Veröffentlicht am 19. April 2010 auf der »World Socialist Web Site«.
»Witnesses to Permanent Revolution: The Documentary Record«, herausgegeben und übersetzt von Richard B. Day und Daniel Gaido, Leiden 2009
Der neu erschienene Band »Zeugen der permanenten Revolution: eine Dokumentation« ist ein wichtiger Beitrag zur Erforschung der theoretischen Grundlagen der Oktoberrevolution von 1917. Die Dokumente, die hier auf 677 Seiten zusammengestellt wurden, bieten eine umfassende Übersicht über die Kontroversen und Polemiken, aus denen die Theorie der permanenten Revolution hervorging. Die Historiker Richard B. Day und Daniel Gaido haben jedem, der die Entwicklung der marxistischen Theorie und der revolutionären Strategie im 20. Jahrhundert verstehen will, ein unentbehrliches Werkzeug an die Hand gegeben.
Richard Day, der seit vielen Jahren an der Universität Toronto in Mississauga lehrt, ist eine anerkannte Autorität auf dem Gebiet der sowjetischen Geschichte, Wirtschaft und Politik. Sein bekanntestes Werk, »Leo Trotzki und die Politik der wirtschaftlichen Isolation«[1] von 1973, ist bis heute eine maßgebliche Darstellung der theoretischen Auseinandersetzungen über die Wirtschaftspolitik der Sowjetunion in den 1920er Jahren. Durch seine Arbeit über das Leben und die Ideen von E.A. Preobraschenski, in deren Verlauf er auch dessen Werk über den Niedergang des Kapitalismus ins Englische übersetzte,[2] bewahrte Day diese bedeutende Persönlichkeit der trotzkistischen Linken Opposition vor dem historischen Vergessen. Preobraschenski wurde 1937 von Stalin ermordet. Professor Day hat wissenschaftliche Aufsätze über eine Vielzahl von Themen verfasst, darunter auch über marxistische Philosophie. Zurzeit arbeitet er an der Herausgabe eines neuen Bandes bisher unbekannter Schriften Preobraschenskis.
Daniel Gaido, gebürtiger Argentinier, lebte und forschte mehr als zehn Jahre lang in Israel. Er engagierte sich aktiv für die demokratischen Rechte der Palästinenser. Vor Kurzem kehrte er nach Argentinien zurück. Zu seinen Veröffentlichungen zählt unter anderem das Buch »Die Entstehungszeit des amerikanischen Kapitalismus: Eine materialistische Erklärung«[3] von 2006. Wie der hier besprochene Band zeigt, beschränkt sich das wissenschaftliche Interesse Gaidos nicht auf die amerikanische Geschichte. Er hat auch ausführlich über die deutsche sozialistische Bewegung geschrieben und bereitet zurzeit eine Geschichte der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands während der Periode der Zweiten Internationale vor.
Das Hauptanliegen von »Zeugen der permanenten Revolution« ist die Rekonstruktion der eindrucksvollen intellektuellen Bandbreite der Diskussion, aus der die Theorie der permanenten Revolution hervorging. Day und Gaido stellen die entscheidende Rolle, die Trotzki bei ihrer Ausarbeitung und vor allem bei ihrer strategischen und praktischen Anwendung in den Kämpfen der russischen Arbeiterklasse spielte, nicht in Frage, doch darüber hinaus bringen sie dem Leser die Beiträge anderer wichtiger sozialistischer Theoretiker nahe: Franz Mehring, Rosa Luxemburg, Alexander Helphand (Parvus), Karl Kautsky und der weniger bekannte David Rjasanow. Gegen eine derart eingehende Darstellung der Ursprünge der Theorie, die schließlich eng mit seiner Rolle und Persönlichkeit identifiziert werden sollte, hätte Trotzki nichts einzuwenden gehabt.
Im Jahr 1923 wuchsen sich die fraktionellen Angriffe, mit denen die Troika des Politbüros – Sinowjew, Kamenew und Stalin – gegen Trotzki vorging, rasch zu einer Kampagne gegen die Theorie der permanenten Revolution aus. Alle angeblichen persönlichen Fehler und politischen Irrtümer Trotzkis, seine sogenannte »Unterschätzung der Bauernschaft« und sein unverbesserlicher »Antibolschewismus« hätten, wurde immer wieder behauptet, ihre Wurzel in dieser verderblichen Lehre. Von April bis Oktober 1917 hatte die Theorie der permanenten Revolution als strategische Grundlage des Kampfs gedient, den die bolschewistische Partei gegen die bürgerliche Provisorische Regierung und ihre menschewistischen Verbündeten führte. Nur sechs Jahre später wurde sie als ketzerische Abweichung von marxistischen Grundsätzen verleumdet. Trotzki, der darin nicht nur eine Verzerrung seiner eigenen Ideen, sondern auch eine Fälschung der Geschichte der sozialistischen Theorie sah, schrieb offensichtlich erbittert:
Permanente Revolution ist ein von Marx im Hinblick auf die Revolution von 1848 verwandter Begriff. In der marxistischen Literatur, natürlich nicht in der revisionistischen, sondern in der revolutionären, besaß dieser Terminus stets Bürgerrecht. Franz Mehring gebrauchte den Ausdruck »Permanente Revolution« für die Revolution von 1905–1907. Permanente Revolution bedeutet in genauer Übersetzung ständige oder ununterbrochene Revolution.[4]
Marx, Engels und die »permanente Revolution«
Day und Gaido belegen, dass Trotzki zu Recht auf der marxistischen Herkunft der Theorie der permanenten Revolution beharrte. Bereits 1843 hatte Marx in seinem Aufsatz »Zur Judenfrage« geschrieben, dass der Staat die Abschaffung der Religion nur erreichen könne »durch gewaltsamen Widerspruch gegen seine eigenen Lebensbedingungen, nur indem er die Revolution für permanent erklärt«.[5] In ihrer »Ansprache der Zentralbehörde an den Bund vom März 1850« schrieben Marx und Engels dann, gerichtet gegen das demokratische Kleinbürgertum,
dass es unser Interesse und unsere Aufgabe [ist], die Revolution permanent zu machen, so lange, bis alle mehr oder weniger besitzenden Klassen von der Herrschaft verdrängt sind, die Staatsgewalt vom Proletariat erobert und die Assoziation der Proletarier nicht nur in einem Lande, sondern in allen herrschenden Ländern der ganzen Welt so weit vorgeschritten ist, dass die Konkurrenz der Proletarier in diesen Ländern aufgehört hat und dass wenigstens die entscheidenden produktiven Kräfte in den Händen der Proletarier konzentriert sind. Es kann sich für uns nicht um Veränderung des Privateigentums handeln, sondern nur um seine Vernichtung, nicht um Vertuschung der Klassengegensätze, sondern um Aufhebung der Klassen, nicht um Verbesserung der bestehenden Gesellschaft, sondern um Gründung einer neuen.[6]
Das Konzept der Revolution in Permanenz leitete sich aus der Erfahrung der Klassenkämpfe ab, die 1848 ganz Europa erfassten. Ungefähr ein halbes Jahrhundert war vergangen, seit die Jakobiner, die den radikalsten Flügel des demokratischen Kleinbürgertums bildeten, mithilfe des revolutionären Terrors das feudale Ancien Régime erschüttert und die Grundlage für die Errichtung eines bürgerlichen Staates in Frankreich gelegt hatten. Seither war die soziale Struktur Europas viel komplexer geworden. Der Charakter und die politischen Auswirkungen des anhaltenden politischen Konflikts zwischen den bürgerlichen und den alten aristokratischen Eliten hatten sich durch das Hervortreten einer neuen gesellschaftlichen Kraft verändert: des Proletariats, einer Klasse ohne Eigentum. Innerhalb der Bourgeoisie wuchs die Furcht, ein Volksaufstand gegen die alte Aristokratie unter Einbeziehung der neuen proletarischen Massen könnte Ausmaße annehmen, die nicht nur die verbliebenen feudalen Privilegien, sondern auch das kapitalistische Eigentum bedrohen.
Daher versuchte die Bourgeoisie 1848 und unmittelbar danach, den revolutionären Kampf auf Kosten der Arbeiterklasse zu drosseln. In Frankreich, dem alten Zentrum der Revolution und dem politisch weitest entwickelten europäischen Staat, äußerten sich die neuen Klassenbeziehungen in dem grausamen Massaker, das das Militär unter dem Kommando von General Cavaignac im Juni 1848 am Pariser Proletariat verübte. Außerhalb Frankreichs war die Bourgeoisie bereit, einen Kompromiss mit der alten Aristokratie zu schließen, selbst um den Preis des Verzichts auf die Forderung nach einer demokratischen Republik und der Hinnahme der weiteren Vormachtstellung der Aristokratie im Staat. Das war in der deutschen Revolution der Fall, wo die Bourgeoisie aus Furcht vor Volksaufständen und dem »Gespenst des Kommunismus« vor der preußischen Aristokratie kapitulierte.
Die Vertreter des »linken« Kleinbürgertums erleichterten den Verrat der Bourgeoisie an ihrer »eigenen« bürgerlichen Revolution. Sie erwiesen sich an jedem entscheidenden Wendepunkt als völlig unzuverlässiger Bündnispartner der Arbeiterklasse. Wie Marx und Engels in der »Ansprache der Zentralbehörde« erklärten:
Die demokratischen Kleinbürger, weit entfernt, für die revolutionären Proletarier die ganze Gesellschaft umwälzen zu wollen, erstreben eine Änderung der gesellschaftlichen Zustände, wodurch ihnen die bestehende Gesellschaft möglichst erträglich und bequem gemacht wird …[7]
Die Arbeiterklasse, folgerten Marx und Engels, dürfe nicht zulassen, dass ihre Kämpfe und Interessen beschränkt und verraten werden. Die Arbeiter müssten vielmehr
das meiste zu ihrem endlichen Siege dadurch tun, dass sie sich über ihre Klasseninteressen aufklären, ihre selbständige Parteistellung sobald wie möglich einnehmen, sich durch die heuchlerischen Phrasen der demokratischen Kleinbürger keinen Augenblick an der unabhängigen Organisation der Partei des Proletariats irremachen lassen. Ihr Schlachtruf muss sein: Die Revolution in Permanenz.[8]
Fünfzig Jahre später, an der Wende zum 20. Jahrhundert, wurden die politische Bedeutung und die Implikationen dieses Schlachtrufs Gegenstand einer intensiven Debatte innerhalb der rasch wachsenden russischen sozialistischen Bewegung. Es stand außer Frage, dass das Land unaufhaltsam auf eine demokratische Revolution zusteuerte, die das 300 Jahre alte autokratische Regime hinwegfegen würde. Aber die Einschätzungen über die Klassendynamik, die politischen Ziele und schließlich auch die sozioökonomischen Folgen der revolutionären Bewegung gingen jenseits dieser gemeinsamen Grundüberzeugung immer weiter auseinander. Würde die russische Revolution dem »klassischen« Muster der Französischen Revolution von 1789–1794 folgen, in deren Verlauf der Sturz der Feudalherrschaft schließlich zur politischen Herrschaft des Bürgertums auf der Grundlage kapitalistischer Wirtschaftsverhältnisse führte? Oder würde die demokratische Revolution in Russland, die sich mehr als ein Jahrhundert später und unter erheblich veränderten sozioökonomischen Bedingungen abspielte, notwendigerweise eine grundlegend andere Form annehmen? Gab es in Russland um 1900 eine revolutionäre Bourgeoisie wie im Frankreich von 1790? War die russische Bourgeoisie wirklich bereit, einen revolutionären Kampf gegen die Autokratie zu führen oder auch nur zu unterstützen?
