David North
Die Russische Revolution und das unvollendete Zwanzigste Jahrhundert

Geschichte als Propaganda: Intellektuelle in der Ukraine-Krise

Veröffentlicht am 16. Mai 2014 auf der »World Socialist Web Site«.

Am kommenden Wochenende (16.–19. Mai 2014) kommen in Kiew politisch rechts stehende Wissenschaftler, Journalisten, kriegsfreundliche Menschenrechtsaktivisten und »Diskursspezialisten« zusammen. Unter der Leitung von Professor Timothy Snyder von der Yale University und von Leon Wieseltier, dem neokonservativen Herausgeber des Magazins »The New Republic«, wollen sie das politische und moralische Ansehen der neuen ukrainischen Regierung aufpolieren – verdankt sie ihre Machtübernahme im Februar doch einem Putsch, der von den USA und Deutschland finanziert und gesteuert wurde.

Die Organisatoren, die sich als »internationale Gruppe von Intellektuellen« promoten, haben einen Werbetext – Entschuldigung, ein »Manifest« – verfasst. Darin bezeichnen sie ihre Konferenz als »Begegnung von Menschen, denen Freiheit etwas bedeutet, mit einem Land, in dem die Freiheit teuer erkämpft wurde«.[1] Darin steckt ein wahrer Kern, denn der Sturz der Janukowitsch-Regierung hat die USA tatsächlich eine Menge Geld gekostet.

Die Konferenz ist eine Propagandaveranstaltung für den Imperialismus. Sie wird von den Botschaften Kanadas, Frankreichs, Deutschlands, Polens und der USA unterstützt. Weitere Partner sind das Außenministerium der Ukraine, der Europäische Demokratiefonds und die Eurozine-Gesellschaft. Auf der Website von »Eurozine«, auf der die Konferenz in Kiew stark beworben wird, finden sich zahlreiche Beiträge zu den geostrategischen Folgen des Staatsstreichs in der Ukraine. Typisch für die prominent platzierten Artikel ist ein Essay mit dem Titel »Wie man den Zweiten Kalten Krieg gewinnt«. Der Verfasser, Wladislaw Inosemzew, ist zurzeit Gastwissenschaftler beim Center for Strategic and International Studies in Washington.

Früher, in den 1960er Jahren, waren Intellektuelle, die während des Kalten Kriegs am antikommunistischen »Kongress für kulturelle Freiheit« mitgewirkt hatten, etwas verstört, als herauskam, dass diese Organisation in die Machenschaften der Central Intelligence Agency verstrickt war. Damals sah man seinen Ruf als Kulturschaffender und moralische Instanz gefährdet, wenn eine Zusammenarbeit mit der CIA und anderen Geheimdiensten bekannt wurde. Das war einmal! Die Teilnehmer der Kiewer Konferenz irritiert es nicht im Geringsten, dass ihre Veranstaltung ganz offen von Regierungen gesponsert wird, die tief in den Sturz der Janukowitsch-Regierung verwickelt waren.

Die Veranstaltung ist ein einziger Betrug und reine Heuchelei. Hinter dem Gerede über demokratischen »Diskurs« verbirgt sich die Ausarbeitung einer völlig reaktionären Politik. Jeder Satz des Manifests ist eine Chiffre, deren wahre Bedeutung entschlüsselt werden muss.

So heißt es, die Konferenz werde »eine breite öffentliche Diskussion über die Bedeutung des ukrainischen Pluralismus für die Zukunft Europas, Russlands und der Welt« führen. Im Klartext: Es soll untersucht werden, inwieweit der Putsch in der Ukraine als Vorbild für weitere Operationen dienen kann, die den Einfluss Russlands in Europa und Eurasien schwächen.

