Vortrag vom 21. Januar 2001, gehalten im Rahmen eines internationalen Seminars der australischen Socialist Equality Party in Sydney.
Vor sechzig Jahren, am 21. August 1940, erlag Leo Trotzki den Verletzungen, die ihm ein Agent des sowjetischen Geheimdiensts am Tag zuvor zugefügt hatte. Das stalinistische Regime hoffte, dass dieser Mord nicht nur der politischen Tätigkeit ihres größten Gegners ein Ende setzen, sondern ihn auch gänzlich aus der Geschichte tilgen würde. Der totalitäre Pragmatismus erwies sich als kurzsichtig. Der Mörder beendete das Leben des großen Revolutionärs, aber seine Ideen und Schriften lebten fort. Die politische Arbeit der Weltbewegung, die Trotzki gegründet hatte, endete nicht durch den Mord an seiner Person. Die Vierte Internationale sollte schließlich den Zusammenbruch des stalinistischen Regimes erleben. Somit ist es auch seinen Mördern nicht gelungen, Trotzki aus der Geschichte zu streichen. Für Historiker, die das zwanzigste Jahrhundert studieren und interpretieren, gewinnt die Person Leo Trotzkis immer mehr an Bedeutung. In nur wenigen Biografien spiegeln sich die Kämpfe, Hoffnungen und Tragödien des letzten Jahrhunderts so grundlegend und edel wie in Trotzkis Leben. Von Thomas Mann stammt die Einsicht, dass sich das Schicksal der Menschheit heute politisch ausdrückt. In diesem Sinne kann man durchaus sagen, dass dieses Schicksal in Trotzkis sechzig Lebensjahren seinen bewusstesten Ausdruck fand. In der Biografie Leo Trotzkis konzentrieren sich die Wechselfälle der sozialistischen Weltrevolution während der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts.
Drei Jahre vor seinem Tod erklärte Trotzki im Gespräch mit einem skeptischen amerikanischen Journalisten, er fasse sein Leben nicht als Kette verwirrender und letztlich tragischer Episoden auf, sondern als verschiedene historische Entwicklungsstadien der revolutionären Bewegung. Sein Aufstieg zur Macht im Jahr 1917 war das Ergebnis eines Aufschwungs der Arbeiterklasse. Sechs Jahre bildeten die sozialen und politischen Beziehungen, die aus dieser Offensive entstanden waren, die Grundlage seiner Machtstellung. Ebenso ergab sich Trotzkis Verlust an Macht und Einfluss aus dem Abebben der revolutionären Welle. Trotzki verlor die Macht nicht deshalb, weil er als Politiker weniger fähig gewesen wäre als Stalin, sondern weil die soziale Kraft, auf der seine Macht beruhte – die russische und internationale Arbeiterklasse – den politischen Rückzug antrat. Gerade Trotzkis historisch bewusstes Herangehen an Politik, das in den revolutionären Jahren so wirksam war, erwies sich in Zeiten des wachsenden politischen Konservativismus im Vergleich mit seinen skrupellosen Gegnern als nachteilig. Die Erschöpfung der russischen Arbeiterklasse nach dem Bürgerkrieg, die zunehmende politische Macht der sowjetischen Bürokratie und die Niederlagen der europäischen – insbesondere der deutschen – Arbeiterklasse waren letzten Endes die Faktoren, die den Ausschlag gaben und Trotzki die Macht nahmen.
Die Niederlagen der internationalen Arbeiterklasse hinterließen Spuren in Trotzkis persönlichem Leben: die politische Demoralisierung, die durch die Niederlage der chinesischen Revolution 1927 ausgelöst wurde, bot Stalin die Möglichkeit, die Linke Opposition aus der Kommunistischen Internationale auszuschließen und Trotzki zunächst nach Alma-Ata und kurz darauf aus der UdSSR insgesamt zu verbannen. Der Sieg Hitlers 1933 – ermöglicht durch die Politik der stalinistisch geführten Kommunistischen Partei Deutschlands – löste eine Ereigniskette aus, die schließlich zu den Moskauer Prozessen, den politischen Katastrophen der stalinistischen Volksfrontpolitik und zu Trotzkis endgültiger Vertreibung aus Europa führte. So verschlug es ihn ins weit entfernte Mexiko.
In Coyoacán, einem Vorort von Mexico City, wurde Trotzki von einem stalinistischen Agenten, Ramon Mercader, ermordet. Sein Tod erfolgte auf dem Höhepunkt der faschistischen und stalinistischen Konterrevolution. 1940 waren die alten Genossen Trotzkis in der Sowjetunion nahezu ausnahmslos liquidiert. Seine vier Kinder waren alle tot. Die älteren Töchter waren infolge der Notlagen, in die sie die Verfolgung ihres Vaters gebracht hatte, beide früh gestorben. Die beiden Söhne, Sergej und Leon, wurden vom stalinistischen Regime ermordet. Leon Sedow war zum Zeitpunkt seines Tods – er starb im Februar 1938 in Paris – neben seinem Vater die wichtigste Person in der Vierten Internationale. Weitere herausragende Mitglieder des Sekretariats der Vierten Internationale – Erwin Wolf und Rudolf Klement – wurden 1937 und 1938 ermordet.
Im Jahr 1940 hielt Trotzki seine eigene Ermordung für praktisch unvermeidbar. Dies heißt nicht, dass er sich in sein Schicksal ergeben hätte. Er tat alles, was ihm möglich war, um den Schlag zu verzögern, den Stalin und seine Agenten im Apparat der GPU und des NKWD vorbereiteten. Er war sich jedoch darüber im Klaren, dass Stalins Schritte von den Bedürfnissen der Sowjetbürokratie bestimmt waren. »Ich lebe auf dieser Erde«, schrieb er, »nicht im Einklang mit der Regel, sondern als ihre Ausnahme.«[1] Er sagte voraus, dass Stalin den offenen Kriegsausbruch in Westeuropa im Frühjahr und Sommer 1940 für einen Anschlag ausnutzen werde. Trotzki sollte Recht behalten.
Der erste groß angelegte Mordanschlag fand am Abend des 24. Mai 1940 statt, als die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf Hitlers Vormarsch gegen die französische Armee gerichtet war. Der zweite, erfolgreiche Anschlag erfolgte während der Schlacht um England im Spätsommer desselben Jahres.