Und vor allem: Wie würde sich der Umstand auf den Verlauf der demokratischen Revolution auswirken, dass die Industriearbeiterklasse an der Schwelle zum 20. Jahrhundert die aktivste und dynamischste gesellschaftliche Kraft in Russland war? Bereits die Streiks der 1890er Jahre hatten die Macht der Arbeiterklasse gezeigt, und mit der groß angelegten Industrialisierung durch hereinströmendes Kapital wuchsen ihre Reihen schnell an. Welche Rolle würde das Industrieproletariat in der demokratischen Revolution spielen? Es konnte kein Zweifel daran bestehen, dass seine Stärke entscheidend zum Sturz der Autokratie beitragen würde. Aber würde die Arbeiterklasse dann hinnehmen, dass die Macht an ihren Klassenfeind, die russische Bourgeoisie, überging? Oder würden die Arbeiter die Grenzen der »klassischen« demokratischen Revolution überschreiten, selbst nach der Macht greifen und unter Verletzung der Unantastbarkeit des kapitalistischen Eigentums einen weitreichenden ökonomischen Umbau der Gesellschaft in Angriff nehmen?
Diese Fragen hatten zur Folge, dass Marx’ und Engels’ Theorie der permanenten Revolution wieder aufgegriffen und weiterentwickelt wurde. Die in diesem Band zusammengestellten Dokumente belegen, wie gründlich sie von 1903 bis 1907 in der russischen und in der deutschen sozialistischen Bewegung diskutiert wurde. Vor dem Hintergrund der sich vertiefenden Krise der Autokratie wuchs die Unzufriedenheit mit der politischen Perspektive, die die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands seit ihrer Gründung angeleitet hatte. Es wurden theoretische und politische Einwände gegen ein Verständnis der demokratischen Revolution erhoben, das allzu bereitwillig davon ausging, die politische Macht werde nach dem Sturz des Zaren selbstverständlich und unausweichlich an die russische Bourgeoisie übergehen.
Plechanows Beitrag
Diese Perspektive wurde vor allem mit den Arbeiten von G.W. Plechanow, dem »Vater des russischen Marxismus«, in Verbindung gebracht. Plechanow vertrat die Ansicht, die Arbeiterklasse müsse sich im Kampf gegen den Zarismus mit der liberalen Bourgeoisie verbünden. Nach dem Sturz der Autokratie werde eine russische Form der parlamentarischen Demokratie entstehen. Die Partei der Arbeiterklasse werde als sozialistische Opposition in das russische Parlament eintreten und sich bemühen, das liberale demokratische Regime so weit wie möglich nach links zu treiben. Aber das Land werde sich auf unbestimmte Zeit auf kapitalistischer Grundlage weiterentwickeln. Irgendwann, niemand wusste genau wann, werde Russland dann politisch und ökonomisch reif für den Sozialismus sein. An diesem Punkt werde die Arbeiterklasse zum Sturz des bürgerlichen Regimes übergehen.
Das Hauptproblem mit dieser Perspektive war, dass sie den Charakter und die Aufgaben der demokratischen Revolution mit einer Formel in Übereinstimmung zu bringen versuchte, die historisch bereits überholt war. Plechanow selbst hatte bereits 1889 darauf bestanden, dass die demokratische Revolution in Russland nur als Arbeiterrevolution siegreich sein könne. Aber wenn die Arbeiterklasse, wie Plechanow fortwährend betonte, die entscheidende Kraft beim Sturz der Autokratie sein würde, warum musste dann die politische Macht unbedingt an die liberale Bourgeoisie übergehen? Die einzige Antwort, die Plechanow solchen Fragen entgegenhalten konnte, lautete, Russlands wirtschaftliche Entwicklung sei nicht reif für die Machtergreifung der Arbeiterklasse und für sozialistische Maßnahmen.
Kautskys Beitrag
Als erster bedeutender Theoretiker wies Karl Kautsky darauf hin, dass die Entwicklung in Russland einen anderen Gang nehmen könnte, als ihn das traditionelle Modell der bürgerlich-demokratischen Revolution vorsah. Zwischen 1902 und 1907 verfasste er mehrere Artikel, die in diesem Band abgedruckt sind. Sie untergruben Plechanows doktrinäre Perspektive, förderten eine kritische Haltung gegenüber veralteten Präzedenzfällen und ermutigten eine jüngere Generation russischer und polnischer sozialdemokratischer Theoretiker, darunter Leo Trotzki und Rosa Luxemburg, zu bahnbrechenden Arbeiten.
1902 bezweifelte Kautsky im Artikel »Die Slawen und die Revolution«, dass die russische Bourgeoisie im Kampf gegen den Zarismus eine revolutionäre Rolle spielen werde. Die Dynamik der Klassenbeziehungen habe sich seit der Ära der frühen bürgerlichen Revolutionen gründlich verändert. Nach 1870, schrieb Kautsky, habe die Bourgeoisie in allen Ländern begonnen, »ihre letzten Reste revolutionärer Ambitionen« zu verlieren. »Von diesem Zeitpunkt an hieß Revolutionär zu sein, Sozialist zu sein.«[9]
1903 schrieb Kautsky in einem Artikel, den er 1906 überarbeitete, unter dem provokativen Titel »Wie weit ist das ›Kommunistische Manifest‹ veraltet?«, dass,
soweit von einem »Irrtum« des Kommunistischen Manifests gesprochen werden kann und eine Kritik erforderlich ist, sie gerade bei diesem »Dogma« von der politisch revolutionären Bourgeoisie einzusetzen hat. Die Ersetzung der Revolution durch die Evolution im letzten halben Jahrhundert ist gerade eine Folge dessen, dass es eine revolutionäre Bourgeoisie nicht mehr gibt.[10]
Zu den wichtigsten Leistungen Days und Gaidos zählt, dass sie in ihrer Anthologie daran erinnern und historisch belegen, welch wichtige Rolle Kautsky vor dem Ersten Weltkrieg bei der Herausarbeitung der Perspektive der permanenten Revolution spielte. Sie äußern die Hoffnung, die Veröffentlichung von Kautskys Schriften zur Russischen Revolution werde dazu beitragen, »die stereotype und falsche Einschätzung Kautskys als Apostel des Quietismus und als Reformist, der sich in revolutionäre Phrasen hüllt, zu überwinden«.[11] Sie fügen hinzu:
Diese Einschätzung – eine unangemessene Verallgemeinerung, abgeleitet aus Kautskys antibolschewistischen Polemiken nach 1917 – entwickelte zunächst der ultralinke Philosoph Karl Korsch in seiner Antwort auf Kautskys Werk »Die materialistische Geschichtsauffassung« (1927). Nach der Veröffentlichung von Erich Matthias’ Buch »Kautsky und der Kautskyanismus« wurde sie in akademischen Kreisen gängig. Der wichtigste Biograph Kautskys, Marek Waldenberg, liefert ausführliches Material zur Widerlegung dieser These, die weder Lenin noch Trotzki teilten. Beide empfahlen kommunistischen Arbeitern stets die Schriften aus Kautskys revolutionärer Periode.[12]
Mit seinem späteren Verrat am Sozialismus wies Kautsky sein eigenes Werk zurück. Lenin brachte sein Entsetzen und seinen Ärger über den politischen und intellektuellen Zusammenbruch des Mannes, der sein Lehrer gewesen war, mit der Formulierung zum Ausdruck: »Wie gut schrieb Karl Kautsky doch …!« Die Anthologie macht deutlich, weshalb Kautskys Verrat im August 1914 eine ganze Generation von Revolutionären schockierte. Es finden sich darin derart viele großartige Passagen aus Kautskys revolutionären Schriften, dass man nur schwer der Versuchung widerstehen kann, die Besprechung mit Zitaten zu überfrachten, die belegen, was für ein bemerkenswert scharfsinniger, weitblickender und kompromissloser Polemiker der »Papst des Marxismus« der Zweiten Internationale war. Im Nachhinein kann man (wie wir später sehen werden) in bestimmten Anschauungen Kautskys politische Schwächen aufspüren, besonders, wenn er über die Folgen eines unmittelbaren Zusammenstoßes zwischen der Arbeiterklasse und dem Staat schreibt. Aber der Kontrast zwischen dem Stereotyp, das Kautsky als geistesabwesenden, professoralen Eigenbrödler darstellt, der selbstzufrieden auf die Revolution als Geschenk der historischen Notwendigkeit wartet, und dem wirklichen Kautsky tritt klar hervor. Im Februar 1904 wandte sich Kautsky im Artikel »Allerhand Revolutionäres« direkt gegen den politischen Fatalismus, der, glaubt man vielen akademischen Kritikern, angeblich sein Markenzeichen war:
Die Welt ist nicht so zweckmäßig eingerichtet, dass die Revolution immer dort siegt, wo es im Interesse der Gesellschaft erforderlich ist. Wenn wir von der Notwendigkeit des Sieges des Proletariats und des daraus folgenden Sozialismus sprechen, so meinen wir nicht damit, dass dieser Sieg unvermeidlich sei oder gar, wie mancher unserer Kritiker es auffasst, mit fatalistischer Sicherheit von selbst kommen müsste, auch wenn die revolutionäre Klasse die Hände in den Schoß legte. Die Notwendigkeit ist hier aufzufassen in dem Sinne der einzigen Möglichkeit der Weiterentwicklung. Wo es dem Proletariat nicht gelingt, seiner Gegner Herr zu werden, da kann die Gesellschaft sich nicht fortentwickeln, da muss sie stagnieren und verfaulen.[13]
Ein weiterer Aufsatz, »Die Sansculotten der Französischen Revolution«, der 1889 verfasst und 1905 erneut veröffentlicht wurde, enthält eine Lobrede auf den revolutionären Terrorismus. Laut Kautsky war der Terrorismus des Jakobinerregimes »nicht allein Kriegswaffe, den schleichenden Feind im Innern zu entnerven und einzuschüchtern«, er diente auch dazu, »den Verteidigern der Revolution Zuversicht einzuflößen für den Kampf gegen den äußeren Feind«.[14]
Die Auswirkungen der Revolution von 1905
Wie steht es mit der Behauptung, Kautsky sei ein unverbesserlicher »Vulgär«-Materialist gewesen, ohne jedes Verständnis für die Rolle des subjektiven Elements in der Politik? Er habe nur blutleere ökonomische Triebkräfte anerkannt und nicht wahrhaben wollen, dass Emotionen und Ideale bei der politischen Tätigkeit der Arbeiterklasse eine bedeutende Rolle spielten? Wer dieser stereotypen Darstellung Kautskys auf den Leim gegangen ist, wird überrascht feststellen, dass er die Schwäche des Sozialismus in den Vereinigten Staaten von Amerika in hohem Maße auf den »Mangel an Revolutionsromantik« der amerikanischen Arbeiter und den Geist des »skrupellosesten Kapitalismus« der amerikanischen Intellektuellen zurückführt.[15]
Die Anthologie macht deutlich, dass Kautskys aktives Interesse an den russischen Angelegenheiten nicht nur einer gutherzigen, großväterlichen Sorge um das Tun seiner jungen Genossen entsprang, die unter Lebensgefahr gegen den brutalen und reaktionären Polizeistaat des Zaren kämpften. Kautsky und seine damalige enge Verbündete Rosa Luxemburg schrieben den russischen Ereignissen, besonders nach dem russisch-japanischen Krieg und dem Ausbruch der Revolution von 1905, eine entscheidende Bedeutung für das Schicksal der sozialistischen Bewegung in Deutschland zu.