Außerdem werden folgende Themen angekündigt:

1. »Wie können Menschenrechte begründet werden und wie wirken Menschenrechte als Motivation?« [Im Klartext: »Wie kann der ›Diskurs‹ über Menschenrechte vorgeschoben werden, um unliebsame Regierungen zu destabilisieren und zu stürzen?«]

2. »Wie und wann bietet Sprache Zugang zum Universellen, und wie und wann werden damit politische Unterschiede definiert?« [Im Klartext: »Wie können die materiellen Interessen, die gesellschaftlichen Konflikten zugrunde liegen, durch demokratische Sprüche verschleiert werden?«]

3. »Wie ist angesichts von Anarchie auf internationaler Ebene, Korruption im Inneren und der allgemeinen Fehlbarkeit von Individuen eine ehrliche Politik möglich?« [Im Klartext: »Weshalb ›Grenzüberschreitungen‹, d.h. Folter, Mordkommandos, autoritäre Herrschaftsformen, Krieg usw. aufgrund der geopolitischen Realitäten unserer Zeit gerechtfertigt sind.«][2]

Die Beschäftigung mit diesen Themen wird den Diskutanten Gelegenheit bieten, bei minimalem Verbrauch geistiger Energie eine Menge heiße Luft zu erzeugen. Nicht vorgesehen ist hingegen die Auseinandersetzung mit dem Vorgehen der Kiewer Regierung gegen die Bevölkerung in der Süd- und Ostukraine, die zu Dutzenden, wenn nicht Hunderten Todesopfern geführt hat. Auch die maßgebliche Beteiligung der Neofaschisten von Swoboda und dem Rechten Sektor an dem Putsch im Februar und an der Einsetzung der jetzigen Regierung soll weder untersucht noch erklärt werden.

Unter den bekanntesten Teilnehmern der Konferenz, die in aller Eile zusammengesucht wurden, finden sich die »üblichen Verdächtigen«, denen man immer wieder begegnet, wenn unter der falschen Flagge der Menschenrechte für imperialistische Interventionen geworben wird. Sie sind darauf spezialisiert, politische Verbrechen ihrer Staaten in moralischer Verpackung an den Mann zu bringen. Seit jeher mussten die »Menschenrechte« herhalten, um den Imperialismus zu legitimieren. Selbst der belgische König Leopold II., der in den 1880er Jahren im Kongo Millionen Menschen ermorden ließ, berief sich auf die »materielle und moralische Regeneration« seiner wehrlosen Opfer. John Hobson, einer der ersten großen Gelehrten, die den Imperialismus untersuchten, wies schon vor mehr als 100 Jahren darauf hin, dass die Moral in heuchlerischer Weise vorgeschoben wird, um die wirklichen Beweggründe imperialistischer Politik zu verschleiern. Er schrieb:

In dieser Verfälschung des wirklichen Gewichts von Motiven liegt das schlimmste Laster und die furchtbarste Gefahr des Imperialismus. Die ethische Währung einer Nation wird verschlechtert, wenn aus einem Gemisch von Motiven das schwächste [d.h. »Menschenrechte« und/oder »Demokratie«] ausgewählt und öffentlich hervorgehoben wird, weil es sich noch am ehesten sehen lassen kann; wenn Punkte einer Politik als Hauptursache behandelt werden, die denen, welche die Politik formulieren, überhaupt nicht vorschwebten. Die ganze Politik des Imperialismus ist von dieser Irreführung durchsetzt.

Zu den Konferenzteilnehmern zählt Leon Wieseltier, der im Komitee für die Befreiung des Irak eine führende Rolle spielte und eng mit dem »Project for the New American Century« (Projekt für das neue amerikanische Jahrhundert) verbandelt ist. Ein weiterer Teilnehmer ist Paul Berman, der als liberaler politischer Theoretiker für die Bombardierung Serbiens durch die USA (zur Unterstützung des kosovarischen Separatismus) eintrat und nach den Anschlägen vom 11. September 2001 die Kriege der USA im Nahen Osten und Zentralasien als Kampf gegen den islamischen Faschismus rechtfertigte. Der für Sonntagabend geplante Vortrag Bermans mit dem Titel »Alexis de Tocqueville und die Idee der Demokratie« wird Oleg Tjagnibok und seine Anhänger in der Swoboda-Partei sicher erleuchten!