Weshalb war Trotzki so gefürchtet, obwohl er sich im Exil befand und augenscheinlich isoliert war? Weshalb hielt Stalin seinen Tod für notwendig? Trotzki selbst hatte dafür eine politische Erklärung. Im Herbst 1939, mehrere Wochen nach der Unterzeichnung des Stalin-Hitler-Pakts (den er vorhergesagt hatte) und dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, verwies Trotzki auf ein Gespräch zwischen Hitler und dem französischen Botschafter Robert Coulondre, über das eine Pariser Zeitung berichtete. Hitler brüstete sich, dass sein Abkommen mit Stalin ihm freie Hand verschaffen werde, Deutschlands Feinde im Westen zu besiegen. Coulondre unterbrach ihn mit der Warnung: »Der wirkliche Sieger (im Kriegsfall) wird Trotzki sein. Haben Sie darüber nachgedacht?« Hitler erklärte sich mit der Einschätzung des französischen Botschafters einverstanden, warf aber seinen Gegnern vor, ihm keine andere Wahl zu lassen. Trotzki kommentierte diesen erstaunlichen Bericht mit den Worten: »Diese Herren ziehen es vor, dem Gespenst der Revolution einen Namen zu geben … Beide, Coulondre und Hitler, vertreten die Barbarei, die sich über Europa ausbreitet. Gleichzeitig zweifelt keiner von ihnen daran, dass ihre Barbarei von der sozialistischen Revolution besiegt werden wird.«[2]
Auch Stalin hatte nicht vergessen, dass die Niederlagen der russischen Armee während des Ersten Weltkriegs die zaristische Regierung diskreditiert und die Massen in Bewegung gebracht hatten. Würde diese Gefahr nicht wiederkehren, wenn trotz des Abkommens mit Hitler ein Krieg ausbräche? Solange Trotzki am Leben blieb, blieb er die große revolutionäre Alternative zur bürokratischen Diktatur, die Verkörperung von Programm, Idealen und Geist des Oktober 1917. Deshalb musste Trotzki sterben.
Doch selbst im Tod ließ die Furcht vor Trotzki nicht nach. Welche andere Persönlichkeit verfügt nicht nur zu Lebzeiten, sondern noch Jahrzehnte nach seinem Tod über die Macht, die Herrschenden in Angst und Schrecken zu versetzen? Das historische Vermächtnis Trotzkis widersteht jedem Vereinnahmungsversuch. Zehn Jahre nach Marx’ Tod war es den Theoretikern der Sozialdemokratie gelungen, seine Schriften der Perspektive der Sozialreform anzupassen. Lenin ereilte ein noch schlimmeres Schicksal: Seine sterblichen Überreste wurden einbalsamiert; sein theoretisches Vermächtnis wurde gefälscht und in eine bürokratisch sanktionierte Staatsreligion umgemodelt. Bei Trotzki war so etwas nicht möglich. Seine Schriften und sein Handeln waren zu präzise in ihren revolutionären Implikationen. Außerdem blieben die von Trotzki analysierten politischen Probleme, die von ihm definierten sozio-politischen Beziehungen und selbst die Parteien, die er so treffend und erbarmungslos charakterisiert hatte, noch fast das gesamte Jahrhundert hindurch bestehen.
Im Jahr 1991 veröffentlichte die Duke University eine tausend Seiten umfassende Arbeit von Robert J. Alexander zur internationalen trotzkistischen Bewegung. In seiner Einführung trifft Alexander folgende Einschätzung:
Bis Ende der 1980er-Jahre sind die Trotzkisten in keinem Land jemals an die Macht gelangt. Obwohl der internationale Trotzkismus im Unterschied zu den Erben des Stalinismus nicht von einem fest etablierten Regime unterstützt wird, muss doch aus der Dauerhaftigkeit der Bewegung in einer Vielzahl unterschiedlicher Länder in Verbindung mit der Instabilität des politischen Lebens in den meisten Nationen der Welt geschlossen werden, dass der Machtantritt einer trotzkistischen Partei für die absehbare Zukunft nicht ausgeschlossen werden kann.[3]
Das »fest etablierte Regime« hat sich kurz nach dem Erscheinen von Alexanders Buch verflüchtigt. Die Sowjetbürokratie hatte Leo Trotzki niemals rehabilitiert. Die Geschichte steckt bekanntlich voller Ironien. Jahrzehntelang hatten die Stalinisten Trotzki unterstellt, er wolle die Sowjetunion vernichten und habe sich zu diesem Zweck mit den Imperialisten verschworen. Für diese vorgeblichen Verbrechen war Trotzki in Abwesenheit zum Tode verurteilt worden. Doch am Ende war es die Sowjetbürokratie selbst, die, wie Trotzki warnend vorausgesehen hatte, die UdSSR liquidierte. Und dies geschah, ohne dass sie jemals offen und geradeheraus die Vorwürfe gegen Trotzki und seinen Sohn Leon Sedow widerrufen hätte. Es fiel Gorbatschow und Jelzin leichter, das Todesurteil gegen die UdSSR zu unterschreiben als die vollkommene Verlogenheit sämtlicher Anklagen gegen Trotzki einzugestehen.
Trotz der ökonomischen und sozialen Veränderungen der vergangenen sechzig Jahre sind wir heute nicht allzu weit entfernt von den Problemen, Fragen und Themen, mit denen sich Trotzki auseinandersetzte. Auch nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zeichnen sich Trotzkis Schriften durch ein erstaunliches Maß an Aktualität aus. Das Studium seiner Schriften ist eine wesentliche Voraussetzung nicht nur für ein Verständnis der Politik des zwanzigsten Jahrhunderts, sondern auch für die politische Orientierung in der äußerst komplexen Welt des einundzwanzigsten Jahrhunderts.
Will man die Größe einer politischen Figur an Umfang und bleibender Bedeutung ihres Vermächtnisses messen, dann nimmt Trotzki unter den Führern des zwanzigsten Jahrhunderts den ersten Rang ein. Werfen wir einen kurzen Blick auf die politischen Persönlichkeiten, die in den 1940er-Jahren die Weltbühne beherrschten. Die totalitären Führer jener Ära – Hitler, Mussolini, Stalin, Franco – kann man kaum erwähnen, ohne ihre Namen zu verfluchen. Außer der Erinnerung an ihre unsäglichen Verbrechen haben sie nichts hinterlassen. Was die »großen« Führer der imperialistischen Demokratien angeht, Roosevelt und Churchill, so lässt sich nicht bestreiten, dass sie interessante Persönlichkeiten waren und im Rahmen des klassischen Parlamentarismus gewandt agierten. Churchill, der den amerikanischen Präsidenten überragte, war ein talentierter Redner und verfügte auch über gewisse schriftstellerische Fähigkeiten. Doch kann man wirklich von einem Vermächtnis dieser beiden Männer sprechen? Churchills Lobreden über das altersschwache britische Empire wurden selbst von vielen, die ihn bewunderten, als anachronistisch angesehen. Seine Schriften sind als historische Dokumente von Interesse, aber heute kaum noch aktuell. Roosevelt seinerseits war der vollendete Pragmatiker, der mit einer Mischung aus List und Intuition auf aktuelle Probleme reagierte. Kann man ernstlich behaupten, dass die Reden oder Schriften Churchills und Roosevelts (wobei Letzterer kein Buch verfasste) Analysen und Einsichten enthielten, die zu einem Verständnis der politischen Probleme zu Beginn des 21. Jahrhunderts beitrügen?