Kautsky war wie Luxemburg höchst besorgt über den wachsenden Einfluss der Gewerkschaften auf die politische Linie der SPD. Die orthodoxen Marxisten hatten zwar auf dem Dresdener Parteitag im September 1903 formal den Sieg über den Revisionismus Eduard Bernsteins davongetragen, doch der von den Gewerkschaften ausgehende Druck stellte eine weit größere Gefahr für die Existenz der SPD als revolutionäre Bewegung dar. Die Revolution von 1905 verschärfte den politischen Konflikt innerhalb der Partei.
Die Führer der linksgerichteten Kräfte innerhalb der SPD sahen in den russischen Massenstreiks die Vorboten eines neuen revolutionären Kampf- und Opfergeistes in Deutschland. Sogar der spätere Erzreformist Rudolf Hilferding war begeistert über den Aufstand in Russland. Am 14. November 1905 schrieb er an Kautsky,
die Vorarbeiten sind getan, die Kleinarbeit geleistet, wir dürfen hoffen zu ernten, nachdem wir lange genug den Acker bestellt und den Samen ausgestreut haben.[16]
Kautsky äußerte sich noch euphorischer über die Massenkämpfe. Er schrieb im Juli 1905: »Die Revolution in Permanenz ist also gerade dasjenige, was das Proletariat in Russland braucht.«[17] Kautsky erklärte,
eine Ära revolutionärer Entwicklung hat begonnen; das Zeitalter langsamen, mühsamen, fast unmerklichen Fortschreitens wird weichen einer Epoche der Revolution, sprunghaften Vorwärtsschnellens – freilich vielleicht auch zeitweiliger großer Niederlagen, aber, so viel Zutrauen müssen wir zur Sache des Proletariats haben – auch schließlicher großer Siege.[18]
Während die Revolution die kämpferischen Tendenzen innerhalb der SPD ermutigte, erfüllte sie die Gewerkschaftsführung mit Furcht und Abscheu. Weil er die Auswirkungen des russischen Beispiels fürchtete, lehnte der Fünfte Gewerkschaftstag der sozialdemokratischen Freien Gewerkschaften, der im Mai 1905 in Köln stattfand, den Massenstreik ab und untersagte jede Agitation dafür. Der SPD-Vorsitzende August Bebel wandte sich gegen die »Nurgewerkschaftlerei« und unterstützte eine Resolution, die den Massenstreik als Mittel im Kampf für demokratische Rechte rechtfertigte. Sie wurde im September 1905 vom SPD-Parteitag in Jena verabschiedet.
Das Machtverhältnis zwischen SPD und Gewerkschaften hatte sich aber im vorausgegangenen Jahrzehnt drastisch zum Nachteil der Partei verändert. Obwohl die Gewerkschaften unter der Führung der Partei gegründet worden waren, verschrieben sie sich mit dem Anschwellen ihrer Mitgliedschaft und ihrer Bankkonten zunehmend Interessen, die die Revolution entschieden ablehnten. Wie Theodor Bömelburg, ein Vertreter der Gewerkschaften, offen erklärte, »bedürfen wir in der Arbeiterbewegung Ruhe«.[19]
1905 war das Einkommen der Gewerkschaften rund fünfzig Mal höher als das der SPD. Mit der wachsenden Abhängigkeit von Unterstützungszahlungen der Gewerkschaften geriet die SPD unter den Druck ihrer Forderungen. Erfahrene SPD-Führer wie Bebel müssen außerdem die Möglichkeit erkannt haben, dass die Gewerkschaften mit der SPD brechen und im Bündnis mit Teilen der Revisionisten eine ausgesprochen antirevolutionäre »Arbeiter«-Partei aufbauen könnten. Dies hätte die Voraussetzungen für einen gewaltsamen Angriff des Staates auf die SPD geschaffen. Der Druck auf die SPD-Führer, die Gewerkschaften zu besänftigen, war enorm. Deshalb traf sich der SPD-Vorstand trotz der auf dem Jenaer Parteitag verabschiedeten Massenstreikresolution insgeheim mit der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands. Bebel kapitulierte vor der Forderung der Gewerkschaften, der Parteivorstand der SPD solle sich verpflichten, einen Massenstreik »soweit es ihm möglich ist … zu verhindern«.[20] Die Generalkommission warnte die SPD, dass sie im Falle eines politischen Streiks keine Unterstützung von den Gewerkschaften erhalten werde. Ihr einziges Zugeständnis bestand in der Zusage, einen solchen Streik nicht offen zu sabotieren. Berücksichtigt man die erbitterte Feindschaft der Gewerkschaftsführung gegen alles, was zu einer Radikalisierung der Klassenbeziehungen beitragen konnte, ist allerdings zu bezweifeln, ob die SPD viel Vertrauen in dieses Zugeständnis setzte.
Diese Periode bildete den Höhepunkt von Kautskys langer revolutionärer Laufbahn. Er verteidigte Rosa Luxemburg gegen die scharfen Angriffe der Gewerkschaftsführer, und diese nannte ihn liebevoll und bewundernd »Karolus Magnus« (Karl der Große). Die furchtbare Enttäuschung und Erbitterung, mit der Luxemburg auf Kautskys spätere Rechtswendung reagierte (den dieser im privaten Briefwechsel als Versuch rechtfertigte, die Gewerkschaften zu besänftigen), ist nur auf dem Hintergrund ihrer langjährigen engen Beziehung zu verstehen.
Rjasanows Beitrag
Die Anthologie enthält wichtige, aber wenig bekannte Dokumente von Theoretikern der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (RSDAP), darunter zwei von David Borissowitsch Goldendach, der den Parteinamen Rjasanow trug. Rjasanow, der 1870 in Odessa geboren wurde, machte sich später vor allem als unermüdlicher Historiker und Archivar des literarischen Nachlasses von Marx und Engels einen Namen. Nach der bolschewistischen Revolution wurde er Leiter der Vereinigten Staatsarchive und war an der Gründung der Sozialistischen Akademie und des Marx-Engels-Instituts beteiligt. Er reiste nach Westeuropa, verhandelte mit etlichen Vertretern der Sozialdemokratie und erwarb große Mengen Dokumente mit Bezug auf Marx und Engels.
Dieser glänzende marxistische Wissenschaftler war auch ein bedeutender revolutionärer Theoretiker. Wie Trotzki stand er außerhalb der bolschewistischen und der menschewistischen Fraktion. 1917 war er, ebenfalls wie Trotzki, zunächst Mitglied der Organisation der Interrayonisten (Meschrajonka), bevor er im Sommer des Jahres in die bolschewistische Partei eintrat. Auf Rjasanows Rolle nach der Machteroberung der Bolschewiki geht Alexander Rabinowitch in seinem Buch »Die Sowjetmacht. Das erste Jahr« ein. Damals versuchte er, Gemeinsamkeiten mit einer Gruppe Menschewiki zu finden. Rjasanows lange revolutionäre Laufbahn, seine gründlichen Kenntnisse der marxistischen Theorie und der Geschichte der sozialistischen Bewegung sowie seine breit gefächerten kulturellen Interessen machten ihn früh und unvermeidlich zu einer Zielscheibe von Stalins Feldzug gegen die revolutionäre marxistische Intelligenz der UdSSR. Im Februar 1931 wurde er erstmals verhaftet und beschuldigt, Mitglied eines »menschewistischen Zentrums« zu sein und »zerstörerische Aktivitäten an der historischen Front« auszuüben. Rjasanow, schrieb Trotzki, »fiel seiner persönlichen Ehrlichkeit zum Opfer«.[21] Er wurde aus der Partei ausgeschlossen und ins Exil nach Saratow geschickt. 1937 wurde er erneut verhaftet. Am 21. Januar 1938 verurteilte ihn ein sogenanntes Militärkollegium zum Tode. Er wurde am selben Tag erschossen.
