David North
Verteidigung Leo Trotzki

Leo Trotzki, die sowjetische Geschichtsschreibung und das Schicksal des klassischen Marxismus

Vortrag vom 21. November 2008 bei der National Convention of the American Association for the Advancement of Slavic Studies (AAASS) in Philadelphia.

Fünfundvierzig Jahre sind vergangen, seit Isaac Deutscher den letzten Band seiner außergewöhnlichen biografischen Trilogie über Leo Trotzki (»Der bewaffnete Prophet«, »Der unbewaffnete Prophet«, »Der verstoßene Prophet«) veröffentlichte. Wohl kaum eine andere Biografie hatte solch einen weitreichenden Einfluss auf das intellektuelle und politische Leben. Als Deutscher sein Projekt in den frühen fünfziger Jahren begann, war Trotzki bereits seit mehr als einem Jahrzehnt tot. Aber sein Mörder, Josef Stalin, saß immer noch quicklebendig im Kreml – und war Gegenstand weltweiter Verehrung, so abscheulich wie absurd, an der sich so gut wie alle Kommunistischen Parteien beteiligten. Deutscher verglich seine Aufgabe mit der von Thomas Carlyle, der sich einmal beklagt habe, dass er als Biograf Cromwells »den Lord Protector unter einem Berg toter Hunde, unter einer riesigen Last falscher Beschuldigungen und des Vergessens hervorziehen«[1] musste.

Als Deutscher 1963 seinen dritten Band fertig stellte, hatte sich die politische Landschaft dramatisch verändert. Stalin starb im März 1953. Im Februar 1956 hielt Chruschtschow auf dem 20. Parteitag der KPdSU seine sogenannte »Geheimrede«, in der er Stalin fast als politischen Verbrecher hinstellte, verantwortlich für die Verhaftung, Folterung und Ermordung Tausender alter Bolschewiki und loyaler Kommunisten während der Säuberungen der dreißiger Jahre. Natürlich gestand Chruschtschow das Ausmaß von Stalins Verbrechen nicht einmal annähernd in vollem Umfang ein. Die Anklage war so halbherzig wie unvollständig. Aber die Wirkung von Chruschtschows Rede war verheerend. Die unausgesprochene, aber unausweichliche Schlussfolgerung, die sich aus der Aufdeckung von Stalins Verbrechen ergab, lautete: Die Moskauer Prozesse von 1936–1938 waren ein abgekartetes Spiel, und die angeklagten alten Bolschewiki waren ermordet worden. Der Gedanke »Trotzki hatte Recht« suchte zahllose Führer und Mitglieder der KPdSU und verbündeter Parteien in aller Welt heim. Wenn Trotzki im Fall der Moskauer Prozesse Recht hatte, wo hatte er sonst noch Recht gehabt?

Inmitten der Unruhe, die innerhalb der stalinistischen Parteien ausbrach – und einen Prozess innerer Zersetzung beginnen ließ, der innerhalb von dreißig Jahren zu ihrer politischen Auflösung führte –, erhielt Deutschers Trilogie immense politische Bedeutung. Die Diskreditierung Stalins kam einer Rehabilitierung Trotzkis gleich. Das heroische Bild Trotzkis, das die metaphorischen Titel von Deutschers Biografie hervorriefen, erschien im Klima der Zeit keineswegs übertrieben. Ungeachtet ihrer nicht unerheblichen Schwächen – vor allem im letzten Band, in dem Deutscher schon fast aufdringlich seinen eigenen Meinungsverschiedenheiten mit Trotzki nachging – brachten die drei Bände die heroische Persönlichkeit des großen Revolutionärs einer neuen Generation politisch radikalisierter Intellektueller und Jugendlicher nahe. Und was war das für eine Persönlichkeit! Welche andere Gestalt der modernen Geschichte konnte ein solches Repertoire an intellektuellen, politischen, literarischen und militärischen Fähigkeiten vorweisen? Es gelang Deutscher, seiner Erzählung eine immense dramatische Spannung zu verleihen. Aber das Drama von Trotzkis Leben musste nicht erfunden werden, es verlangte keine künstlerische Überhöhung. Sein Leben war schließlich der konzentrierte Ausdruck des gewaltigen historischen Dramas und der Tragödie der Russischen Revolution.