Schon zu Lebzeiten überragte Trotzki seine politischen Zeitgenossen. Der Einfluss all seiner Gegner war direkt bedingt und abhängig von ihrer Kontrolle über die Instrumente der Staatsmacht. Losgelöst von dieser Macht hätten sie schwerlich die Aufmerksamkeit der Welt auf sich gezogen. Getrennt vom Kreml und seinem Terrorapparat wäre Stalin nur das gewesen, was er vor dem Oktober 1917 war: »ein grauer Fleck«.
Im Jahr 1927 hatte man Trotzki formal jede Macht genommen. Dennoch war er niemals machtlos. Trotzki zitierte gern den berühmten Satz, mit dem Ibsen seinen Doktor Stockmann den »Volksfeind« abschließen lässt: »Der ist der stärkste Mann auf dieser Welt, der allein steht.« Diese Einsicht des großen norwegischen Stückeschreibers verwirklichte sich im Leben des größten aller russischen Revolutionäre. Die Stärke von Ideen und Idealen, die dem menschlichen Fortschrittsstreben entsprechen und es zum Ausdruck bringen, zeigte sich nirgends zeitloser als im Leben Leo Trotzkis.
Trotzki als Schriftsteller
Wenn man über Trotzkis Ansichten spricht, kann man nur schwer der Versuchung widerstehen, lange Passagen aus seinen Schriften zu zitieren. Zumindest würde man damit dem Publikum zu einer außergewöhnlichen ästhetischen Erfahrung verhelfen. Kein Leser, der eines objektiven Urteils fähig ist, könnte – unabhängig von seinen politischen Sympathien – bestreiten, dass Trotzki zu den größten Schriftstellern des zwanzigsten Jahrhunderts gehört.
Es ist etwa dreißig Jahre her, seit ich zum ersten Mal ein Buch von Trotzki las: seine monumentale Geschichte der russischen Revolution. Ich bin sicher nicht der Einzige, der sich lebhaft an die emotionale und intellektuelle Wirkung dieser ersten Begegnung mit Trotzkis Prosa erinnert. Da ich Trotzki in einer Übersetzung las, fragte ich mich, wie Leser des russischen Originals seine Statur als Schriftsteller bewerten würden. Es ergab sich eine unerwartete Gelegenheit, meine Neugier zu befriedigen. Ich besuchte einen Vortrag über russische Literatur von einem bejahrten Experten, der nach der Oktoberrevolution aus seiner Heimat geflohen war. Dieser Mann war gänzlich unverdächtig, mit Trotzki zu sympathisieren. Zum Abschluss seines Vortrags, der einen Überblick über die russische Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts gegeben hatte, fragte ich ihn nach seiner Meinung über die schriftstellerischen Qualitäten Trotzkis. Ich erinnere mich lebhaft sowohl an seine Antwort, wie auch an den starken Akzent, der ihr Nachdruck verlieh: »Trotzki«, antwortete er, »war der größte Meister der russischen Prosa seit Tolstoi.«
Viele Jahre später, während meines ersten Besuchs in der Sowjetunion 1989, hörte ich dieselbe Einschätzung von einem Studenten. Die Lektüre Trotzkis, bekannte er, bereite ihm große Mühe. Weshalb? »Wenn ich Trotzki lese«, erläuterte er, »muss ich ihm einfach zustimmen – obwohl ich es nicht möchte!«
Die Themenvielfalt in Trotzkis Schriften – Kunst, Literatur und Kultur, wissenschaftliche Entdeckungen, Probleme des Alltagslebens und natürlich Politik – ist nahezu unfassbar. Wir gewöhnliche Sterbliche, die wir mit weitaus bescheideneren Talenten zurechtkommen müssen, stehen staunend vor dem Umfang von Trotzkis literarischer Arbeit. Wie hat er das nur geschafft – vor der Erfindung der Textverarbeitung und der automatischen Rechtschreibprüfung? Ein Teil der Antwort liegt vielleicht in Trotzkis bemerkenswerter Fähigkeit, seine freie Rede ebenso schön und formvollendet zu gestalten wie sein Schreiben. Seine Diktate sind zweifellos eine ansprechendere Lektüre als die ausgefeiltesten Entwürfe selbst hervorragender Schriftsteller.