Auch Bernard Kouchner darf natürlich nicht fehlen. Kouchner war vor vielen Jahrzehnten bei »Ärzte ohne Grenzen« aktiv gewesen, hatte sich dann wegen taktischer Fragen mit dieser Organisation überworfen und die »Ärzte der Welt« gegründet, um sich für handfestere »humanitäre Interventionen« stark zu machen. Auf dieser Grundlage wurden, wie Hobson vorhergesehen hätte, zahllose Vorwände für militärische Interventionen in verschiedenen Ländern abgesegnet. Kouchner setzte sich für die Intervention auf dem Balkan ein. Schließlich wurde er Außenminister in der Regierung des französischen Präsidenten Sarkozy. Nach seinem Ausscheiden aus dessen Kabinett im Jahr 2011 unterstützte er Sarkozys Angriff auf Libyen und den französischen Einmarsch in der Elfenbeinküste. Dieser Reaktionär und Verteidiger des französischen Imperialismus beteiligt sich an einer ­Podiumsdiskussion zum Thema: »Braucht Europa eine ukrainische Revolution?«

Timothy Snyder und Bernard Kouchner, 2. März 2015 (Stefan Röhl, CC BY-SA 2.0)

Kouchners Landsmann, der Starphilosoph Bernard-Henri Lévy, ein weiterer Befürworter humanitärer Interventionen, hält eine Rede gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin. Sie trägt den Titel: »Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Putin«. Dieser anmaßende Missbrauch des Titels von Bertolt Brechts bitterernster Theaterparabel (»Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui«) ist typisch für Lévy. Er weiß, dass er ungestraft gegen Putin wettern kann. Weitaus mehr Mut – zumindest mehr, als Lévy besitzt – bräuchte es, die Verbrechen Obamas zu verurteilen. Brechts Werk ist eine beißende Satire auf den Aufstieg Hitlers. Brecht siedelte seine Parabel bewusst in Chicago an, um Parallelen zwischen dem Gangstermilieu in einem kapitalistischen Umfeld und der Nazipartei aufzuzeigen. Die eindringlichen Schlussworte sollten das amerikanische Publikum aufrütteln: »So was hätte einmal fast die Welt regiert! Die Völker wurden seiner Herr, jedoch dass keiner uns zu früh da triumphiert – Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch!« Diese Warnung Brechts ist heute wieder hoch aktuell.

Lévy hat seinen Ruf als Persönlichkeit des französischen Geisteslebens völlig ruiniert. Im Jahr 2010 veröffentlichte er einen Aufsatz gegen Kant und die Aufklärung. Dabei berief er sich auf einen gewissen »Jean-Baptiste Botul«, dessen philosophisches Werk sein Interesse geweckt hatte. Leider war Lévy entgangen, dass »Botul« und sein Gedankensystem, der »Botulismus«, rein fiktive Geschöpfe des französischen Journalisten Frédéric Pagès waren. Lévy hatte sich zum Gespött gemacht, und ein gallischer Witzbold brachte die Weltanschauung des für seine Haartracht berühmten Denkers auf den Punkt: »Gott ist tot, aber meine Frisur sitzt perfekt.« Alles Wissenswerte über die Ideen von BHL, wie er sich selbst nennt, findet der interessierte Leser in seinem knappen Wikipedia-Eintrag.

Professor Snyders »Bloodlands«

Während Lévy also eher für die komische Seite der Tagung zuständig ist, lässt die Anwesenheit und führende Rolle von Professor Timothy Snyder auf düstere Absichten schließen. Seinen rasanten Aufstieg zu Berühmtheit verdankt Snyder seinen emsigen Bemühungen um eine pseudowissenschaftliche Begründung für das Bestreben der USA, die Ukraine ihrem Einflussbereich einzuverleiben und zugleich Russland als Erzfeind der humanen demokratischen Anliegen zu verteufeln, die Snyder zufolge von den USA und Europa gefördert werden.