In den 1960ern hatte die Sowjetunion ihre Anziehungskraft auf die Fantasie von Intellektuellen und Studenten verloren. Deutschers Biografie diente als Einführung in die alten Streitigkeiten der zwanziger Jahre, in denen Trotzkis Werk so eine große Rolle gespielt hatte. Also machte manch einer unter Deutschers Lesern sich ans Werk, Trotzkis Schriften zu studieren, die allmählich besser erhältlich waren.

Während der 1960er- und der 1970er-Jahre war das Interesse an Trotzkis Leben und Werk immens. 1978, am Vorabend von Trotzkis hundertstem Geburtstag, veröffentlichte Professor Baruch Knei-Paz »The Social and Political Thought of Leon Trotsky«. Knei-Paz näherte sich seinem Thema zwar kritisch, doch es spiegelte sich darin das unter sowjetischen Gelehrten vorherrschende Gefühl, dass Trotzki politisch und intellektuell höchst aktuell war.

Knei-Paz schrieb, Trotzki gelte »noch immer und vielleicht nicht zu Unrecht als der Prototyp des Revolutionärs in einem Zeitalter, in dem es an revolutionären Figuren keinen Mangel gab«. Er beschrieb Trotzkis Errungenschaften »im Reich der Theorie und der Ideen« als »außerordentlich«. »Trotzki«, so schrieb er, »war einer der ersten, die im zwanzigsten Jahrhundert das Aufkommen gesellschaftlicher Veränderungen in rückständigen Gesellschaften analysierten, und er gehörte auch zu den ersten, die sich mit den politischen Konsequenzen beschäftigten, die sich aus solchem Wandel ergaben.«[2] Bei allem Respekt muss ich als Marxist und Anhänger von Trotzkis politischen Ansichten vielen Elementen von Professor Knei-Paz’ Analyse und Interpretation widersprechen. Aber seine sorgfältige Arbeit zeigte sicherlich, dass Trotzkis Leben einen fruchtbaren Grund für ernsthafte Forschung bietet. Obwohl Trotzki ein Mann der Tat par excellence war, war er auch ein herausragender Denker. Knei-Paz schätzt, dass Trotzkis Schriften als Gesamtausgabe »leicht sechzig oder siebzig dicke Bände füllen würden – ohne das umfangreiche Material, das in den Trotzki-Archiven der Harvard-Universität enthalten ist«.[3]

Professor Knei-Paz setzte sich klare Grenzen – eine Notwendigkeit für jeden wissenschaftlichen Versuch über ein Thema, das so umfangreich und vielschichtig wie Trotzkis Leben und seine Zeit ist. Er erklärte, seine Arbeit sei »eine Untersuchung von Trotzkis eigenen Gedanken, nicht der seiner Gegner oder Anhänger, und auch nicht der politischen Bewegung, die mit seinem Namen gleichgesetzt wird«[4]. Trotz dieser Fokussierung brauchte Professor Knei-Paz 598 eng bedruckte Seiten, um seine Aufgabe zu bewältigen. Und er ließ der Forschungsgemeinschaft noch ein großes, zu bearbeitendes Feld und zahlreiche offene, noch zu diskutierende Fragen übrig.