Das erste Dokument Rjasanows in der Anthologie datiert von 1902–1903 und trägt den Titel »Der Programmentwurf der ›Iskra‹ und die Aufgaben der russischen Sozialdemokraten«. Das Originaldokument umfasst 302 Seiten. Daher ist es verständlich, dass Day und Gaido nur repräsentative Auszüge ausgewählt haben. Es ist ein interessantes Dokument, das die Schärfe des Fraktionskampfs widerspiegelt, der der Spaltung auf dem Zweiten Kongress der RSDAP im September 1903 vorausging. Der Autor ist offensichtlich unzufrieden mit Plechanows Auffassung, die kommende russische Revolution werde dem Inhalt und der Form nach notwendigerweise bürgerlich sein. Es ist meiner Meinung nach jedoch übertrieben, wenn Day und Gaido behaupten: »Rjasanows Kritik des ›Iskra‹-Programms ist bemerkenswert, weil es in fast allen Einzelheiten die Theorie der permanenten Revolution vorwegnimmt …«[22]
Man findet bei Rjasanow tatsächlich einige Formulierungen, die die Arbeiterklasse nicht auf die Unterordnung unter die bürgerliche Herrschaft beschränken und ihre Aufgaben weitergehend definieren, als dies Plechanow für die Zeit nach der Revolution vorsah. Rjasanow äußert sich auch skeptisch gegenüber der Vorstellung, die Bauernschaft könnte im revolutionären Kampf eine bedeutende eigenständige Rolle spielen – ein Standpunkt, den Parvus und Trotzki später in ihren Schriften viel ausgeprägter entwickelten. Rjasanows Formulierungen über den Charakter der kommenden revolutionären Regierung bleiben jedoch ziemlich zaghaft. Er schreibt, die Revolution werde »zweifellos auf der Grundlage bürgerlicher Produktionsverhältnisse stattfinden und insofern sicher ›bürgerlich‹ sein«. Sie werde aber »auch von Anfang bis Ende proletarisch sein in dem Sinne, dass das Proletariat ihr führendes Element sein und der ganzen Bewegung seinen Klassenstempel aufdrücken wird«.[23] An anderer Stelle versichert er: »Die demokratische Republik ist die Form, in der sich der Klassenkampf des Proletariats gegen die Bourgeoisie frei entwickeln wird.«[24] Diese Formulierungen bleiben deutlich hinter den später von Trotzki gebrauchten zurück. Trotzki war der Ansicht, die Arbeiterklasse werde sich nicht damit begnügen, der Revolution ihren Stempel aufzudrücken, sondern die Staatsmacht ergreifen.
Ein großer Teil von Rjasanows Aufsatz – sein schwächster Teil – ist einem Angriff auf Lenins »Was tun?« gewidmet. Rjasanow greift vor allem Lenins Standpunkt an, sozialistisches Bewusstsein entwickle sich nicht spontan in der Arbeiterklasse, sondern müsse von außen in diese hineingetragen werden. »Genosse Lenin geht zu weit«, schreibt Rjasanow und entwickelt eine heftige Polemik gegen diesen Gedanken. Der Kommentar von Day und Gaido lässt durchblicken, dass sie in einem gewissen Maß mit Rjasanows Auffassung sympathisieren. Genau in dieser Frage – dass der Sozialismus in die Arbeiterklasse hineingetragen wird und sich nicht aus ihren spontanen ökonomischen Kämpfen und praktischen Aktivitäten entwickelt – zeigt sich jedoch Kautskys Einfluss auf Lenin am deutlichsten. In »Was tun?« zitiert Lenin eine lange Passage von Kautsky, in der dieser erklärt: »Das sozialistische Bewusstsein ist also etwas in den Klassenkampf des Proletariats von außen Hineingetragenes, nicht etwas aus ihm urwüchsig Entstandenes.«[25] Trotz seiner Opposition gegen den Reformismus vertritt Rjasanow in seinem Dokument Standpunkte, die in einigen wichtigen Aspekten denen der Ökonomisten ähneln, gegen die sich Lenins »Was tun?« vor allem richtete. Day und Gaido machen darauf aufmerksam, dass 1970 ein Historiker Rjasanows Kritik an der »Iskra« als »revolutionären Ökonomismus« bezeichnete.[26]
Der zweite Aufsatz Rjasanows, der etwa drei Jahre später mitten in der Revolution von 1905 entstand, enthält Formulierungen, die denen von Trotzki und Parvus viel näher kommen. Rjasanow betont die Bedeutung der »Eigentumsfrage« und führt aus:
Wenn sie [die Arbeiterklasse] all ihre Anstrengungen auf die Vollendung ihrer eigenen Aufgabe konzentriert, erreicht sie gleichzeitig den Moment, in dem nicht mehr die Beteiligung an einer provisorischen Regierung die Frage ist, sondern die Eroberung der Macht durch die Arbeiterklasse und die Umwandlung der »bürgerlichen« Revolution in ein unmittelbares Vorspiel zur sozialen Revolution.[27]
Lenins Beitrag
Im Verlauf der Herausbildung der Theorie und Strategie der Russischen Revolution entwickelte sich Lenins Auffassung der »demokratischen Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft« 1905 zu einer bedeutenden Alternative zu Plechanows orthodoxem Standpunkt. Lenins Perspektive unterschied sich von der Plechanows in zwei grundlegenden Fragen, die beide weitreichende politische und praktische Auswirkungen hatten. Obwohl er die kommende Revolution als bürgerliche charakterisierte, schloss Lenin erstens aus, dass sie von der russischen Bourgeoisie geführt oder gar zu einem entscheidenden Abschluss gebracht werden könne. Im Gegensatz zu Plechanow lehnte er jedes politische Bündnis mit den bürgerlichen Liberalen kategorisch ab. Zweitens bestand für Lenin die entscheidende historische Bedeutung der »bürgerlichen« Revolution nicht in der Errichtung demokratisch parlamentarischer Institutionen, sondern in der radikalen Zerstörung aller Überreste feudaler Verhältnisse auf dem Lande. Das ist der Grund, weshalb Lenin die sogenannte »Agrarfrage« ins Zentrum der demokratischen Revolution stellte. Wie Trotzki in seinem letzten wichtigen Artikel zur Theorie der permanenten Revolution betonte: »Mit unvergleichlich größerer Kraft und Konsequenz als Plechanow stellte Lenin die Agrarfrage als das Zentralproblem der demokratischen Revolution in Russland in den Vordergrund.«[28]
Aus dieser Analyse ergab sich eine politische Strategie, die sich grundlegend von der Plechanows unterschied. Der Erfolg der demokratischen Revolution, der auf dem Land die Enteignung der riesigen Güter der alten Grundbesitzerklasse erforderte, konnte nur durch die massive Mobilisierung der viele Millionen zählenden armen Landbevölkerung sichergestellt werden. Die russische Bourgeoisie, die jede Art von Massenaktion gegen den Privatbesitz ablehnte, konnte einen revolutionären Umsturz der bestehenden Eigentumsverhältnisse auf dem Land weder gutheißen noch anführen. Aber das zaristische Regime konnte nur durch eine derartige Mobilisierung der armen Bauern, die den weitaus größten Teil der russischen Bevölkerung ausmachten, gestürzt werden.
Daraus schloss Lenin, dass Plechanows Orientierung auf die liberale Bourgeoisie die Revolution zum Scheitern verurteilen würde. Der wichtigste Verbündete der Arbeiterklasse im revolutionären Kampf gegen das Zarenregime war die Bauernschaft. Aus dieser Einschätzung der revolutionären Dynamik der demokratischen Revolution leitete Lenin sein Konzept einer neuen Form der revolutionären Staatsmacht ab, die die Selbstherrschaft des Zaren ablösen sollte: die demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft.
Lenins Auffassung der demokratischen Revolution brachte die bolschewistische Fraktion der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands (erst 1912 erklärten die Bolschewiki sich zu einer unabhängigen Partei) in unversöhnliche Feindschaft zur Bourgeoisie und allen menschewistischen Tendenzen, die in der einen oder anderen Form darauf bestanden, dass eine liberale parlamentarische Republik das einzige legitime Ergebnis des Sturzes des Zaren sei. Lenin traf jedoch eine klare Unterscheidung zwischen der demokratischen und der sozialistischen Revolution. Die von Lenin angestrebte demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft sollte auf kapitalistischen Verhältnissen beruhen. 1905 schrieb Lenin:
Doch selbstverständlich wird das keine sozialistische, sondern eine demokratische Diktatur sein. Sie wird (ohne eine ganze Reihe Zwischenstufen der revolutionären Entwicklung) nicht imstande sein, die Grundlagen des Kapitalismus anzutasten. Sie wird im besten Fall imstande sein, eine radikale Neuverteilung des Grundeigentums zugunsten der Bauernschaft vorzunehmen, einen konsequenten und vollen Demokratismus bis zur Errichtung der Republik durchzuführen, alle asiatischen Wesenszüge und Knechtschaftsverhältnisse im Leben nicht nur des Dorfes, sondern auch der Fabrik auszumerzen, für eine ernsthafte Verbesserung der Lage der Arbeiter, für die Hebung ihrer Lebenshaltung den Grund zu legen und schließlich last but not least, den revolutionären Brand nach Europa zu tragen. Ein solcher Sieg wird aus unserer bürgerlichen Revolution noch keineswegs eine sozialistische machen; die demokratische Umwälzung wird über den Rahmen der bürgerlichen gesellschaftlich-ökonomischen Verhältnisse nicht unmittelbar hinausgehen; aber nichtsdestoweniger wird die Bedeutung eines solchen Sieges für die künftige Entwicklung sowohl Russlands als auch der ganzen Welt gigantisch sein.[29]
Lenins Programm, so schrieb Trotzki später, stellte gegenüber Plechanows Auffassung der bürgerlichen Revolution »einen gewaltigen Schritt nach vorn dar«.[30] Es warf jedoch theoretische und politische Fragen auf, die zeigten, dass Lenins Formulierung unklar war und ihre Grenzen hatte. So ging sie davon aus, eine neue, bisher nie dagewesene Staatsform zu schaffen, in der sich zwei Klassen, das Proletariat und die Bauernschaft, die Macht teilten. Aber wie sollte die Macht unter diesen beiden Klassen aufgeteilt werden? Darüber hinaus bedeutete die Zerschlagung des Großgrundbesitzes und die Neuverteilung des Landes nicht die Abschaffung des Privateigentums am Boden, wie Lenin klar erkannte. Die Bauernschaft wollte am Privateigentum festhalten, wenn auch unter der Bedingung größerer Gleichheit. Sie würde also ablehnend auf die Bestrebungen des Proletariats reagieren, das Privateigentum aufzuheben und eine sozialistische Richtung einzuschlagen. Dieser grundlegende Widerspruch zwischen der sozialen Orientierung der beiden Klassen stellte die Realisierbarkeit von Lenins demokratischer Diktatur in Frage.
Trotz seiner Schwächen stellte Lenins Programm einen Meilenstein in der Entwicklung des russischen revolutionären Denkens dar. Die unbedachte und geradezu herablassende Haltung, mit der Day und Gaido Lenins Standpunkt behandeln, ist daher schwer nachzuvollziehen. Man hört hier regelrecht, wie im Hintergrund politische Messer geschliffen werden, was ihre ansonsten hervorragende Besprechung der Debatte über die Theorie der permanenten Revolution schwächt. Sie schreiben:
Das Problem mit Lenins Begriff einer »demokratischen Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft« lag auf der Hand: In Russland gab es keine revolutionäre kleinbürgerliche Partei, mit der zusammengearbeitet werden konnte. Lenin dachte, solch eine Partei müsse irgendwann entstehen, aber diese Erwartung bot keine praktische Grundlage für eine politische Taktik.[31]
Dieses Urteil überrascht. Welche Mängel Lenins Theorie auch haben mochte, sie lagen keineswegs »auf der Hand«. Wäre dies der Fall gewesen, hätten Trotzkis Kritik der Perspektive der »demokratischen Diktatur« und die Theorie der permanenten Revolution, mit der er über sie hinaus ging, keine derart eindrucksvollen intellektuellen Leistungen dargestellt. Man kann Lenin auch nicht vorwerfen, dass er in Russland die Entwicklung einer Bauernmassenpartei für möglich hielt. Die spätere Entwicklung der Sozialrevolutionären Partei, die eine, wenn auch instabile, Massenbasis unter den Bauern hatte, bestätigte Lenin.