Viel verdankte Trotzki als herausragende literarische Figur des zwanzigsten Jahrhunderts den großen russischen Meistern des neunzehnten Jahrhunderts, besonders Turgenjew, Tolstoi, Herzen und Belinski. Derselbe Mann, der in martialischer Prosa Proklamationen und Kampfbefehle schrieb, die Millionen in Bewegung versetzten, konnte auch Absätze von bezaubernder Schönheit verfassen, wie beispielsweise folgende Erinnerung an einen Augenblick seiner Flucht aus dem sibirischen Exil im Jahr 1907:
Gleichmäßig und geräuschlos, gleich einem Kahn auf der Spiegelfläche eines Teiches, glitten wir über den Schnee. In der tiefen Dämmerung nahm der Wald noch gigantischere Dimensionen an. Ich sah den Weg nicht und empfand auch nicht die Vorwärtsbewegung unseres Schlittens. Es schien, als ob die verzauberten Bäume rasch auf uns zueilten, die Sträucher wichen vor uns zur Seite und die alten, schneebedeckten Baumstümpfe, sowie die schlanken Birken blieben weit hinter uns zurück. Alles schien geheimnisvoll … Tschu … tschu … tschu … hörte man das häufige und gleichmäßige Atmen der Rentiere in der lautlosen Stille der Waldnacht, und im Rahmen dieses Rhythmus tauchten im Gedächtnis Tausende längst vergessene Laute auf …[4]
Trotzki besaß ein außerordentliches Gespür für politische Paradoxa und Widersprüche. In einer Beschreibung seines eigenen Gerichtsprozesses nach der besiegten Revolution von 1905 schildert Trotzki den Gegensatz zwischen der düsteren und bedrohlichen Örtlichkeit des Gerichtsgebäudes, in dem es von »Gendarmen mit blanken Säbeln« wimmelte, und den »Blumen ohne Ende«, welche die Bewunderer und Anhänger der angeklagten Revolutionäre in den Gerichtssaal gebracht hatten:
In den Knopflöchern, in den Händen, auf den Knien, endlich auf der Anklagebank selber – Blumen. Und der Vorsitzende hat nicht den Mut, diese duftende Unordnung zu entfernen. Zu guter Letzt überbringen sogar Gendarmerieoffiziere und Gerichtsbeamte, ganz und gar »demoralisiert« von der im Gerichtssaale herrschenden Atmosphäre, den Angeklagten die Blumen vom Publikum.[5]
Kein Geringerer als Bernard Shaw bemerkte einmal, dass Trotzki, wenn er einem Gegner mit seiner Feder den Kopf abgetrennt hatte, der Versuchung nicht widerstehen konnte, ihn aufzuheben, um allen zu zeigen, dass kein Hirn darin war. Die eigentliche Kraft von Trotzkis Polemik lag allerdings in der Brillanz, mit der er die Kluft zwischen den subjektiven Zielen eines Politikers und der objektiven Entwicklung der gesellschaftlichen Gegensätze in einer revolutionären Epoche aufdeckte. Als Maßstab diente ihm die zwangsläufige Entfaltung des historischen Prozesses, sodass Trotzkis Kritik bei aller Schärfe niemals grausam, sondern einfach angemessen war. So schrieb er über den wichtigsten Führer der bürgerlichen Provisorischen Regierung im Jahr 1917:
Kerenski war kein Revolutionär, er hatte sich nur an der Revolution gerieben … Er besaß weder theoretische Vorbereitung, noch politische Schulung, noch Fähigkeit zu verallgemeinerndem Denken, noch politischen Willen. Alle diese Eigenschaften ersetzten flüchtige Aufnahmefähigkeit, leichte Entzündbarkeit und jene Rednergabe, die nicht auf Verstand oder Willen wirkt, sondern auf die Nerven.[6]
Und über den Führer der Sozialrevolutionäre, Wiktor Tschernow:
Mit bedeutenden, aber nicht zu einer Einheit verbundenen Kenntnissen, eher ein Bücherkundiger als ein gebildeter Mensch, hatte Tschernow stets eine unbeschränkte Auswahl passender Zitate zu seiner Verfügung, die lange auf die Fantasie der russischen Jugend gewirkt hatten, ohne sie viel zu lehren. Nur auf eine einzige Frage hatte dieser redselige Führer keine Antwort: Wen und wohin führt er? Die eklektischen Formeln Tschernows, aufgeputzt mit Moral und Verschen, vereinigten bis zu einer bestimmten Zeit das bunteste Publikum, das in allen kritischen Stunden nach verschiedenen Richtungen hin zerrte. Es ist nicht weiter verwunderlich, wenn Tschernow seine Methode der Parteibildung selbstzufrieden dem leninschen »Sektierertum« gegenüberstellte.[7]
Und schließlich über den verblassten Theoretiker der deutschen Sozialdemokratie:
Kautsky hat einen klaren und einzigen Rettungsweg: Die Demokratie. Es sei nur nötig, dass alle sie anerkennen und sich ihr unterordnen. Die rechten Sozialisten müssten die blutigen Gewalttaten aufgeben, die sie dem Willen der Bourgeoisie gemäß ausführen. Die Bourgeoisie selbst müsse dem Gedanken entsagen, mit Hilfe ihrer Noske und Leutnant Vogel ihre privilegierte Stellung bis zu Ende zu verteidigen. Endlich müsse das Proletariat ein für alle Mal dem Gedanken entsagen, die Bourgeoisie durch andere Mittel zu stürzen als diejenigen, die von der Verfassung vorgesehen sind. Bei der Befolgung der aufgezählten Bedingungen werde die soziale Revolution sich schmerzlos in Demokratie auflösen. Für den Erfolg genügt es, wie wir sehen, dass unsere stürmische Geschichte sich eine Nachtmütze auf den Kopf setze und die Weisheit der Tabakdose Kautskys entnehme.[8]
Man könnte ohne Weiteres den ganzen Tag damit zubringen, Absätze zu zitieren, in denen sich Trotzkis literarisches Genie auf glänzende Weise zeigt. Doch dieses Genie lag nicht nur oder in erster Linie in seinem Stil. Ein tiefer liegendes Element in Trotzkis gesamtem literarischen Werk lässt ihn jeden anderen politischen Denker seiner Zeit überragen. Wenn es möglich ist, dass Geschichte im Augenblick ihrer Entfaltung bewussten Ausdruck findet, dann tat sie dies in den Schriften Leo Trotzkis. Im Allgemeinen gibt es nichts Flüchtigeres als einen politischen Kommentar. Die Halbwertszeit selbst einer gut geschriebenen Zeitungskolumne ist für gewöhnlich nicht länger als die Zeit, die man braucht, um eine Tasse Kaffee zu trinken; dann wandert sie direkt vom Frühstückstisch ins Altpapier.
Bei Trotzkis Schriften ist dies anders – und damit beziehe ich mich nicht nur auf seine großen Werke, sondern auch auf seine Kommentare für die Tagespresse. Die Schriften und die Reden Leo Trotzkis scheinen bisweilen der erste Versuch der Geschichte selbst zu sein, sich über ihre Taten und Bestrebungen Rechenschaft abzulegen, so gut es irgend geht. Der Zweck von Trotzkis größten politischen Schriften, den Stellenwert der jüngsten Ereignisse in der welthistorischen Entwicklung der sozialistischen Revolution zu bestimmen, schlug sich in den von ihm gewählten Titeln nieder: »Wo stehen wir?«, »Wohin treibt England?«, »Wohin geht Frankreich?«, »Kapitalismus oder Sozialismus?« Lunatscharski sagte einmal über Trotzki: Er ist sich stets über seine Stellung in der Geschichte bewusst. Darin lag Trotzkis Stärke. Dies war die Quelle seiner politischen Widerstandskraft gegen den Opportunismus und gegen jeglichen Druck. Trotzki verstand den Marxismus als »Wissenschaft der Perspektive«.
Die Vernichtung des revolutionären Kaders durch den Stalinismus und die daraufhin einsetzende Erosion des Marxismus als theoretischer Waffe im Befreiungskampf der Arbeiterklasse hatte unter anderem zur Folge, dass alle möglichen Leute, die mit diesem Kampf überhaupt nichts zu tun hatten, als große Marxisten gefeiert wurden: marxistische Ökonomen, marxistische Philosophen, marxistische Ästhetiker usw. Wenn sie allerdings versuchten, ihre angebliche Beherrschung der Dialektik auf die politische Analyse der Tagesereignisse anzuwenden, zeigte sich ihre Inkompetenz. Trotzki war der letzte große Vertreter einer Schule des marxistischen Denkens – nennen wir sie die klassische Schule –, deren Beherrschung der Dialektik sich vor allem in der Fähigkeit äußerte, eine politische Situation einzuschätzen, eine politische Prognose zu entwickeln, eine strategische Orientierung auszugeben.