Nichtsdestotrotz erwies sich Knei-Paz’ Werk als letzter bedeutsamer akademischer Beitrag auf dem Feld der Trotzki-Forschung. Das hätte 1978 wohl kaum jemand vorausgesagt. Schließlich war Knei-Paz’ Buch am Vorabend eines Ereignisses erschienen, das die Trotzki-Forschung hätte beflügeln sollen: der Öffnung des bis dahin unzugänglichen Teils der Trotzki-Archive der Houghton-Bibliothek an der Harvard-Universität am 2. Januar 1980. Bis dahin war Isaac Deutscher mit Sondergenehmigung von Trotzkis Frau Natalia Sedowa der einzige Schriftsteller gewesen, der Zugang zu dieser immensen Sammlung von privaten Papieren des Revolutionärs gehabt hatte. Aber es zeigte sich, dass die Öffnung dieses Archivs auf amerikanische und britische Wissenschaftler im Bereich der Sowjetgeschichte nur geringen Einfluss hatte. Während der vergangenen 28 Jahre hat nur sehr wenig Material aus diesem riesigen Archiv seinen Weg in akademische Veröffentlichungen gefunden.

Dieses Austrocknen der Trotzki-Forschung nach 1978 ist ein seltsames Phänomen. Schließlich hätte die sich verschärfende Krise der Sowjetunion und Osteuropas während der 1980er-Jahre eine intensivere Beschäftigung mit Trotzkis Werken gerechtfertigt, der ja immerhin der herausragende Kritiker Stalins und des Stalinismus gewesen war und den Untergang der UdSSR vorausgesehen hatte. In der Tat hatte Trotzkis Darstellung des Prozesses der kapitalistischen Restauration in »Die Verratene Revolution« (erschienen 1936) die ökonomische Transformation der ehemaligen UdSSR unter Jelzins Schirmherrschaft in den frühen 1990er-Jahren erstaunlich genau vorweggenommen.

Dennoch erscheint Trotzki in den meisten englischsprachigen Werken, die sich mit der Geschichte, der Wirtschaft und der politischen und gesellschaftlichen Struktur der Sowjetunion befassen, nur als unbedeutende Randfigur. Der einzige bemerkenswerte und originelle Beitrag zur Trotzki-Forschung, der in den 1980er-Jahren erschien – einem solch tumultartigen Jahrzehnt in der sowjetischen Geschichte –, war eine kleine Monografie mit dem Titel »Leon Trotsky and the Art of Insurrection«, der sich auf Trotzkis Leistung als militärischer Stratege konzentrierte. Überraschenderweise war der Autor dieser sehr positiven Einschätzung von Trotzkis Beitrag zu Kriegskunst, Kriegswissenschaft, militärischer Erhebung und Armeeführung Oberst Harold Nelson, Offizier und Professor am US Army War College.

Mit der Trotzki-Forschung ging es in den 1990ern noch weiter bergab. Amerikanische und britische Wissenschaftler brachten während des gesamten Jahrzehnts auf diesem Feld nichts Grundlegendes zustande. Die einzige Veröffentlichung, die vielleicht ein wenig hervorsticht, ist ein Band mit Aufsätzen, der 1992 von der Edinburgh University Press unter dem Titel »The Trotsky Reappraisal« herausgegeben wurde. In diesem Jahrzehnt kam in Großbritannien ein beunruhigender Trend auf, der in der Wiederaufbereitung und Rechtfertigung alter antitrotzkistischer Verleumdungen bestand. Beispielhaft für diese Tendenz war das sogenannte »Journal of Trotsky Studies«, das von der Universität von Glasgow herausgegeben wurde. Lieblingsthema dieses Journals war es, Trotzki die eigennützige Verdrehung von Tatsachen vorzuwerfen. Diese Behauptungen wurden ohne Rücksicht auf die belegbaren Fakten aufgestellt. Unter den mitunter recht absurden Beiträgen war ein Artikel, der nachweisen sollte, dass Trotzki seine eigene Rolle in der Oktobererhebung in seiner »Geschichte der Russischen Revolution« stark übertrieben hätte. Wir wurden belehrt, dass ernsthafte Revolutionäre wie Stalin auf den Straßen Schwerstarbeit verrichteten, während ein leicht verwirrter Trotzki im Smolny-Institut Telefondienst machte. Gnädigerweise gab dieses Journal nach vier Ausgaben seinen Geist auf.