Schließlich muss man berücksichtigen, dass Lenin zur Generation gehörte, die nach der Katastrophe der Pariser Kommune politisch heranreifte. Der entscheidende Faktor, der das bürgerliche Regime in Versailles in die Lage versetzte, die Kommune im Mai 1871 zu zerschlagen, war die Unfähigkeit der Pariser Arbeiter, die französischen Bauern auf ihre Seite zu ziehen. Ein solcher politischer Fehlschlag wird nicht schnell vergessen. Für Lenin hing das Schicksal der Arbeiterklasse in Russland (und in jedem Land mit einer großen ländlichen Bevölkerung) von der Fähigkeit ab, die Unterstützung der Bauernschaft zu gewinnen. Es lohnt sich immer, sich die historischen Zeitspannen zu vergegenwärtigen. Die Pariser Kommune und die Revolution von 1905 lagen nur 34 Jahre auseinander. Die Zerstörung der Kommune lag für Lenins Generation weniger weit zurück als für uns heute der Fall Saigons im Mai 1975!
Lenins Formel der »demokratischen Diktatur« enthält einen weiteren Aspekt von bleibender Bedeutung. Sein Verständnis des widersprüchlichen Charakters der revolutionären Bauernbewegung – vor allem seine Betonung, dass Bauernaufstände und die massenhafte Inbesitznahme von Land nicht zwangsläufig zur Zerstörung der kapitalistischen Verhältnisse führen – war ebenso scharfsinnig wie weitsichtig. Lenin griff damit eine Frage auf, die unter Linken (z.B. den Bewunderern Castros, Maos, der Naxaliten und sogar des mexikanischen »Subcomandante« Marcos) immer wieder zu Verwirrung führen sollte. Er wandte sich gegen die weitverbreitete falsche Auffassung, der Radikalismus der Bauern – selbst wenn sie für die Verteilung des Landes unter die arme Landbevölkerung kämpften – sei sozialistisch. Lenin beharrte darauf, dass die Nationalisierung des Bodens ein zentrales Element der demokratischen Revolution und unter bestimmten Bedingungen sogar von entscheidender Bedeutung für die Entwicklung des Kapitalismus sei. Er erklärte, dass die Nationalisierung des Bodens eine demokratische und keine sozialistische Maßnahme sei, und folgerte:
Weil die Sozialrevolutionäre diese Wahrheit nicht begreifen, werden sie zu unbewussten Ideologen des Kleinbürgertums. Das Festhalten an dieser Wahrheit ist für die Sozialdemokratie von größter, nicht nur theoretischer, sondern auch praktisch-politischer Bedeutung, denn hieraus ergibt sich für die Partei des Proletariats die Pflicht, in der gegenwärtigen »allgemein-demokratischen« Bewegung ihre volle Selbständigkeit als Klassenpartei zu bewahren.[32]
Die katastrophale militärische Niederlage Russlands im Krieg gegen Japan führte zum Ausbruch der Revolution. Sie wurde durch das Massaker an St. Petersburger Arbeitern eingeleitet, die am 9. Januar 1905 in einem Protestmarsch vor das Winterpalais zogen. Die soziale Explosion im russischen Reich gab der Entwicklung der revolutionären Theorie einen mächtigen Anstoß. Die zentrale Rolle bei der Formulierung der Theorie der permanenten Revolution spielten Parvus und Trotzki.
Parvus’ Beitrag
Auch 85 Jahre nach seinem Tod in Deutschland bleibt Parvus (1867–1924) eine rätselhafte, irgendwie geheimnisvolle Gestalt. Er ist besser wegen der skrupellosen Geschäfte bekannt, denen er nach seinem Bruch mit der revolutionären Bewegung im Ersten Weltkrieg nachging, als wegen seiner bemerkenswerten Arbeit als marxistischer Theoretiker in den letzten Jahren des 19. und den ersten des 20. Jahrhunderts. Es ist aber unbestreitbar, dass Parvus (sein Geburtsname war Alexander Helphand) eine wichtige Rolle in der revolutionären Bewegung Russlands und Deutschlands spielte. Unter den europäischen Sozialisten machte er erstmals durch seine Angriffe auf den Revisionismus Eduard Bernsteins auf sich aufmerksam. Seine ersten Artikel gegen Bernstein erschienen im Januar 1898 in der deutschen sozialistischen Presse, noch bevor Rosa Luxemburg und Kautsky eingriffen. Parvus’ Artikel waren aber nicht nur wegen ihres frühen Erscheinungstermins bemerkenswert; in ihnen zeigte sich auch ein Verständnis der Ökonomie des deutschen und des Weltkapitalismus, das den Eindruck hinterließ, Bernstein habe keine Ahnung, wovon er rede.
Wie Trotzki später anerkannte, waren seine eigenen Ideen über die Dynamik der revolutionären Entwicklung in Russland stark von Parvus beeinflusst. Parvus, schrieb Trotzki, habe »die Machteroberung des Proletariats aus einem astronomischen ›Endziel‹ in eine praktische Aufgabe unserer Zeit verwandelt«.[33] Parvus und Trotzki erkannten beide, dass die Entstehung des Petersburger Sowjets im Oktober 1905 der Arbeiterklasse große Möglichkeiten eröffnete. Nach Parvus’ Argumentation war es unzureichend, die »Aufgaben« der Revolution aus abstrakten Überlegungen über die »objektive« Entwicklung der nationalen Produktivkräfte abzuleiten und dabei die nicht weniger objektive Dynamik der Klassenkräfte, die sich in einer revolutionären Situation entfalteten, zu ignorieren. Die Eroberung der Macht durch die Arbeiterklasse, so Parvus, sei möglich geworden. Er wies das Argument der Menschewiki zurück, die Arbeiterklasse sei aufgrund einer fatalistischen Berechnung der verfügbaren wirtschaftlichen Ressourcen verpflichtet, beiseite zu stehen und respektvoll zuzuschauen, wie die Bourgeoisie die Macht übernimmt. Mit einer brillanten Darstellung der Wechselbeziehung zwischen Politik und Wirtschaft bereitete Parvus den Weg für die Formulierung einer weit aggressiveren revolutionären proletarischen Strategie:
Wenn die Klassenbeziehungen in einfacher und direkter Weise durch den historischen Lauf der Ereignisse bestimmt würden, müssten wir uns nicht den Kopf zerbrechen: Wir könnten den Moment der sozialen Revolution berechnen, so wie Astronomen die Bewegung eines Planeten verfolgen, und uns dann zurücklehnen und sie beobachten. In Wirklichkeit führen die Klassenbeziehungen in erster Linie zu politischen Auseinandersetzungen, deren Endergebnis wiederum durch die Entwicklung der Klassenkräfte bestimmt wird. Der gesamte historische Prozess, der sich über Jahrhunderte erstreckt, ist von einer Vielzahl sekundärer – wirtschaftlicher, politischer und nationaler kultureller – Voraussetzungen abhängig, vor allem aber hängt er von der revolutionären Energie und dem politischen Bewusstsein der kämpfenden Kombattanten ab – von ihrer Taktik und ihrer Fähigkeit, die politische Gunst der Stunde zu nutzen.[34]
Parvus behauptete nicht, Russland sei reif für die Errichtung des Sozialismus. Er stellte kategorisch fest: »Ohne soziale Revolution in Westeuropa ist es gegenwärtig unmöglich, in Russland den Sozialismus zu verwirklichen.«[35] Er hielt es aber für möglich, dass die Dynamik des Klassenkampfs Bedingungen schaffen würde, unter denen die Arbeiterklasse die Macht ergreifen konnte. Diese würde die Macht dann nutzen, um ihre eigenen Interessen so weit wie möglich voranzubringen.
Parvus versuchte nicht, den genauen Verlauf der revolutionären Entwicklung vorauszusagen. Seiner Ansicht nach bestand Politik aus einem komplexen Zusammenwirken von Kräften, Einflüssen und Faktoren, die unzählige Varianten der Entwicklung zuließen. Er sah einen langwierigen Kampf voraus, in dem der Sturz der zaristischen Autokratie nur den Ausgangspunkt der Revolution bilden würde. Er argumentierte:
Die Sozialdemokratie muss das Proletariat in den Mittelpunkt und an die Spitze der revolutionären Bewegung des ganzen Volkes und der gesamten Gesellschaft stellen. Gleichzeitig muss sie sich auf den Bürgerkrieg vorbereiten, der auf den Sturz der Autokratie folgen wird, auf die Zeit, wenn der agrarische und der bürgerliche Liberalismus sie angreifen und die politischen Radikalen und die Demokraten sie verraten werden.
Die Arbeiterklasse muss verstehen, dass die Revolution und der Zusammenbruch der Autokratie nicht das Gleiche sind und dass es notwendig ist, zuerst gegen die Autokratie und dann gegen die Bourgeoisie zu kämpfen, um die politische Revolution durchzuführen.[36]
Parvus’ bemerkenswerter Essay »Was wurde am 9. Januar erreicht?« enthält eine Fülle politischer Einsichten, die die Weisheit eines politischen Zeitalters widerspiegeln, das, zumindest was das Verständnis der Realitäten des Klassenkampfs angeht, auf einem unvergleichlich höheren Niveau stand als unsere Zeit. Parvus befasst sich mit den Problemen, die im Kampf an der Seite zeitweiliger und unsicherer Verbündeter entstehen, und rät:
1) Verwischt die organisatorischen Grenzen nicht. Marschiert getrennt, aber schlagt vereint.
2) Schwankt nicht bei unseren eigenen politischen Forderungen.
3) Verdeckt keine Interessengegensätze.
4) Beobachtet unsere Verbündeten ebenso wie unsere Feinde.