Das Buch, das Snyder in stratosphärische Höhen des akademischen Ruhms trug, trägt den Titel: »Bloodlands: Europa zwischen Hitler und Stalin«. Unmittelbar nach seinem Erscheinen im Jahr 2010 wurde es in den Massenmedien als Meisterwerk gepriesen. Zahllose Zeitungen brachten Rezensionen, in denen Snyder gefeiert wurde, als sei er der neue Thukydides. Und er kostete das alles weidlich aus. In der Taschenbuchausgabe, die 2012 herauskam, sind die ersten 14 Seiten ausschließlich Zitaten aus den Lobreden seiner Rezensenten vorbehalten.

Was sollte der ganze Rummel? Snyders Buch erschien im Anschluss an die Orangene Revolution von 2004–2005 in der Ukraine. Nach Massenprotesten gegen mutmaßliche Wahlfälschungen durch Anhänger Wiktor Janukowitschs hatte der von den USA unterstützte Wiktor Juschtschenko das Präsidentenamt übernommen. Um seine Machtstellung zu befestigen, appellierte Juschtschenko an den rechten ukrainischen Chauvinismus. Ein wesentlicher Bestandteil dieser reaktionären Stimmungsmache gegen Russland war die Gleichsetzung der sowjetischen Kollektivierung in den 1930er Jahren, die zu einer Hungerkatastrophe mit etwa 3,5 Millionen Toten führte, mit der systematischen Vernichtung der europäischen Juden durch die Nazis. Genau wie der »Holocaust« ein gezielter Massenmord an den Juden war, so Juschtschenko, sei auch der »Holodomor« (Hungertod) ein von der Sowjetunion geplanter und verübter Völkermord an den Ukrainern gewesen.

Die Erhebung des Holodomor zum Symbol der Unterjochung der Ukraine durch die Sowjetunion (und Russland) leistete in Sachen politischer Brandstiftung gute Dienste. Die Gleichsetzung von zwei völlig unterschiedlichen Ereignissen, der ukrainischen Hungersnot und des Holocaust, lieferte der ukrainischen Rechten einen wirkungsmächtigen Mythos und dem US-Imperialismus eine Propagandakeule, um antirussische Stimmungen anzufachen.

Juschtschenko wurde 2010 abgewählt. Eine seiner letzten Amtshandlungen bestand darin, dass er den berüchtigten ukrainischen Nationalisten und Faschisten Stepan Bandera (1909–1959), der mit dem Dritten Reich kollaboriert und sich am Massenmord an Juden und Polen beteiligt hatte, zum »Helden der Ukraine« ausrief. Dies stieß in weiten Kreisen auf Protest, auch der Oberrabbiner der Ukraine verwahrte sich dagegen. In Anbetracht seiner späteren Schriften verwundert es, dass auch Timothy Snyder damals Einspruch erhob. In einem Beitrag, der am 24. Februar 2010 in der »New York Review of Books« erschien, stellte er Juschtschenkos Handeln infrage. Snyder fasste die Verbrechen Banderas und der von ihm geführten Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN-B) in knapper Form zusammen:

Die Deutschen zerstörten 1939 Polen, wie die ukrainischen Nationalisten gehofft hatten, und 1941 versuchten sie die Sowjetunion zu zerstören. Als die Wehrmacht im Juni jenes Jahres in der Sowjetunion einmarschierte, schlossen sich die Armeen Ungarns, Rumäniens, Italiens und der Slowakei ihnen ebenso an wie kleine Verbände ukrainischer Freiwilliger, die der OUN-B angehörten. Ukrainische Nationalisten halfen den Deutschen bei ihren Mordpogromen gegen die Juden. Damit vertraten sie die Politik der Deutschen, die allerdings mit ihrem eigenen Programm, nämlich der völkischen Reinheit und der Gleichsetzung von Juden und Sowjettyrannei, übereinstimmte.[4]

Snyder schilderte das Vorgehen der Ukrainischen Aufständischen Armee (UPA), die unter dem Befehl der OUN-B stand.