Die Situation hat sich im gegenwärtigen Jahrzehnt nicht verbessert. Zwei neue Trotzki-Biografien der Professoren Ian Thatcher und Geoffrey Swain erschienen, die erste 2003 und die zweite 2006. Diese Werke enthalten keine neuen Erkenntnisse. Ich habe beide Bücher bereits im Detail in einer ausgiebigen Besprechung mit dem Titel »Die postsowjetische Schule der Geschichtsfälschung«[5] analysiert. Es lohnt sich, die Behandlung Trotzkis dem umfangreichen Material über Stalin gegenüberzustellen, der auf Historiker eine schier endlose Faszination auszuüben scheint. Natürlich ist Stalin, nicht weniger als Hitler, legitimer Gegenstand wissenschaftlicher Forschung. Aber auch für die Geschichtsschreibung gilt, was Oscar Wilde einst vom Verfasser des Romans forderte: Sie muss gut gemacht sein.

Das Problem ist, dass die meisten Bücher über Stalin schlecht geschrieben sind. Viele sind eher grobe journalistische Arbeiten und beuten sensationsgierig das aus sowjetischen Archiven erworbene Material aus. Werke von Radzinsky und Sebag-Montefiore liefern Beispiele dieses Genres. Verstörender jedoch sind Studien von Forschern, die offenbar aufrichtig daran interessiert sind, Stalin und den Stalinismus zu rehabilitieren. Zum Teil sind die Schlussfolgerungen, zu denen diese Historiker gelangen, wirklich bizarr. So argumentiert Professor Stephen Kotkin in seinem Buch »Magnetic Mountain« zum Beispiel, der Stalinismus sei die Krönung des Projekts der Aufklärung. Der Stalinismus, so schreibt er,

begründete eine exemplarische Aufklärungs-Utopie, den Versuch, der Gesellschaft durch die Instrumentalisierung des Staats eine rationale Ordnung aufzuzwingen und gleichzeitig die Klassenteilung aufzuheben, die durch die Industrialisierung des neunzehnten Jahrhunderts entstanden war. Dieser Versuch wurzelte seinerseits in der Tradition von urbanen Modellen sozial orientierter Utopien, die halfen, die Aufklärung möglich zu machen. Magnitogorsk hatte sehr tiefe Wurzeln.[6]

Im schlimmsten Fall liefert diese Tendenz unter dem Vorwand, »nuanciertere« Einschätzungen historischer Ereignisse zu liefern, seltsame Rechtfertigungen für Stalins Verbrechen. So bietet uns Robert W. Thurstons »Life and Terror in Stalin’s Russia 1934–1941«, erschienen 1996 bei Yale University Press, folgende Einschätzung zu Stalins Staatsanwalt Andrej Wyschinski:

Trotz seiner abstoßenden Rolle in den Schauprozessen, die im August 1936 begannen, setzte sich Wyschinski für bedeutende Verbesserungen bei Gerichtsverfahren ein. Gleichzeitig lehnte er zentrale Praktiken des NKWD ab und drängte auf mehr Toleranz gegenüber der Kritik einfacher Bürger, so lange sie die grundlegende Politik nicht antasteten.[7]

Und über Kamenew, Sinowjew und andere Angeklagte im Prozess von 1936 präsentiert Thurston die folgende kaum verhüllte Rechtfertigung ihrer Verurteilung durch Stalin:

Die Schuld dieser Männer bestand höchstens darin, dass sie über politische Veränderung gesprochen hatten, und nach westlichem Standard verdienten sie keine Bestrafung. Aber sie hatten sich am Widerstand beteiligt, hatten Kontakt zu Trotzki gehabt, dem Westen Geheimdokumente zugespielt und Stalin beseitigen wollen. Sie hatten zudem in diesen Fragen gelogen und gleichzeitig ihre vollständige Loyalität beteuert. Dies nährte Stalins Verdacht. Warum logen diese Leute? Wie viele andere wie sie existierten noch und was war ihre Absicht? Angesichts des Trotzki-Blocks und der Sprache des Rjutin-Memorandums wäre es sogar für Leute, die weniger krank als Stalin waren, einfach gewesen, bei manchen der vielen industriellen Unfälle der Zeit Terrorismus am Werk zu sehen. Er blies die Angelegenheit beträchtlich auf und verbreitete seinerseits massive Lügen – aber die gerade erwähnten Beweise legen nahe, dass er zu diesem Zeitpunkt Schritte unternahm, um Menschen zu eliminieren, die ihn in die Irre geführt und sich mit einem Erzfeind, Trotzki, verschworen hatten. Diese Entscheidung, wenn auch ungerecht, war nicht Teil eines Planes zur Verbreitung politischen Terrors.[8]

Während die Stalin-Industrie auf dem Feld sowjetischer Forschung ein gutes Geschäft verspricht, hält der langfristige Rückgang bei den Trotzki-Studien an. Dies drückt sich nicht nur in der sehr begrenzten und generell minderen Qualität der Trotzki-Forschung aus, sondern auch darin, dass es überhaupt kein nennenswertes Werk über seine politischen Weggefährten in der Linken Opposition gibt. Wie viele Führer der Linken Opposition, angefangen bei Christian Rakowski und Adolf Joffe, sind Gegenstand großer Biografien? Welche Arbeiten gibt es über Smilga, Boguslawski, Ter-Waganjan und Woronski? Es gibt bis heute keine umfassende Studie über die Linke Opposition und ihre Aktivitäten.

Durchgängiges Thema vieler zeitgenössischer Arbeiten über den Großen Terror ist, dass dieser wenig mit Trotzki zu tun hatte, der, wie behauptet wird, von den 1930er-Jahren an in der Sowjet­union keinen Einfluss mehr ausübte. Aber ist das wirklich wahr? Welche Untersuchungen gibt es über die Aktivitäten der Oppositionellen? Und selbst wenn Stalins Unterdrückung systematische Agitation unmöglich machte, ist es wirklich wahr, dass das trotzkistische »Bulletin der Opposition« keinen Einfluss auf das Denken unzufriedener Elemente innerhalb des sowjetischen Staats- und Parteiapparats hatte? Hatte sich darüber hinaus 1936 jegliche Erinnerung an Trotzki unter Bürgerkriegsveteranen der Roten Armee, innerhalb des Offizierskorps und unter gewöhnlichen Soldaten, verflüchtigt? Hat Viktor Serge nur seine künstlerische Freiheit in Anspruch genommen, als er 1937 von Trotzki schrieb, dass innerhalb der Sowjetunion »alle an ihn denken, weil es verboten ist, an ihn zu denken … So lange der alte Mann lebt, wird es keine Sicherheit für die triumphierende Bürokratie geben.«[9] Diese Fragen können so lange nicht beantwortet werden, bis die notwendige Forschungsarbeit geleistet ist.