5) Konzentriert Euch stärker darauf, Vorteile wahrzunehmen, die sich aus dem Kampf ergeben, als Verbündete zu halten.[37]
Ende 1905 schrieb Trotzki den Artikel »Vor dem 9. Januar«, der in dieser Anthologie zum ersten Mal in vollständiger englischer Übersetzung erscheint. Es handelt sich um eine scharfe und schonungslose Bloßstellung der politischen Fäulnis der liberalen Vertreter der russischen Bourgeoisie. Trotzki verfolgt ihre rückgratlose Haltung gegenüber dem Zarenregime während einer politischen Krise, die sich aufgrund der verheerenden Niederlagen der russischen Armee im Krieg mit Japan rasch verschärft. Verächtlich beschreibt er, wie sich die liberalen Politiker mit dem Krieg abfanden:
Es reichte [den Liberalen] nicht, sich an der schmutzigen Schlächterei zu beteiligen und einen Teil der Kosten zu übernehmen – d.h. dem Volk aufzubürden. Sie begnügten sich nicht damit, ihr stillschweigendes politisches Einverständnis zu geben und das Werk des Zarismus untertänig zu vertuschen – nein, sie erklärten öffentlich ihre moralische Solidarität mit den Verantwortlichen für die größten Verbrechen … Sie reagierten auf die Kriegserklärung, indem sie der Reihe nach Loyalitätserklärungen abgaben und ihre politische Dummheit mit der formalen Rhetorik von Seminaristen zur Schau stellten …
Und was war mit der liberalen Presse? Diese erbärmliche, stammelnde, kriecherische, lügenhafte, furchtsame, verkommene und korrumpierende liberale Presse![38]
Man könnte glauben, der junge Trotzki beschreibe hier die Demokratische Partei der Vereinigten Staaten und die heutige »New York Times«. Vor über hundert Jahren verstanden Sozialisten sehr gut, wie verrottet der bürgerliche Liberalismus ist.
Trotzkis Beitrag
Die Anthologie bringt Werke glänzender Autoren zusammen. Aber die Artikel des jungen Trotzki ragen heraus. Er präsentiert mit unverwechselbarer, starker Stimme eine neue Perspektive. Bemerkenswert an diesen frühen Schriften sind ihre lebendige Sichtweise und die Art und Weise, wie sie die entstehende revolutionäre Massenbewegung der Arbeiterklasse und die elementare Kraft ihres Kampfs um die Macht artikulieren. Hier fällt der Gegensatz zu Kautskys Schriften auf. Sogar in dessen besten Arbeiten, in denen er eine revolutionäre Perspektive formuliert und verteidigt, wirkt seine Darstellung des Zusammenstoßes gegensätzlicher Klassenkräfte unbeteiligt und scheint innere Zweifel widerzuspiegeln. Er lässt – in nicht sehr überzeugender Weise – die Möglichkeit offen, es könnte der Arbeiterklasse gelingen, den Klassenfeind derart einzuschüchtern, dass er die Macht abgibt, ohne dass sie zum Mittel der Gewalt greifen muss. Er schrieb:
Eine aufsteigende Klasse muss über die notwendigen Gewaltmittel verfügen, soll sie die alte herrschende Klasse depossedieren können, aber es ist nicht unbedingt geboten, dass diese Gewaltmittel auch zur Anwendung kommen. Das Bewusstsein der Existenz solcher Mittel kann unter Umständen genügen, eine niedergehende Klasse zu friedlichem Paktieren mit dem übermächtig gewordenen Gegner zu veranlassen.[39]
Man darf natürlich nicht vergessen, dass Kautsky sich der Feindschaft bewusst war, mit der Teile der Sozialdemokratie, insbesondere die Gewerkschaften, der Vorstellung begegneten, dass die Partei an die Unvermeidlichkeit eines bewaffneten Kampfs glaube oder gar einen solchen befürworte. Er musste auch berücksichtigen, dass unbedachte Formulierungen selbst in einem theoretischen Organ dem preußischen Staat als Vorwand dienen konnten, die SPD anzugreifen. Es war bekannt, dass sich einflussreiche Kräfte an der Spitze des Staates ständig für eine blutige Unterdrückung der Sozialdemokratie stark machten. Dennoch ist offensichtlich, dass Kautsky keine klare Antwort auf das unausweichliche Problem hatte, vor dem die Arbeiterklasse in einem modernen kapitalistischen Staat stand: Wie sollte sie den Widerstand der militärischen Kräfte überwinden, die der Regierung zur Verfügung standen? In einem Artikel ging Kautsky so weit anzudeuten, dass es nicht möglich sei, eine Regierung zu besiegen, die bereit sei, sich unter Einsatz des Militärs zu verteidigen. »Das Bewusstsein der kriegstechnischen Überlegenheit lässt heute jede Regierung, welche die erforderliche Rücksichtslosigkeit besitzt, einem bewaffneten Volksaufstand ruhig entgegensehen …«[40]
Trotzki argumentierte, wie Day und Gaido bemerken, »genau umgekehrt: ein Massenstreik wird notwendigerweise zum bewaffneten Konflikt führen, wenn die Regierung auf ihn mit Schießbefehlen gegen die Streikenden reagiert«.[41] Während für Kautsky der Schießbefehl gegen Arbeiter das mögliche Ende der Revolution bedeutete, war Trotzki der Auffassung, ein solcher Befehl könnte zum Ende des Unterdrückerstaats führen. Reaktionäre neigten zum Glauben, alles was nötig sei, um eine Revolution zu besiegen, sei die Anwendung ausreichender repressiver Gewalt, schrieb Trotzki und bemerkte lakonisch:
Großherzog Wladimir, der seine Zeit in Paris damit verbrachte, nicht nur die Bordelle, sondern auch die Geschichte der Militärverwaltung während der Großen Revolution zu studieren, gelangte zum Schluss, die alte Ordnung in Frankreich hätte gerettet werden können, wenn die Regierung Ludwigs jede revolutionäre Regung ohne Zögern und Schwanken im Keim erstickt und das Volk von Paris mit einem kühnen und breit angelegten Aderlass kuriert hätte. Am 9. Januar zeigte unser hocherhabener Alkoholiker, wie dies zu bewerkstelligen sei … Kanonen, Gewehre und Munition sind hervorragende Diener der Ordnung, aber sie müssen eingesetzt werden. Zu diesem Zweck braucht man Leute. Und obwohl diese Leute Soldaten genannt werden, unterscheiden sie sich von Gewehren, weil sie fühlen und denken, was bedeutet, dass sie nicht verlässlich sind. Sie zögern, sie werden angesteckt von der Unentschlossenheit ihrer Kommandeure, und das Ergebnis ist Verwirrung und Panik in den höchsten Rängen der Bürokratie.[42]
Trotzkis erste endgültige Ausarbeitung der Theorie der permanenten Revolution, die berühmten »Ergebnisse und Perspektiven« von 1906, sind nicht in der Sammlung enthalten. Aber Day und Gaido legen mehrere Dokumente vor, anhand derer sich die Entwicklung von Trotzkis politischem Denken – von der Entlarvung des reaktionären Charakters des russischen Liberalismus bis zur Schlussfolgerung, die Logik des Klassenkampfs werde die Arbeiterklasse zwingen, die Macht zu übernehmen – verfolgen lässt. Zu diesen wichtigen vorbereitenden Arbeiten gehören Trotzkis Einleitung zu Ferdinand Lassalles »Assisen-Rede gehalten vor den Geschworenen zu Düsseldorf«, »Sozialdemokratie und Revolution« sowie das Vorwort zur russischen Ausgabe von Karl Marx’ »Pariser Kommune«. All diese Aufsätze datieren aus dem Jahr 1905, in dem Trotzki Vorsitzender des St. Petersburger Sowjets wurde und sich zum größten Redner und Führer der Massen in der ersten Russischen Revolution entwickelte.
Trotzkis »Einleitung zu Ferdinand Lassalles Rede vor den Geschworenen« ist eines seiner frühen Meisterwerke. Lassalle spielte in der deutschen Revolution von 1848 eine wichtige Rolle als Vertreter des äußersten linken Flügels der Demokraten. Nach seiner Verhaftung wegen Aufstachelung zum Aufstand gegen Preußen schrieb Lassalle eine Rede zu seiner Verteidigung. Diese Rede hielt er nie vor Gericht, aber sie wurde in schriftlicher Form tausendfach in Deutschland verteilt und hinterließ einen nachhaltigen Eindruck. Trotzki, bemerken Day und Gaido, »bewunderte offensichtlich die großartige Rhetorik von Lassalles ›Rede vor den Geschworenen‹«, und sie beeinflusste zweifellos auch die Form der nicht weniger bemerkenswerten Rede, mit der sich Trotzki 1906 nach der Niederlage der Revolution vor Gericht verteidigte.[43]
In seiner »Einleitung« zog Trotzki Lehren aus den Erfahrungen der Revolution von 1848, um deutlich zu machen, dass die russische Bourgeoisie im aktuellen Kampf gegen die zaristische Selbstherrschaft ein erbitterter Feind der Arbeiterklasse sei. Die Bourgeoisie hatte aus den Ereignissen von 1789–1795 gelernt, dass eine Revolution, so wichtig sie für ihre eigenen Interessen sein mochte, die Gefahr unbeabsichtigter Folgen barg. Je erfolgreicher sie ihre eigenen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Interessen konsolidierte, umso entschlossener trat sie den Forderungen der Massen entgegen. Im dann folgenden Konflikt trat der bis dahin verborgene Charakter der Gesellschaft ans Licht. In einer denkwürdigen Passage bezeichnet Trotzki eine revolutionäre Epoche als »Schule des politischen Materialismus«.
Sie übersetzt alle gesellschaftlichen Normen in die Sprache der Gewalt. Sie verschafft denen Einfluss, die auf die Gewalt vertrauen und die vereint, diszipliniert und zum Handeln bereit sind. Ihr mächtiges Beben treibt die Massen auf das Kampffeld und entlarvt vor ihren Augen die herrschenden Klassen – sowohl die abtretenden wie die hochkommenden. Aus diesem Grund flößt sie sowohl der Klasse, die die Macht verliert, wie der, die sie erringt, Furcht ein. Haben die Massen diesen Weg einmal beschritten, entwickeln sie ihre eigene Logik und gehen viel weiter, als es aus Sicht der bürgerlichen Neuankömmlinge erforderlich wäre. Jeder Tag bringt neue Losungen, eine radikaler als die andere, die sich so rasch verbreiten, wie das Blut im menschlichen Körper zirkuliert. Akzeptiert die Bourgeoisie die Revolution als Ausgangspunkt eines neuen Systems, beraubt sie sich jeder Möglichkeit, nach Recht und Ordnung zu rufen, um den revolutionären Ansprüchen der Massen entgegenzutreten. Das ist der Grund, weshalb ein Abkommen mit der Reaktion auf Kosten der Rechte des Volkes für die liberale Bourgeoisie ein Gebot ihrer Klasse ist.
