieg den US-Imperialismus mit der Begründung unterstützt hätte, dass die amerikanische Arbeiterklasse immer noch glaubte, sie könne mit Roosevelt gegen Hitler und für eine neue Regierung in Deutschland kämpfen.

In derselben Ausgabe der »Fourth International«, in der die oben zitierte Resolution der SWP von 1948 veröffentlicht wurde, erschien auch ein Artikel über die Lehren der Rekonstruktionsperiode von George Novack. Er schrieb:

In dem heutigen Kampf um die Bürgerrechte hätten viele Enttäuschungen vermieden werden können, wenn man folgende Lehre aus der Rekonstruktion gelernt und verstanden hätte: Wenn die Kapitalisten des Nordens schon in ihren fortschrittlichen Tagen Mitte des 19. Jahrhunderts die wirkliche Gleichheit und dauernde Freiheit der Neger fürchteten und nicht zugestehen wollten, wie kann man dann von den imperialistischen Autokraten in Washington erwarten, dies Mitte des 20. Jahrhunderts zu tun, wo das Big Business nicht nur die Südstaaten tyrannisiert, sondern auch der erste Feind der Freiheit des gesamten Volks im eigenen Land und auf der ganzen Welt geworden ist?[17]

Innerhalb von nur fünf Jahren hatte das Nachgeben der SWP vor dem Druck der politischen Reaktion in den Vereinigten Staaten dazu geführt, dass ihre Führer vergaßen, was sie selbst geschrieben hatten. Die Haltung, die die SWP 1955 einnahm, war nicht einfach ein episodischer Fehler. In einer grundlegenden Frage, die von zentraler Bedeutung für die ganze Perspektive der sozialistischen Revolution in ihrem eigenen Land war, gab die SWP ihr bisheriges marxistisches Programm auf und schlug einen opportunistischen Kurs ein. Das bedeutete eine Verschiebung ihrer Klassenorientierung weg vom Proletariat und hin zum Kleinbürgertum.


[1]

The Militant, 3. Juli 1943.

[2]

The Militant, 19. Dezember 1955.

[3]

Diskussionsbulletin der SWP, Jg. 18, Nr. 12, Oktober 1957, S. 4.

[4]

Ebd., S. 10.

[5]

Ebd.

[6]

Ebd., S. 16.

[7]

Ebd., S. 17.

[8]

Ebd., S. 17–18.

[9]

SWP-Resolution, »Negro Liberation Through Revolutionary Socialism«, in: Fourth International, Jg. 11, Nr. 3, Mai–Juni 1950, S. 90.

[10]

Ebd., S. 91.

[11]

Ebd., S. 91–92.

[12]

Ebd., S. 92.

[13]

Ebd., S. 94.

[14]

Diskussionsbulletin der SWP, Oktober 1957, S. 21.

[15]

Ebd., S. 22.

[16]

Ebd.

[17]

SWP-Resolution, in: Fourth International, Mai–Juni 1950, S. 90.