Aber warum ist das bis heute nicht geschehen? Dies ist eine komplexe Frage, die, so vermute ich, selbst eines Tages zum Thema für Studenten der Geistesgeschichte werden wird. Ich behaupte nicht, die endgültige Antwort zu kennen, aber ich möchte auf diverse Faktoren hinweisen, die die Trotzki-Wahrnehmung in akademischen Kreisen beeinflussen könnten. Ich beginne mit der Feststellung, dass Trotzkis angebliche politische »Bedeutungslosigkeit« weder glaubhaft noch ernst zu nehmen ist. Trotzki hat in der Russischen Revolution, einem der Schlüsselereignisse des zwanzigsten Jahrhunderts, ganz eindeutig eine entscheidende Rolle gespielt. Er war zufällig auch eine der brillantesten literarischen Figuren dieses Jahrhunderts. Walter Benjamin zitiert in seinem Tagebuch die Einschätzung von Bertold Brecht aus dem Jahre 1931, »es ließe sich mit gutem Grund behaupten, dass Trotzki der größte lebende Schriftsteller von Europa wäre«.[10] Angesichts solcher Urteile muss »noch ein neues Buch« über Trotzki wohl kaum gerechtfertigt werden. Obendrein muss man sagen, dass Trotzkis politisches und intellektuelles Vermächtnis, wie kontrovers und umstritten es auch sein mag, auch heute noch Einfluss auf die Politik ausübt. Trotzki ist für die Geschichte ganz sicher nicht irrelevant. Warum also ist er für Historiker irrelevant geworden?

Das konservative politische und intellektuelle Klima, das seit fast drei Jahrzehnten herrscht, muss als grundlegender Faktor betrachtet werden, wenn man über die Trotzki-Rezeption im Wissenschaftsbetrieb urteilt. Ebenso wie Wahlergebnisse nicht ohne Wirkung auf die Richter am Obersten Gerichtshof bleiben, lassen sich auch Historiker von der Zeitungslektüre beeindrucken. Wie Trotzki 1938 treffend bemerkte: Die Kraft der politischen Reaktion erobert nicht nur, sie überzeugt auch. Mit der Auflösung der UdSSR 1991 wurde die gesamte sowjetische Erfahrung angeprangert. Die Werke rechtsgerichteter Gegner des sozialistischen Projekts – genannt an dieser Stelle seien Martin Malia, Robert Conquest, der unermüdliche Richard Pipes und der ehemalige Stalinist François Furet – schufen ein intellektuell tödliches Umfeld, das jeder ernsthaften Arbeit zum politischen Erbe des russischen und europäischen Marxismus entgegenstand. Man kann sich schwer vorstellen, dass die Klassiker unter den Sowjetstudien aus den 1950er- und 1960er-Jahren, Werke wie Leopold Haimsons »Origins of Bolshevism«, Samuel Barons »Plekhanov« oder auch E. H. Carrs enzyklopädische Studie der frühen Sowjetgeschichte, in den 1990er-Jahren geschrieben worden wären. Und das vorherrschende intellektuelle Klima war gewiss erst recht nicht förderlich für jene, die, wie der russische Gelehrte Wadim Rogowin, versuchten, in der marxistischen und bolschewistischen Tradition eine revolutionäre Alternative zum Stalinismus zu erkunden.

Doch nicht alle Probleme bezüglich der wissenschaftlichen Wahrnehmung Trotzkis entstammen direkt der politischen Landschaft der vergangenen dreißig Jahre. Auch andere lang andauernde intellektuelle Tendenzen sind am Werk, deren Ursprünge in die Zeit vor Margaret Thatcher und Ronald Reagan zurückreichen. Ich spreche von dem viele Jahrzehnte umfassenden Prozess einer sich ständig vergrößernden Entfremdung substanzieller Teile linker Intellektueller vom theoretischen Gerüst und der politischen Sichtweise des »klassischen Marxismus«, dessen herausragender und letzter großer Vertreter Leo Trotzki war.