Das gilt ebenso für ihre Haltung vor, während und nach der Revolution.[44]
Am Ende dieser sorgfältigen Untersuchung des Verrats der deutschen Bourgeoisie an der demokratischen Revolution von 1848 zog Trotzki die politische Schlussfolgerung, ein halbes Jahrhundert später sei es noch unwahrscheinlicher, dass die Bourgeoisie eine progressive Rolle spielen werde. Die seitherige globale Entwicklung des Kapitalismus habe die russische Bourgeoisie in ein System der Weltherrschaft und der weltweiten ökonomischen Ausbeutung einbezogen. An dieser Stelle macht Trotzki auf einen neuen und entscheidenden Faktor für die Entwicklung der Russischen Revolution aufmerksam:
Indem er allen Ländern seine eigene Wirtschaftsweise und seine eigenen Verhältnisse aufzwingt, hat der Kapitalismus die Welt in einen einzigen wirtschaftlichen und politischen Organismus verwandelt. So wie der moderne Kredit Tausende von Unternehmen durch einen unsichtbaren Faden miteinander verbindet und dem Kapital erstaunliche Mobilität verleiht, dabei unzählige kleine und partielle Krisen beseitigt und gleichzeitig allgemeine Wirtschaftskrisen unvergleichlich ernster macht, hat die wirtschaftliche und politische Funktionsfähigkeit des Kapitalismus mit seinem Welthandel, seinem System monströser Staatsverschuldung und internationaler politischer Bündnisse, die alle reaktionären Kräfte der Welt unter einem Dach vereinen, allen politischen Teilkrisen standgehalten und gleichzeitig die Voraussetzungen für eine gesellschaftliche Krise nie dagewesenen Ausmaßes geschaffen. Indem sie alle Krankheitssymptome verinnerlicht, den Schwierigkeiten ausweicht, die grundlegenden Fragen der Innen- und Außenpolitik beiseiteschiebt und alle Widersprüche verdeckt, hat die Bourgeoisie die Lösung aufgeschoben und gleichzeitig die radikale, weltweite Abschaffung ihrer Vorherrschaft vorbereitet. Sie hat sich begierig an jede reaktionäre Macht geklammert, ohne nach ihrem Ursprung zu fragen …
Diese Tatsache verleiht allen Ereignissen, die sich gegenwärtig entwickeln, von Anfang an einen internationalen Charakter und eröffnet großartige Aussichten. Die politische Emanzipation, geführt von der russischen Arbeiterklasse, hebt letztere auf eine historisch beispiellose Höhe, verleiht ihr kolossale Mittel und Ressourcen und macht sie zum Initiator der weltweiten Abschaffung des Kapitalismus, für die die Geschichte alle objektiven Voraussetzungen geschaffen hat.[45]
Diese Absätze weisen Trotzki als kommenden Strategen der sozialistischen Weltrevolution aus.
Unter den Auswirkungen des monumentalen Streiks vom Oktober 1905 und der Gründung des St. Petersburger Sowjets bemühten sich die fortschrittlichsten sozialistischen Denker, die politische Formel zu finden, die den krassen Widerspruch zwischen der wirtschaftlichen Rückständigkeit Russlands – das nach konventioneller marxistischer Auffassung nicht reif für die sozialistische Revolution war – und der unabweisbaren Realität, dass die Arbeiterklasse die entscheidende Kraft in der sich entfaltenden Revolution war, überwinden konnte. Wohin führte die Revolution? Was konnte die Arbeiterklasse erreichen?
Parvus riet im November 1905:
Das unmittelbare Ziel des russischen Proletariats besteht darin, ein Staatssystem zu errichten, das die Forderungen nach Arbeiterdemokratie erfüllen kann. Die Arbeiterdemokratie schließt die weitestgehenden Forderungen der bürgerlichen Demokratie mit ein, verleiht aber einigen von ihnen einen besonderen Charakter und umfasst auch neue Forderungen, die strikt proletarisch sind.[46]
Die russische Revolution, erklärte er, »schafft eine besondere Verbindung zwischen dem Minimalprogramm der Sozialdemokratie und ihrem Endziel«, und fuhr fort:
Das bedeutet nicht die Diktatur des Proletariats, deren Aufgabe die grundlegende Umwandlung der Produktionsverhältnisse im Lande ist, dennoch geht sie bereits über die bürgerliche Demokratie hinaus. Wir sind in Russland noch nicht für die Aufgabe bereit, die bürgerliche Revolution in eine sozialistische Revolution zu verwandeln, aber wir sind ebenso wenig bereit, uns einer bürgerlichen Revolution unterzuordnen. Dies würde nicht nur den Grundvoraussetzungen unseres Programms widersprechen, auch der Klassenkampf des Proletariats treibt uns vorwärts. Wir haben die Aufgabe, die Grenzen der bürgerlichen Revolution zu erweitern, indem wir die Interessen des Proletariats in sie einschließen und im Rahmen der bürgerlichen Verfassung die größtmöglichen Gelegenheiten für einen sozialrevolutionären Aufstand schaffen.[47]
Selbst Parvus schien vor dem Problem zurückzuweichen, das die Rückständigkeit der russischen Wirtschaft und die politische Dynamik der Arbeiterklasse aufwarfen.
Einen Monat später, in seinem Vorwort zu Marx’ Rede über die Pariser Kommune, erklärte Trotzki, dass es eine Lösung für dieses Problem gebe. Man müsse nur verstehen, dass zwischen dem Entwicklungsstand der Produktivkräfte in einem bestimmten Land und der Fähigkeit seiner Arbeiterklasse, die Macht zu erobern, keine formale, mechanische Beziehung bestehe. Die revolutionäre Partei müsse auch andere Faktoren berücksichtigen, wie »die Beziehungen im Klassenkampf, die internationale Lage und schließlich eine Reihe subjektiver Faktoren wie Tradition, Initiative und Kampfbereitschaft«.[48] Welcher Schluss ergab sich aus dieser Einsicht? Trotzki antwortete: »In einem rückständigen Land kann das Proletariat früher an die Macht gelangen als in einem hochentwickelten kapitalistischen Land.«[49] Ein halbes Jahrhundert sozioökonomischer Entwicklung, Jahrzehnte theoretischer Arbeit und die Erfahrung einer Revolution waren nötig, um zu dieser Schlussfolgerung zu gelangen.
Trotzki hatte zu diesem Zeitpunkt die Grundzüge seiner Theorie der permanenten Revolution bereits ausgearbeitet. Passagen aus seiner Einleitung zu Lassalles Verteidigungsrede und aus seinem Vorwort zu Marx’ Rede über die Pariser Kommune finden sich in »Ergebnisse und Perspektiven« wieder. Bei der Arbeit an diesem wichtigen Werk fand er aber weiterhin Unterstützung und Inspiration in den Schriften Kautskys.
Kautskys Analyse des amerikanischen Klassenkampfs
Zu den wichtigsten Dokumenten in Day und Gaidos Anthologie gehört ein kaum bekannter Artikel Kautskys vom Februar 1906, »Der amerikanische Arbeiter«. Es handelt sich um die Antwort auf eine Studie, die der deutsche Soziologe Werner Sombart (1863–1941) über die amerikanische Gesellschaft verfasst hatte und die den Titel trug: »Warum gibt es in den Vereinigten Staaten keinen Sozialismus?« Das war eine wichtige Frage von unverkennbarer politischer Bedeutung: Welche Zukunft hatte der Sozialismus, wenn er in der Arbeiterklasse des fortgeschrittensten kapitalistischen Landes keinen Masseneinfluss gewinnen konnte? Sie warf zudem ein wichtiges theoretisches Problem auf. Wie ließ sich im Rahmen der marxistischen Theorie das Paradox erklären, dass der Sozialismus in den Vereinigten Staaten, dem am weitesten entwickelten kapitalistischen Land, nur schwer Fuß fasste, während er in Russland, wo der Kapitalismus mit am geringsten entwickelt war, in großem Tempo Unterstützung gewann? Wie war dieses Paradox zu erklären? Es warf noch eine weitere Frage auf. Wenn, wie Marx angedeutet hatte, die fortgeschrittenen Länder den weniger entwickelten das Muster ihrer zukünftigen Entwicklung zeigten, welche Schlussfolgerungen ergaben sich dann aus dem »nicht-sozialistischen« Entwicklungsmuster des mächtigsten und am weitesten entwickelten Landes der Welt? Sombart gab eine höchst konservative Antwort, er behauptete, die Vereinigten Staaten zeigten Europa seine Zukunft.
Kautsky erhob Einwände. Sombarts Behauptung, schrieb er, könne nur »mit Einschränkung« akzeptiert werden. Der Soziologe beging den Irrtum, die amerikanischen Verhältnisse einseitig aus einer komplexen Gesamtheit wirtschaftlicher, sozialer und politischer Beziehungen zu abstrahieren, die sich auf der Grundlage der globalen Entwicklung des Kapitalismus herausgebildet hatten. Sombart hatte nicht erkannt, dass das Entwicklungsmuster von England, mit dem Marx am besten vertraut war, sich in anderen Ländern nicht einfach wiederholt hatte. England besaß zu Marx’ Zeiten die höchstentwickelte Industrie. Der Fortschritt des Industriekapitalismus erzeugte Gegentendenzen in Form des Widerstands und der Organisationen des Proletariats. So entstanden in England der Chartismus und später die Gewerkschaften und die Sozialgesetzgebung. Aber diese Entwicklung, die vom Wechselspiel zwischen der kapitalistischen Entwicklung und dem Widerstand der Arbeiterklasse geprägt war, schuf kein allgemeingültiges »Muster«:
Kautsky erklärte:
Heute gibt es eine ganze Reihe von Ländern, in denen das Kapital das ganze ökonomische Leben beherrscht; aber keines hat alle Seiten der kapitalistischen Produktionsweise in gleichem Maße entwickelt. Namentlich sind es zwei Staaten, die als Extreme einander gegenüberstehen, von denen jeder ein anderes der beiden Elemente dieser Produktionsweise unverhältnismäßig stark, das heißt mehr, als der Höhe seiner Entwicklung entspricht, zur Geltung kommen sieht: Amerika die Klasse der Kapitalisten, Russland die der Proletarier.[50]
Welches Land zeigte dann Deutschland seine Zukunft? Auf diese Frage antwortet Kautsky:
Deutschlands Ökonomie steht am nächsten der amerikanischen. Deutschlands Politik am nächsten der russischen. So zeigen uns auch beide Länder unsere Zukunft; sie wird halb amerikanischen, halb russischen Charakters sein. Je mehr wir Russland und Amerika studieren, je besser wir beide begreifen, desto klarer werden wir auch unsere eigene Zukunft verstehen. Das amerikanische Beispiel allein wäre ebenso irreführend wie das russische.