Eine Neubewertung Trotzkis
Eine der wichtigsten Aufgaben, der sich die Vierte Internationale in ihrer Geschichte verschrieben hatte, war die Verteidigung der historischen Rolle Trotzkis angesichts der Niedertracht der Stalinisten. Dies bedeutete nicht einfach die Verteidigung eines Individuums, sondern auch die Verteidigung des gesamten programmatischen Erbes des internationalen Marxismus und der Oktoberrevolution. Mit der Verteidigung Trotzkis bewahrte die Vierte Internationale die historische Wahrheit vor Fälschungen und vor dem Verrat an den Prinzipien, die der bolschewistischen Revolution zugrunde gelegen hatten.
Doch ist die Vierte Internationale mit dieser unnachgiebigen Verteidigung Trotzkis dem politischen und historischen Vermächtnis des »Alten« tatsächlich in vollem Umfang gerecht geworden? Nun, da das Jahrhundert, in dem Trotzki lebte, hinter uns liegt, ist wohl eine grundlegendere Würdigung seines politischen Vermächtnisses und seiner historischen Statur möglich geworden. Beginnen wir dabei mit einer kritischen Neubewertung einer bekannten Passage, in der Trotzki seinen eigenen Beitrag zum Erfolg der Oktoberrevolution von 1917 einschätzte.
In einem Tagebucheintrag mit Datum vom 25. März 1935 schrieb Trotzki:
Wäre ich 1917 nicht in Petersburg gewesen, so würde die Oktoberrevolution dennoch ausgebrochen sein – unter der Voraussetzung, dass Lenin anwesend gewesen wäre und die Führung übernommen hätte. Wären aber sowohl Lenin als auch ich von Petersburg abwesend gewesen, so hätte es keine Oktoberrevolution gegeben: Die Führung der bolschewistischen Partei hätte ihren Ausbruch verhindert (daran zweifle ich nicht im Geringsten!). Wäre Lenin damals nicht in Petersburg gewesen – ich würde den Widerstand der bolschewistischen Spitze wohl kaum gemeistert haben, der Kampf gegen den »Trotzkismus« (d. h. also gegen die proletarische Revolution) hätte bereits im Mai 1917 begonnen, und der Ausgang der Revolution wäre infrage gestellt gewesen. Ich wiederhole aber, dass angesichts Lenins die Oktoberrevolution sowieso zum Siege geführt hätte. Dasselbe lässt sich im Großen und Ganzen vom Bürgerkrieg behaupten, obwohl in dessen erster Phase, und besonders nach dem Verlust von Simbirsk und Kasan, Lenin wankend wurde und zu zweifeln begann; doch war das sicherlich nur eine vorübergehende Anwandlung, und er hat es sogar wohl kaum jemandem außer mir gestanden. So gesehen, kann ich nicht einmal hinsichtlich der Zeitspanne von 1917 bis 1921 von der »Unersetzlichkeit« meiner Arbeit sprechen.[9]
Trifft diese Einschätzung zu? Trotzki bezieht sich in diesem Absatz in erster Linie auf den politischen Kampf innerhalb der bolschewistischen Partei. Als Ausgangspunkt nimmt er berechtigterweise die entscheidende Bedeutung, die der Umorientierung der bolschewistischen Partei im April 1917 zukam. Lenins größte Leistung des Jahres 1917, von welcher der Erfolg der Revolution abhing, bestand darin, dass er den Widerstand alter bolschewistischer Führer, besonders Kamenews und Stalins, gegen eine strategische Wende in der bolschewistischen Politik überwand.
Die entscheidende Bedeutung dieses Kampfs innerhalb der bolschewistischen Partei unterstreicht nur die weitreichenden Implikationen der programmatischen Auseinandersetzungen, die früher innerhalb der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands stattgefunden hatten. Selbst wenn es in erster Linie Lenin war, der den Widerstand gegen die Machteroberung und gegen die Errichtung einer proletarischen Diktatur innerhalb der bolschewistischen Partei überwand, so kämpfte er doch in Wahrheit gegen die Anhänger einer politischen Linie, die er selbst zuvor im Gegensatz zur Perspektive Leo Trotzkis vertreten hatte.
Als Lenin im April 1917 nach Russland zurückkehrte und die Perspektive der »demokratischen Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft« widerrief, wurde dies weithin so interpretiert, dass er – wenn er es auch nicht offen zugab – die politische Linie übernahm, mit der Trotzki seit mehr als zehn Jahren assoziiert wurde: die permanente Revolution.
Die Theorie der permanenten Revolution
Ich möchte kurz auf die grundlegenden Fragen eingehen, mit denen die russische revolutionäre Bewegung in den letzten Jahrzehnten der zaristischen Herrschaft konfrontiert war. Um den Verlauf der gesellschaftlich-politischen Entwicklung Russlands vorherzusehen, entwickelten die Schulen des russischen Sozialismus drei mögliche, einander entgegengesetzte Varianten.
Plechanow, der Vater des russischen Marxismus, sah die gesellschaftliche Entwicklung Russlands in Begriffen einer formal-logischen Abfolge, in der die historischen Entwicklungsstadien von einem gegebenen ökonomischen Entwicklungsstand vorgezeichnet waren. Erst sollte der Feudalismus vom Kapitalismus abgelöst werden, und Letzterer würde seinerseits, sobald die erforderlichen Voraussetzungen der ökonomischen Entwicklung erreicht wären, dem Sozialismus weichen. Das theoretische Modell, dem nach Plechanow die russische Entwicklung folgen sollte, war dem historischen Muster der bürgerlich-demokratischen Evolution in Westeuropa nachgebildet. Die Möglichkeit, dass Russland vor den stärker entwickelten Ländern im Westen den Weg des Sozialismus einschlagen könnte, war nicht vorgesehen. An der Wende zum zwanzigsten Jahrhundert, so Plechanow, stand Russland die Aufgabe der bürgerlich-demokratischen Revolution noch bevor. Darunter verstand er den Sturz des Zarenregimes und die Schaffung der politischen und ökonomischen Voraussetzungen für eine künftige, noch weit entfernte, soziale Revolution. Aller Wahrscheinlichkeit nach standen Russland viele Jahrzehnte bürgerlich-demokratischer Entwicklung bevor, erst dann würde seine ökonomische und gesellschaftliche Struktur eine sozialistische Umwandlung tragen können. Dieses formale Konzept der russischen Entwicklung war in den ersten Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts die vorherrschende Lehrmeinung unter breiten Schichten der russischen sozialdemokratischen Bewegung. Plechanows Position war jedoch mit einem ungelösten Widerspruch behaftet, der das besondere Wesen der Gesellschaftsentwicklung in Russland widerspiegelte. Schon 1889 hatte Plechanow vorausgesehen, dass die russische Arbeiterklasse in der bevorstehenden Revolution die führende Rolle spielen würde. Er erklärte auf dem Gründungskongress der Zweiten Internationale, dass die russische Revolution nur als Arbeiterrevolution gelingen könne. Aber wie vertrug sich diese Einsicht mit einer Perspektive, die davon ausging, dass nach der Revolution die russische Bourgeoisie die Macht ausüben müsse? Auf diese Frage gab Plechanow niemals eine zufrieden stellende Antwort.