Es ist unmöglich, hier eine Darstellung von Trotzkis philosophischem Weltbild und seiner Auffassung von Politik und menschlicher Kultur zu liefern. Aber es muss um der hier vertretenen Argumente willen gesagt werden, dass ein entscheidender Bestandteil dieser Weltanschauung die unversöhnliche Verteidigung des philosophischen Materialismus war, der Glaube an den von Gesetzen beherrschten historischen Prozess, Vertrauen in die Kraft menschlicher Vernunft (insoweit diese Fähigkeit materialistisch verstanden wird) und ihre Fähigkeit, die objektive Wahrheit zu entdecken und, damit verbunden, der Glaube an die fortschrittliche Rolle der Wissenschaft. Trotzki war Determinist, Optimist und Internationalist. Er war überzeugt, dass sich die sozialistische Revolution notwendigerweise aus den unlösbaren Widersprüchen des weltkapitalistischen Systems ergibt. Vor allem pochte er darauf, dass mit der Arbeiterklasse eine revolutionäre Kraft in der Gesellschaft existiert, die das kapitalistische System stürzen und die Grundlagen für den Weltsozialismus legen wird.

Keines dieser Elemente in der Weltanschauung des klassischen Marxismus – am allerwenigsten sein Optimismus – hat in nennenswerten Teilen der linken Intelligenz überlebt. Bereits in den 1920er-Jahren untergruben die niederschmetternde Wirkung des Ersten Weltkriegs, der Zusammenbruch der Zweiten Internationale und, einige Zeit nach der Oktoberrevolution, die Niederlagen der Arbeiterklasse in Mittel- und Westeuropa bei weiten Teilen der kleinbürgerlichen linken Intelligenz das Vertrauen in die marxistische Weltanschauung und ihre Perspektive.

Bereits 1926 verlieh Hendrik de Mans Frontalangriff auf den Marxismus in »Zur Psychologie des Sozialismus« dem wachsenden Skeptizismus eine Stimme, der sich unter linken Intellektuellen breit machte. Sie lehnten es ab, die Entwicklung politischen Bewusstseins materialistisch zu erklären, und bezweifelten die Wirksamkeit der marxistischen politischen Praxis. De Man kritisierte den Marxismus dafür, dass er von einer revolutionären Wirkung der objektiven sozioökonomischen Prozesse auf die Entwicklung politischen Bewusstseins ausging. Die rational begründeten Appelle der Marxisten an objektive Klasseninteressen seien unzureichend, um die Massen für den Sozialismus zu gewinnen. Viele der Argumente, die de Man vorbrachte, fanden später ihren Weg in die Schriften der Theoretiker der Frankfurter Schule.

Hitlers Sieg 1933, die Moskauer Prozesse, die Niederlage der spanischen Revolution und schließlich der Hitler-Stalin-Pakt vollendeten die politische Demoralisierung der linken Intelligenz. Die grundlegende Perspektive des Sozialismus, so glaubten sie, sei diskreditiert. Die Arbeiterklasse war gescheitert. Es gab in der gegenwärtigen Gesellschaft kein revolutionäres Subjekt. In einem seiner letzten größeren Aufsätze widmete sich Trotzki der Bedeutung solcher Argumente: »Wenn wir annehmen, es wäre wahr, dass der Grund für die Niederlagen in den sozialen Eigenschaften des Proletariats selbst begründet liegt, dann müsste man die Lage der modernen Gesellschaft als hoffnungslos bezeichnen.«[11]

Nur sieben Jahre später kamen Horkheimer und Adorno in ihrer »Dialektik der Aufklärung« zu genau diesem Schluss. Es scheint keine Übertreibung, wenn man sagt, dass die Intelligenz durch die Tragödien des zwanzigsten Jahrhunderts niedergedrückt und erschöpft war: durch zwei Weltkriege, Faschismus, den stalinistischen Verrat des Sozialismus und die sich hinziehende Lähmung der Arbeiterbewegung unter dem Gewicht der Bürokratie. Der Pessimismus wich Zynismus und Selbstgefälligkeit. Paradoxerweise hätte die Überwindung intellektueller Demoralisierung die systematische Erforschung der Ursachen vergangener Niederlagen erfordert, was wiederum eine Beschäftigung mit Trotzkis Ideen und der großen Schule des klassischen Marxismus verlangt hätte. Aber die objektiven Bedingungen, eingebettet in die lange wirtschaftliche Nachkriegsexpansion des Kapitalismus, arbeiteten gegen ein solches Unterfangen.