Es ist allerdings eine eigentümliche Erscheinung, dass gerade das Proletariat Russlands uns unsere Zukunft zeigen sollte, soweit sie nicht in der Organisation des Kapitals, sondern in der Empörung der Arbeiterklasse ihren Ausdruck findet; ist doch Russland unter allen großen Staaten der kapitalistischen Welt der rückständigste. Es scheint das in Widerspruch zu der materialistischen Geschichtsauffassung zu stehen, wonach die ökonomische Entwicklung die Grundlage der politischen bildet. Aber es steht bloß im Widerspruch zu jener Art materialistischer Geschichtsauffassung, die unsere Gegner und Kritiker vorführen, die unter ihr eine fertige Schablone verstehen, nicht eine Methode der Forschung. Sie lehnen die materialistische Geschichtsauffassung ab, weil sie unfähig sind, sie zu begreifen und fruchtbringend zu handhaben.[51]
Es ist nicht möglich, Kautskys Erklärung der Besonderheit der politischen Entwicklung Amerikas zu untersuchen, ohne diese Besprechung erheblich zu verlängern. Es sei hier lediglich angemerkt, dass Kautsky eine höchst aufschlussreiche Analyse der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umstände liefert, die es dem Sozialismus außerordentlich erschwerten, in Amerika ebensolche Fortschritte zu machen wie in Europa. Zu den Faktoren, auf die er verweist, gehört die Korruption eines beträchtlichen Teils der Intellektuellen durch den großen Reichtum des amerikanischen Kapitalismus, die diese gegenüber den politischen und sozialen Bedürfnissen der Arbeiterklasse gleichgültig machte. Dennoch, schloss Kautsky, werde der Sozialismus in den Vereinigten Staaten schließlich trotz vieler Hindernisse zu einer bedeutenden Kraft werden.
Kautskys »Der amerikanische Arbeiter« übte großen Einfluss auf Trotzki aus, wie er in »Ergebnisse und Perspektiven« ausdrücklich anerkannte. Er nahm in seinen Artikel Passagen aus dem oben zitierten Absatz auf. Trotzki leugnete nie, wieviel er und andere seiner Generation Kautsky verdankten. Trotzki vergab Kautsky seinen späteren Verrat nicht, aber er sah keine Notwendigkeit, seine Errungenschaften herabzuwürdigen oder gar zu leugnen. Trotzki gedachte Kautskys anlässlich dessen Todes 1938 »als unseres alten Lehrers, dem wir seinerzeit viel zu verdanken hatten, der sich aber von der proletarischen Revolution lossagte und von dem wir uns folglich lossagen mussten«.[52]
Kautskys wichtiger Beitrag zur Ausarbeitung der Theorie der permanenten Revolution durch Trotzki muss auch deshalb hervorgehoben werden, weil die kleinbürgerliche antimarxistische Linke so viel Papier vergeudet hat, um das theoretische Erbe des Sozialismus zu diskreditieren, bei dessen Ausarbeitung Kautsky eine maßgebliche Rolle spielte. Die Angriffe der Frankfurter Schule auf Kautskys Gesamtwerk, die von verschiedenen Spielarten des kleinbürgerlichen Radikalismus weiter verschärft wurden, waren ein Angriff von rechts. Sie richteten sich nicht gegen die Schwächen der Sozialdemokratie vor 1914, sondern gegen deren größte Stärke: die Tatsache, dass sie sich auf die Arbeiterklasse stützte und sich um deren politische und kulturelle Bildung bemühte. Das Studium der Schriften Kautskys, die entstanden, bevor er dem politischen Druck nachgab, der vor 1914 auf der Sozialdemokratie lastete, ermöglicht ein tieferes Verständnis der Entwicklung des marxistischen Denkens, einschließlich des Denkens von Lenin und Trotzki. Die Worte, mit denen Day und Gaido ihre Einführung zu diesem großartigen Band abschließen, verdienen daher volle Unterstützung:
Die Theorie der permanenten Revolution stand jahrzehntelang im Brennpunkt der Auseinandersetzungen zwischen Trotzkis Anhängern und seinen Kritikern und zwischen Geschichtswissenschaftlern. Aber vor dem Urteil der Geschichte gebieten Fairness und Anstand, dass die Beteiligten die uneingeschränkte Gelegenheit erhalten, für sich selbst zu sprechen. Trotzki verstand das sehr gut, als er über Kautsky urteilte.[53]
Zwischen 1903 und 1907 machte das marxistische Verständnis von Politik und Gesellschaft eine rasante Entwicklung durch. Das Studium dieser Dokumente führt uns in eine Zeit zurück, in der das politische Denken unvergleichlich höher stand als heute. Diese Rezension kann trotz ihres Umfangs nur einen flüchtigen Einblick in die Schätze vermitteln, die in »Zeugen der permanenten Revolution« zusammengetragen sind. Es ist unvermeidlich, dass derart komplexe und umfassende Dokumente, wie sie in dieser Anthologie vorgestellt werden, verschieden interpretiert werden. Ich habe einige Bereiche aufgezeigt, in denen ich mit dem Urteil von Richard Day und Daniel Gaido nicht übereinstimme. Aber dies mindert nicht im Geringsten meine Wertschätzung für ihren wichtigen Beitrag zur Wiederbelebung des Interesses an der Entwicklung der revolutionären Theorie im 20. Jahrhundert, die sicherlich viele Sozialisten teilen.
Richard B. Day, Leon Trotsky and the Politics of Economic Isolation, Cambridge 1973.
Evgeny A. Preobrazhensky, The Decline of Capitalism, Richard B. Day (Hrsg.), Armonk/New York 1985.
Daniel Gaido, The Formative Period of American Capitalism: A Materialist Explanation, New York und London 2006.
Leo Trotzki, »Der neue Kurs«, in: Schriften 3, Linke Opposition und IV. Internationale, Bd. 3.1, Hamburg 1997, S. 259f.
Karl Marx, »Zur Judenfrage«, MEW, Bd. 1, Berlin 1976, S. 357.
Karl Marx/Friedrich Engels, »Ansprache der Zentralbehörde an den Bund vom März 1850«, in: MEW, Bd. 7, Berlin 1960, S. 247–248 (Hervorhebung hinzugefügt).
Ebd., S. 247.
Ebd., S. 254.
Der Artikel erschien ursprünglich russisch in der Zeitschrift »Iskra« Nr. 8, 10. März 1902. Deutsche Übersetzung in: Märzfeier 1902, Festschrift der Wiener Volksbuchhandlung Ignaz Brand zum Gedenktag der Revolution von 1848.
Karl Kautsky, »Wie weit ist das ›Kommunistische Manifest‹ veraltet?«, in: Leipziger Volkszeitung, 27. Juli 1904, Nr. 172.
Witnesses to Permanent Revolution, S. 569 (aus dem Englischen).
Ebd. (aus dem Englischen).
Karl Kautsky, »Allerhand Revolutionäres«, in: Die Neue Zeit, Jg. 22 (1903–1904), Bd. 1 (1904), H. 21, S. 655f.
Karl Kautsky, Die Klassengegensätze im Zeitalter der Französischen Revolution, Stuttgart 1908, S. 53.
Karl Kautsky, »Der amerikanische Arbeiter«, in: Die Neue Zeit, Jg. 24 (1905–1906), Bd. 1 (1906), H. 23, S. 740, 743.
Zitiert in: Cora Stephan (Hrsg.), Zwischen den Stühlen oder über die Unvereinbarkeit von Theorie und Praxis: Schriften Rudolf Hilferdings 1904 bis 1940, Berlin/Bonn 1982, S. 90.
Karl Kautsky, »Die Folgen des japanischen Sieges und die Sozialdemokratie«, in: Die Neue Zeit, Jg. 23 (1904–1905), Bd. 2 (1905), H. 41, S. 462.
Ebd., H. 43, S. 537.
»Referat Theodor Bömelburgs, Vorsitzender des Bauarbeiterverbandes, zur Frage ›Die Stellung der Gewerkschaften zum Generalsteik‹«, in: Die Massenstreikdebatte, Antonia Grunenberg (Hrsg.), Frankfurt 1970, S. 353.
»Auszug einer Rede von Karl Legien auf dem Mannheimer Parteitag der SPD«, in: ebd., S. 396.
Leon Trotsky, »The Case of Comrade Ryazanov«, in: Writings of Leon Trotsky [1930–1931], New York 1973, S. 197 (aus dem Englischen).
Witnesses to Permanent Revolution, S. 70 (aus dem Englischen).
Ebd., S. 133–134 (aus dem Englischen).
Ebd., S. 121–122 (aus dem Englischen).
Lenin, »Was tun?«, in: Werke, Bd. 5, Berlin 1959, S. 395.
Witnesses to Permanent Revolution, S. 70.
Ebd., S. 473 (aus dem Englischen).
Leo Trotzki, »Drei Konzeptionen der russischen Revolution«, in: Stalin: Eine Biographie, Essen 2001, S. 474.
W.I. Lenin, »Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution«, in: Werke, Bd. 9, S. 44.
Leo Trotzki, »Drei Konzeptionen der russischen Revolution«, in: Stalin: Eine Biographie, Essen 2001, S. 475.
Witnesses to Permanent Revolution, S. 257 (aus dem Englischen).
W.I. Lenin, »Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution«, in: Werke, Bd. 9, S. 35.
Leo Trotzki, Mein Leben, Frankfurt 1974, S. 150.
Witnesses to Permanent Revolution, S. 261 (aus dem Englischen).
Ebd. (aus dem Englischen).
Ebd., S. 267 (aus dem Englischen).
Ebd., S. 267f. (aus dem Englischen).
Ebd., S. 282f. (aus dem Englischen).
Karl Kautsky, »Allerhand Revolutionäres«, in: Die Neue Zeit, Jg. 22, (1903–1904), Bd. 1 (1904), S. 739.
Ebd., S. 694.
Witnesses to Permanent Revolution, S. 334 (aus dem Englischen).
Ebd., S. 347 (aus dem Englischen).
Ebd., S. 411 (aus dem Englischen).
Ebd., S. 416 (aus dem Englischen).
Ebd., S. 444f. (aus dem Englischen).
Ebd., S. 493 (aus dem Englischen).
Ebd., Hervorhebung hinzugefügt (aus dem Englischen).
Ebd., S. 502 (aus dem Englischen).
Ebd. (aus dem Englischen).
Karl Kautsky, »Der amerikanische Arbeiter«, in: Die Neue Zeit, Jg. 24, (1905–1906), Bd. 1 (1906), H. 21, S. 677.
Ebd.
Leo Trotzki, »Karl Kautsky«, in: Schriften über Deutschland, Bd. II, Frankfurt 1971, S. 751.
Witnesses to Permanent Revolution, S. 58 (aus dem Englischen).