Auf deren Kommando hin setzte sich die UPA 1943 und 1944 die ethnische Säuberung der Westukraine von Polen zum Ziel. Partisanen der UPA ermordeten Zehntausende Polen, zumeist Frauen und Kinder. Auch Juden, die bei polnischen Familien Unterschlupf gefunden hatten, wurden getötet. Die Polen (und wenigen Juden), die überlebten, flohen aus den von der UPA beherrschten ländlichen Gebieten in die Städte, die sich in der Hand der Deutschen befanden.[5]

Nach der Kapitulation der Nationalsozialisten sahen sich die Sowjetunion und Polen (das nun von der stalinistischen Partei regiert wurde) dem fortgesetzten Widerstand der OUN gegenüber, die Unterstützung aus den USA erhielt. In den Kämpfen, die bis in die 1950er Jahre hinein anhielten, kamen Tausende ums Leben. In der Sprache der Sowjetunion und Polens bestand die OUN aus »deutsch-ukrainischen Faschisten«, und diese Bezeichnung war, wie Snyder zugab, »so zutreffend, dass sie sowohl innerhalb als auch außerhalb der Sowjetunion eine dauerhafte und wirksame Propaganda ermöglichte«. Zu Bandera hielt Snyder fest: »Er blieb der Idee einer faschistischen Ukraine treu, bis er 1959 vom KGB (der sowjetischen Geheimpolizei) ermordet wurde.«[6]

Den Zusammenhang zwischen der Ehrung Banderas und der ukrainischen Politik beschrieb Snyder mit den Worten:

Juschtschenko erlitt in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen eine deutliche Niederlage, was unter anderem daran liegen mag, dass sich weitaus mehr Ukrainer mit der Roten Armee als mit den nationalistischen Partisanen aus der Westukraine identifizieren. Nach Banderas Ernennung zum Helden wurde in Odessa eine Bandera-Figur verbrannt, und selbst in der westukrainischen Stadt Lwiw musste sein Denkmal, das die Stadtverwaltung 2007 aufgestellt hatte, während der Wahlkampagne bewacht werden.[7]

Snyder schloss seinen Aufsatz über die Geschichte mit den Worten: »Indem er bei seinem Ausscheiden aus dem Amt Bandera hochleben ließ, hat Juschtschenko einen Schatten auf sein eigenes politisches Vermächtnis geworfen.«[8]

Die OUN verschwindet

Als Snyder Anfang 2010 diesen Essay veröffentlichte, hielt er Bandera und die OUN ganz offensichtlich für ein wichtiges, gefährliches und beunruhigendes Element der ukrainischen Geschichte. Doch mit dem Erscheinen von »Bloodlands« acht Monate später, im Oktober 2010, hatte Snyders Umgang mit diesem Thema eine erstaunliche und radikale Wandlung erfahren. Die ukrainischen Nationalisten werden auf den 524 Seiten des Buchs nur ganz beiläufig erwähnt. Im Index zu »Bloodlands« sind weder Stepan Bandera noch die OUN überhaupt verzeichnet! Das ganze Buch enthält nur einen einzigen Satz, auf Seite 326, in dem auf die Mordtaten der UPA unter dem Befehl der OUN hingewiesen wird.

Im Laufe des Jahres 2010, als das Erscheinen von »Bloodlands« abschließend vorbereitet wurde, entschied Snyder, dass das Buch keine Hinweise auf die Verbrechen der ukrainischen Nationalisten enthalten sollte. Keine der Tatsachen und Feststellungen über den ukrainischen Faschismus, die Snyder im Februar 2010 in seinem Aufsatz für die »New York Review of Books« angeführt hatte, wurde in »Bloodlands« aufgenommen.

In der Form, in der es veröffentlicht wurde, stellt »Bloodlands« eindeutig eine rechte Geschichtsrevision dar. Das Buch unterstützt das Holodomor-Narrativ der ukrainischen Nationalisten, das von einer politischen und moralischen Gleichsetzung der Sowjetunion und Nazideutschlands ausgeht, wobei stark angedeutet wird, dass die Sowjetunion schlimmer war. Die historischen Ursprünge, sozioökonomischen Grundlagen und politischen Ziele der beiden Systeme werden nicht untersucht. Die komplexen historischen und politischen Zusammenhänge, die in einer ernsthaften Studie über die Kollektivierung behandelt werden müssen, werden einfach übergangen. Die Katastrophe, die durch die rücksichtslose Erzwingung der Kollektivierung ausgelöst wurde, wird durch die Behauptung »erklärt«, Stalin habe die Entscheidung getroffen, Millionen Menschen in der Sowjetukraine umzubringen.[9]