Die Ereignisse von 1905 – der Ausbruch der ersten russischen Revolution – stellten die Gültigkeit von Plechanows theoretischem Modell in Frage. Der wichtigste Aspekt der russischen Revolution war die dominierende politische Rolle des Proletariats im Kampf gegen den Zarismus. Vor dem Hintergrund von Generalstreik und Aufstand nahmen sich die Manöver der politischen Führer der russischen Bourgeoisie kleinlich und verräterisch aus. Sie brachte keinen Robespierre oder Danton hervor. Die Kadettenpartei (Konstitutionelle Demokraten) hatte keinerlei Ähnlichkeit mit den Jakobinern.
Lenins Analyse war tiefer und weitgehender als die Plechanows. Er akzeptierte den bürgerlich-demokratischen Charakter der russischen Revolution. Doch mit dieser Definition war die Frage nach den Beziehungen zwischen den Klassen und nach der Machtverteilung in der Revolution noch nicht beantwortet. Lenin beharrte darauf, dass die Aufgabe der Arbeiterklasse darin bestand, durch ihre unabhängige Organisation und ihren unabhängigen Einsatz für eine möglichst umfassende und radikale Entwicklung der bürgerlich-demokratischen Revolution zu sorgen. Er setzte sich also für die kompromisslose Vernichtung aller ökonomischen, politischen und sozialen Überbleibsel des zaristischen Feudalismus ein. Auf diese Weise sollten die günstigsten Voraussetzungen für eine wirklich progressive demokratische Verfassung geschaffen werden, damit sich in diesem Rahmen die russische Arbeiterbewegung entfalten könne. Im Zentrum dieser demokratischen Revolution stand für Lenin die Lösung der »Agrarfrage«. Darunter verstand er die Zerschlagung aller ökonomischen und rechtlichen Überreste des Feudalismus. Die ausgedehnten Ländereien des Adels bildeten ein enormes Hindernis für die Demokratisierung des russischen Lebens und für die Entwicklung einer modernen kapitalistischen Wirtschaft.
Lenins Auffassung der bürgerlichen Revolution wurde – im Gegensatz zu jener Plechanows – nicht durch eine formelle Herangehensweise beschränkt. Er näherte sich der bürgerlich-demokratischen Revolution praktisch von innen heraus. Er ging nicht von einem formalen politischen Schema aus – dass eine parlamentarische Demokratie das unvermeidliche Ergebnis der bürgerlichen Revolution sein würde –, sondern bemühte sich darum, die politische Form der Revolution aus dem wesentlichen, ihr innewohnenden sozialen Inhalt abzuleiten.
Lenin erkannte zwar die enormen gesellschaftlichen Aufgaben, die mit Russlands bevorstehender demokratischer Revolution verbunden waren, beharrte aber – im Gegensatz zu Plechanow – darauf, dass diese nicht unter der politischen Führung der russischen Bourgeoisie verwirklicht werden konnten. Der Sieg der bürgerlich-demokratischen Revolution in Russland war nur dann möglich, wenn die Arbeiterklasse den Kampf um Demokratie unabhängig, ja sogar im Gegensatz zur Bourgeoisie führte. Doch aufgrund ihrer zahlenmäßigen Schwäche konnte die Arbeiterklasse allein keine ausreichende Massenbasis für die demokratische Revolution stellen. Das russische Proletariat musste für eine kompromisslose, radikaldemokratische Lösung der Landfrage eintreten, um die millionenköpfige russische Bauernschaft für sich zu gewinnen.
Welche staatliche Form würde also das Regime annehmen, das aus diesem revolutionären Bündnis der beiden großen Volksklassen hervorginge? Lenins Konzeption sah eine »demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft« vor. Die beiden Klassen würden die Staatmacht teilen und gemeinsam über die möglichst umfassende Umsetzung der demokratischen Revolution wachen. Lenin äußerte sich nicht im Einzelnen zu den Arrangements der Machtteilung, zu denen es in einem solchen Regime käme, und definierte auch nicht die Staatsform, in der diese Diktatur von zwei Klassen ausgeübt werden könnte.
Ungeachtet des erwarteten politischen Radikalismus betonte Lenin, dass das Ziel der demokratischen Diktatur nicht in der sozialistischen Umgestaltung der Gesellschaft liegen würde. Die Revolution würde, was ihr ökonomisches Programm anging, notwendigerweise im Rahmen des Kapitalismus verbleiben. Selbst wenn Lenin für eine radikale Lösung der Landfrage eintrat, betonte er, dass die Verstaatlichung des Bodens, die sich gegen die russischen Großgrundbesitzer richtete, keine sozialistische, sondern eine bürgerlich-demokratische Maßnahme sei.
Zu diesem entscheidenden Punkt äußerte sich Lenin in seiner Polemik unmissverständlich. Im Jahr 1905 schrieb er:
Die Marxisten sind durchaus vom bürgerlichen Charakter der russischen Revolution überzeugt. Was heißt das? Das heißt, dass die demokratischen Reformen …, die für Russland eine Notwendigkeit geworden sind, nicht nur als solche noch keinen Anschlag auf den Kapitalismus bedeuten, keinen Angriff auf die Vorherrschaft der Bourgeoisie, sondern dass sie im Gegenteil zum ersten Mal das Terrain bereinigen für eine breite und schnelle europäische und nicht asiatische Entwicklung des Kapitalismus, dass sie zum ersten Mal die Herrschaft der Bourgeoisie als Klasse möglich machen.[10]
Trotzkis Position unterschied sich völlig sowohl von jener der Menschewiki als auch von der Lenins. Trotz ihrer unterschiedlichen Schlussfolgerungen gründeten sowohl Plechanow als auch Lenin ihre Perspektiven auf das gegebene Entwicklungsstadium der russischen Wirtschaft und auf die Beziehungen zwischen den sozialen Kräften innerhalb des Landes. Dagegen war Trotzkis Ausgangspunkt nicht das bestehende Wirtschaftsniveau Russlands oder die Klassenbeziehungen im Lande, sondern der welthistorische Kontext, innerhalb dessen sich Russlands verspätete demokratische Revolution entfalten musste.