Was also sind die Aussichten bezüglich einer erneuten Beschäftigung mit Trotzkis Ideen? Um diese Frage zu beantworten, scheint mir Trotzkis Herangehensweise die beste. Er bestand darauf, die Wechselfälle seines eigenen Lebens im Zusammenhang mit der Entwicklung der sozialistischen Revolution zu begreifen: innerhalb Russlands, Europas und der Welt als Ganzer. Die Wendungen in seinem eigenen Schicksal bewertend, sagte Trotzki, er sehe keine persönliche Tragödie, sondern verschiedene Stufen in der widersprüchlichen Entfaltung der sozialistischen Weltrevolution. Das Ansteigen der revolutionären Welle trug Trotzki an die Macht. Ihr Abebben trieb ihn ins Exil.

Viele Jahrzehnte sind vergangen, seit der Marxismus, wie Trotzki diesen Begriff verstanden hätte, im Leben der Arbeiterklasse eine bedeutende Rolle spielte. Dies waren Jahrzehnte, in denen der Kapitalismus wirtschaftliche Stabilität und substanzielles Wachstum aufwies. Der Klassenkampf, sofern er sich überhaupt zeigte, blieb innerhalb traditioneller Bahnen unter der strengen Aufsicht der Arbeiterbürokratie. Heute, so scheint es, nimmt die Geschichte plötzlich eine ihrer überraschenden Wendungen. Die Welt, in der wir uns heute treffen, unterscheidet sich schon gewaltig von der, in der sich das AAASS letztes Jahr in New Orleans versammelt hat. Seit einigen Wochen sind Verweise auf die Große Depression der 1930er-Jahre allgemein üblich. Selbst der Präsident der Vereinigten Staaten hat zugegeben, dass die sich entfaltende Krise den amerikanischen und den Weltkapitalismus an den Rand des Zusammenbruchs geführt hat.

Man kann sich unschwer vorstellen, dass Leo Trotzki, der den Begriff vom »Todeskampf des Kapitalismus« geprägt hat, diese Krise sehr gut verstanden hätte. Die alte »Katastrophen-Theorie«, die von vielen Anti-Marxisten belächelt wurde, erscheint nicht mehr so komisch und schon gar nicht abwegig. Das gesellschaftliche Sein bestimmt letztendlich das gesellschaftliche Bewusstsein. Wenn die Krise sich verschärft und, was sehr gut möglich ist, dazu führt, dass Historiker seit Langem bestehende und inzwischen diskreditierte Thesen überprüfen und so eine kritischere Haltung gegenüber der bestehenden Gesellschaft einnehmen, dann werden wir vermutlich sehr bald Zeugen eines neuen intensiven akademischen Interesses am Leben und Werk Leo Trotzkis sein.


[1]

Isaac Deutscher, Der unbewaffnete Prophet. Stuttgart 1962; S. 7.

[2]

Baruch Knei-Paz, The Social and Political Thought of Leon Trotsky. Oxford 1978; S. viii, aus dem Englischen.

[3]

Ebd. S. xi.

[4]

Ebd. S. xiii.

[5]

Siehe Teil II dieses Buchs ab S. 71.

[6]

Stephen Kotkin, Magnetic Mountain. Berkeley 1995; S. 364, aus dem Englischen.

[7]

Robert W. Thurston, Life and Terror in Stalin’s Russia 1934–1941. New Haven 1996; S. 9, aus dem Englischen.

[8]

Ebd. S. 26 f.

[9]

Victor Serge: From Lenin to Stalin. New York 1973; S. 109, aus dem Englischen.

[10]

Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. 6. Frankfurt am Main 1985; S. 432.

[11]

Leo Trotzki, Verteidigung des Marxismus; S. 15.