Im Gegensatz zu den Massenmedien haben ernsthafte Historiker in ihren Rezensionen kein gutes Haar an Snyders Buch gelassen. Sie äußerten sich besorgt über sein Bestreben, die Gräueltaten der ukrainischen Nationalisten herunterzuspielen. Professor Omer Bartov von der Brown University stellt fest:

Die umfangreichen Massaker an Juden, die ihre ukrainischen Nachbarn zu jener Zeit [Sommer 1941] in ganz Ostpolen verübten, werden kaum beachtet und sofort mit früheren sowjetischen Verbrechen in Zusammenhang gebracht. Snyders Erklärungsversuche dafür, dass Ukrainer ihre jüdischen Nachbarn abschlachteten, sich der von den Deutschen kontrollierten Polizei anschlossen, der SS beitraten oder sich als Personal der Vernichtungslager verdingten, nehmen sich im Verhältnis zu den Gewalttaten dieser Männer recht mager aus.[10]

Bartov wendet sich gegen Snyders Versuche, die Gewalt des sowjetischen Widerstands mit der Gewalt der Nazi-Invasoren gleichzusetzen.

Durch die Gleichsetzung von Partisanen und Besatzern, Sowjet- und Nazi-Besatzung, Verbrechen der Wehrmacht und der Roten Armee, und durch das Übergehen der Gewalt zwischen den Volksgruppen entleert Snyder den Krieg weitgehend seines moralischen Inhalts und macht sich ungewollt das Argument der Apologeten zu eigen, wonach niemandem eine Schuld zugewiesen werden kann, da alle Seiten Verbrecher sind.[11]

Der Historiker Mark Mazower legte eine vernichtende Kritik an Snyders Werk vor:

Gewiss kann man die Bedeutung des Antisemitismus in Osteuropa übertreiben – was nicht wenigen Forschern vorgeworfen werden kann –, aber man kann sie auch untertreiben, und in diese Richtung tendiert Snyders Abhandlung.[12]

Für die Ausklammerung der Verbrechen des ukrainischen Nationalismus aus »Bloodlands« kann es im Lichte der seitherigen Entwicklung Snyders kaum einen anderen Grund geben als eine politisch motivierte Entscheidung, die mit dem Vorgehen der USA in der Ukraine und Snyders zunehmender Mitwirkung daran zusammenhängt. Im Laufe der vergangenen Monate ist Snyder zu einem der bekanntesten Verteidiger des Regimes in Kiew geworden. Seine Reden und Schriften zeichnen sich vor allem dadurch aus, dass er Russland mit feindseligem Hass überzieht und wütend bestreitet, dass die radikale Rechte an dem Putsch im Februar und an der politischen Zusammensetzung der Kiewer Regierung erheblichen Anteil hatte.

In seiner jüngsten Verteidigung des Kiewer Regimes, die in Wieseltiers »New Republic« erschien, sinkt Snyder auf bislang unerreichte Tiefen hinab. Russland und selbst die Sowjetunion werden als quasi-faschistische Staaten hingestellt. Die wichtige Rolle von Swoboda und dem Rechten Sektor im politischen Leben der Ukraine wird ignoriert. Die ansteigende Flut des Faschismus, so Snyder, komme in Russlands Opposition gegen die neue Regierung der Ukraine zum Ausdruck.