Trotzki zeichnete den historischen Werdegang der bürgerlichen Revolution nach: von ihrer klassischen Manifestation im achtzehnten Jahrhundert durch die Wechselfälle des neunzehnten Jahrhunderts und schließlich im modernen Kontext von 1905. Er erklärte, wie die Veränderungen der historischen Bedingungen – insbesondere die Entwicklung der Weltwirtschaft und die Herausbildung der internationalen Arbeiterklasse – die soziale und politische Dynamik der bürgerlich-demokratischen Revolution verwandelt hatte. Traditionelle politische Gleichungen, abgeleitet aus den Bedingungen, wie sie Mitte des neunzehnten Jahrhunderts vorgeherrscht hatten, waren in der neuen Situation von geringem Wert.
Trotzki erkannte die politische Beschränktheit von Lenins Formel. Sie war politisch unrealistisch: Sie löste das Problem der Staatsmacht nicht, sondern wich ihm aus. Trotzki akzeptierte nicht, dass das russische Proletariat sich mit Maßnahmen streng demokratischen Charakters begnügen würde. Die Realität der Klassenbeziehungen würde die Arbeiterklasse zwingen, ihre politische Diktatur gegen die ökonomischen Interessen der Bourgeoisie zu richten. Mit anderen Worten, der Kampf der Arbeiterklasse würde unweigerlich sozialistischen Charakter annehmen. Doch wie war dies angesichts der Rückständigkeit Russlands möglich? Angesichts seiner beschränkten ökonomischen Entwicklung war das Land eindeutig nicht reif für den Sozialismus.
Wenn man die russische Revolution nur aus sich heraus betrachtete, schien es keine Lösung für dieses Problem zu geben. Wenn man sie jedoch aus dem Blickwinkel der Weltgeschichte und der internationalen Entwicklung des Kapitalismus untersuchte, dann zeichnete sich eine überraschende Lösung ab. Schon im Juni 1905 stellte Trotzki fest, dass »der Kapitalismus die gesamte Welt in einen einzigen ökonomischen und politischen Organismus verwandelt hat«. Trotzki erfasste die Implikationen dieses Wandels in der Struktur der Weltwirtschaft:
Das verleiht den sich entwickelnden Ereignissen von Anfang an einen internationalen Charakter und eröffnet eine große Perspektive: Die politische Emanzipation, geleitet von der Arbeiterklasse Russlands, hebt diese ihre Führerin auf eine in der Geschichte bisher unbekannte Höhe, legt kolossale Kräfte und Mittel in ihre Hand, lässt sie die weltweite Vernichtung des Kapitalismus beginnen, für die die Geschichte alle objektiven Voraussetzungen geschaffen hat.[11]
Trotzkis Herangehensweise stellte einen wichtigen theoretischen Durchbruch dar. Sie führte zu einer Verschiebung der analytischen Perspektive, unter der revolutionäre Prozesse betrachtet wurden. Vor 1905 wurden Revolutionen als Resultat fortschreitender nationaler Ereignisse aufgefasst, deren Ergebnis von der Logik ihrer inneren sozioökonomischen Struktur und Beziehungen bestimmt wurde. Trotzki trat für eine andere Herangehensweise ein: Die Revolution sollte in der modernen Epoche als ein im Wesentlichen welthistorischer Prozess aufgefasst werden, ein Prozess des Übergangs von der Klassengesellschaft, die politisch in Nationalstaaten verwurzelt ist, zu einer klassenlosen Gesellschaft, die sich auf der Grundlage einer global integrierten Wirtschaft und der international vereinten Menschheit entwickelt.
Trotzki entwickelte diese Konzeption des revolutionären Prozesses zu einem Zeitpunkt, als die sozialistische Bewegung mit einer Flut sozioökonomischer und politischer Daten konfrontiert war, die innerhalb des bestehenden theoretischen Rahmens nicht angemessen verarbeitet werden konnten. Wegen ihrer schieren Komplexität entzog sich die moderne Weltwirtschaft den alten, formalen Definitionen. Die Entwicklung der Weltwirtschaft wirkte mit bis dahin unbekannter Stärke auf jede nationale Wirtschaft ein. Selbst rückständige Ökonomien wiesen – infolge von Investitionen aus dem Ausland – einige hoch entwickelte Merkmale auf. Es gab feudalistische oder semi-feudalistische Regime, deren politische Strukturen in Überbleibseln des Mittelalters verhaftet waren, während die Wirtschaft der von ihnen beherrschten Länder stark von der Schwerindustrie geprägt war. Es war auch nicht ungewöhnlich, dass man in Ländern mit verspäteter kapitalistischer Entwicklung auf eine Bourgeoisie traf, die weniger Interesse am Erfolg »ihrer« demokratischen Revolution an den Tag legte als die einheimische Arbeiterklasse. Diese Anomalien passten nicht zu formalstrategischen Schemata, die in ihren Prognosen von gesellschaftlichen Verhältnissen ausgingen, die weniger von inneren Widersprüchen zerrissen waren.
Trotzkis große Leistung bestand in der Ausarbeitung eines Theorierahmens, der den modernen sozialen, ökonomischen und politischen Komplexitäten gerecht wurde. Es war nichts Utopisches an Trotzkis Ansatz. Er entsprang vielmehr einer tiefen Einsicht in die Auswirkungen der Weltwirtschaft auf das gesellschaftliche und politische Leben. Eine realistische Herangehensweise an die Politik und die Erarbeitung einer wirkungsvollen revolutionären Strategie hingen davon ab, dass die sozialistischen Parteien vom objektiv gegebenen Primat des Internationalen gegenüber dem Nationalen ausgingen. Dies erschöpfte sich nicht im Eintreten für internationale proletarische Solidarität. Ohne ein Verständnis ihrer wesentlichen, objektiven Grundlage in der Weltwirtschaft, und ohne die Realität der Weltwirtschaft zur Grundlage des strategischen Denkens zu machen, würde der proletarische Internationalismus ein utopisches Ideal bleiben, das keinen inneren Zusammenhang zu Programm und Praxis national basierter sozialistischer Parteien aufwies.