In einem besonders bizarren Absatz erklärt er: »Kennzeichnend für den Faschismus ist die Glorifizierung des nackten männlichen Körpers und die Fixierung auf die Homosexualität, die zugleich kriminalisiert und imitiert wird … Solche Ideen breiten sich heute in Russland aus …« Aber was ist mit der Ukraine? Snyder kann unmöglich entgangen sein, dass Swoboda einen heftigen Hass auf Homosexuelle an den Tag legt und im Jahr 2012 eine Kundgebung für Schwulenrechte angriff, die sie als »Sabbat von 50 Perversen« bezeichnete.[13]

Im Interesse seiner politischen Ziele greift Snyder zu Geschichtsfälschungen. In direktem Gegensatz zu dem, was er vor vier Jahren schrieb, erklärt er nun: »Die politische Kollaboration und der Aufstand ukrainischer Nationalisten waren in der Geschichte der deutschen Besatzung insgesamt von nur nebensächlicher Bedeutung.«[14]

In den Schriften Timothy Snyders tritt uns eine ungesunde und gefährliche Tendenz entgegen: die Verwischung des Unterschieds zwischen Geschichtsschreibung und der Fabrikation von Propaganda.


[1]

Abrufbar unter  diesem Link.

[2]

Ebd.

[3]

John A. Hobson, Der Imperialismus, Köln/Berlin 1968, S. 180f.

[4]

Timothy Snyder, »A Fascist Hero in Democratic Kiev«, in: The New York Review of Books, 24. Februar 2010, (aus dem Englischen).

[5]

Ebd. (aus dem Englischen).

[6]

Ebd. (aus dem Englischen).

[7]

Ebd. (aus dem Englischen, Hervorhebung hinzugefügt ).

[8]

Ebd. (aus dem Englischen).

[9]

Streitpunkt einer ernsthaften wissenschaftlichen Analyse der Auswirkungen der Kollektivierung ist nicht, ob Stalins Politik für den Tod von mehr als drei Millionen ukrainischen Bauern verantwortlich war. Das war sie zweifellos, und politische Entscheidungen, die derart ungeheuerliche Folgen haben, sind kriminell. Dagegen kann die Behauptung, die Kollektivierung sei absichtlich geplant worden, um Millionen ukrainische Bauern umzubringen – in gleicher Weise wie das Nazi-Regime die Endlösung plante und verwirklichte, um das europäische Judentum auszurotten – historisch nicht belegt werden. Experten für mitteleuropäische und sowjetische Geschichte haben die Gleichsetzung der ukrainischen Hungersnot und des Holocausts sowie die Einordnung der Hungersnot als Völkermord infrage gestellt. Der kanadisch-ukrainische Historiker John-Paul Himka hat kürzlich vor einer »mystifizierten« Darstellung der Kollektivierung gewarnt, wonach Stalin »die Hungersnot absichtlich ausgelöst habe, um massenhaft Ukrainer umzubringen und sie daran zu hindern, ihre Bestrebungen nach einem Nationalstaat zu verwirklichen«. Laut Himka war »die Voraussetzung für die Hungersnot die rücksichtslose Kollektivierungskampagne, die beinahe die gesamte sowjetische Landwirtschaft zerstörte«. Er warnt:

Das Völkermordargument wird benutzt, um die Verherrlichung des antikommunistischen Widerstands während des Zweiten Weltkriegs zu untermauern. Meiner Meinung nach sollten Ukrainer, die das Erbe der Nationalisten der Kriegszeit hochhalten, die Welt nicht zur Empathie mit den Opfern der Hungersnot aufrufen, wenn sie selbst nicht zur Empathie mit den Opfern der Nationalisten fähig sind.

(John-Paul Himka, »Interventions: Challenging the Myths of Twentieth-Century ­Ukrainian History«, in: The Convolutions of Historical Politics, Alexei Miller und Maria Lipman (Hrsg.), Budapest und New York 2012, S. 211f., aus dem Englischen.)

[10]

Omer Bartov, Slavic Review, Sommer 2011, S. 426 (aus dem Englischen).

[11]

Ebd., S. 428 (aus dem Englischen).

[12]

Mark Mazower, Contemporary European History, Jg. 21, H. 2, Mai 2012, S. 120 (aus dem Englischen).

[13]

Abrufbar unter diesem Link.

[14]

Timothy Snyder, »The Battle in Ukraine Means Everything«, in: New Republic, 11. Mai 2014, (aus dem Englischen).