Trotzki analysierte die historische Entwicklung des Weltkapitalismus und die objektive Abhängigkeit Russlands von der internationalen ökonomischen und politischen Entwicklung. Auf dieser Basis sah er voraus, dass die russische Revolution unweigerlich eine sozialistische Richtung einschlagen musste. Die russische Arbeiterklasse würde gezwungen sein, die Macht zu erobern und Maßnahmen sozialistischen Charakters zu ergreifen. Doch auf dem einmal eingeschlagenen sozialistischen Kurs würde die Arbeiterklasse in Russland unvermeidlich an die Schranken der nationalen Umgebung stoßen. Wie würde sie dieses Dilemma lösen? Indem sie ihr Schicksal mit der europäischen und der Weltrevolution verknüpfte, deren Manifestation ihr eigener Kampf letztlich war.
Trotzkis Theorie der permanenten Revolution ermöglichte eine realistische Konzeption der Weltrevolution. Das Zeitalter der nationalen Revolutionen war zu Ende – oder, um genauer zu sein, nationale Revolutionen konnten nur noch im Rahmen der internationalen sozialistischen Revolution verstanden werden.
Trotzki und die Bolschewiki
Wenn man sich die Implikationen von Trotzkis Analyse vor Augen führt, gelangt man zu einem besseren Verständnis seiner Differenzen sowohl mit den Menschewiki als auch den Bolschewiki. Es ist nicht meine Absicht, in irgendeiner Weise die Bedeutung von Lenins großer Leistung herabzumindern. Tiefer als jeder andere verstand er die politische Bedeutung des Kampfs gegen den Opportunismus in der revolutionären Bewegung. Er führte ihn auf allen Ebenen der Parteiarbeit und der Organisation. Doch so wichtig und entscheidend die Fragen der revolutionären Organisation sind, die Erfahrung des zwanzigsten Jahrhunderts lehrt die Arbeiterklasse, bzw. sollte sie lehren, dass selbst die standhafteste Organisation zu einem Hindernis für die Revolution werden kann und wird, wenn sie sich nicht von einer korrekten revolutionären Perspektive leiten lässt.
Trotzki beurteilte sämtliche Tendenzen innerhalb der russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei anhand ihrer Perspektive und ihres Programms. In welchem Maße, fragte Trotzki, basierte ihr politisches Programm auf einer zutreffenden Einschätzung der international wirksamen Kräfte, die Evolution und Schicksal der russischen Revolution bestimmen würden? Von diesem Standpunkt aus stand Trotzki Programm und Orientierung der bolschewistischen Partei zu Recht kritisch gegenüber. Ich möchte aus einem Artikel zitieren, in dem er 1909 die verschiedenen Positionen der unterschiedlichen Fraktionen innerhalb der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands besprach. Er schrieb:
Lenin glaubt, die Widersprüche zwischen den Klasseninteressen des Proletariats und der objektiven Lage würden gelöst, indem sich das Proletariat eine politische Beschränkung setzt. Diese Selbstbeschränkung ergäbe sich aus der theoretischen Einsicht des Proletariats, dass die Revolution, in der es eine führende Rolle spielt, eine bürgerliche Revolution ist. Lenin verlagert den objektiven Widerspruch in das Bewusstsein des Proletariats und löst ihn mittels einer Klassenaskese, die nicht im religiösen Glauben, sondern in einem sogenannten wissenschaftlichen Schema wurzelt. Es genügt, dieses intellektuelle Konstrukt deutlich zu betrachten, um zu verstehen, wie hoffnungslos idealistisch es ist …
Der Haken ist, dass sich die Bolschewiki den Klassenkampf des Proletariats nur bis zum Moment der Revolution und ihres Siegs vorstellen. Danach betrachten sie ihn als vorübergehend in der demokratischen Koalition aufgelöst. Erst nach der endgültigen Errichtung eines republikanischen Systems soll er wieder in reiner Form entstehen, diesmal als direkter Kampf für den Sozialismus. Wenn die Menschewiki, von der Abstraktion ausgehend, unsere Revolution sei bürgerlich, zu dem Gedanken kommen, die gesamte Taktik des Proletariats sei dem Verhalten der liberalen Bourgeoisie, einschließlich deren Eroberung der Staatsmacht, anzupassen, so kommen die Bolschewiki, ausgehend von derselben nackten Abstraktion der »demokratischen, nicht sozialistischen Diktatur«, zum Gedanken der bürgerlich-demokratischen Selbstbeschränkung des Proletariats, in dessen Händen sich die Staatsmacht befindet. Der Unterschied zwischen ihnen in dieser Frage ist allerdings recht bedeutend: Während die antirevolutionären Seiten des Menschewismus sich in ihrer ganzen Kraft bereits jetzt äußern, drohen die antirevolutionären Züge des Bolschewismus als große Gefahr erst im Falle des revolutionären Siegs.[12]
Dies war eine scharfsinnige Vorwegnahme der russischen Revolution. Kaum war das zaristische Regime gestürzt, da zeigte sich auch schon die Beschränktheit von Lenins Perspektive der demokratischen Diktatur. Trotzki führte weiter aus, dass die russische Arbeiterklasse gezwungen sein werde, die Macht zu erobern, und »mit den objektiven Problemen des Sozialismus konfrontiert wird. Die Lösung dieser Probleme wird aber in einem gewissen Stadium durch die wirtschaftliche Rückständigkeit des Landes verhindert. Im Rahmen einer nationalen Revolution gibt es keinen Ausweg aus diesem Widerspruch.« Trotzki erkannte also, dass die Beschränktheit von Lenins Perspektive nicht nur in ihrer politischen Prognose lag, sondern dass diese Prognosen auf einer nationalen, nicht internationalen Sicht der Umstände beruhten, innerhalb derer sich die russische Revolution entfalten würde.
Trotzki fuhr fort:
Die Arbeiterregierung wird vor der Aufgabe stehen, ihre Kräfte mit jenen des sozialistischen Proletariats Westeuropas zu vereinen. Nur so wird ihre zeitweilige revolutionäre Vorherrschaft zum Prolog der sozialistischen Diktatur werden. So wird die permanente Revolution für das russische Proletariat zu einer Frage des Selbsterhalts als Klasse. Wenn sich die Arbeiterpartei nicht ausreichend für eine aggressive revolutionäre Taktik einsetzt, wenn sie sich auf die magere Diät einer rein demokratischen und rein nationalen Diktatur setzt, dann werden die reaktionären Kräfte Europas ohne Umschweife deutlich machen, dass eine Arbeiterklasse, die sich einmal an der Macht befindet, ihre ganze Kraft in den Kampf für die sozialistische Revolution stecken muss.[13]
Das war der entscheidende Punkt. Die unterschiedlichen Vorstellungen über die politische Form der künftigen Staatsmacht ergaben sich aus unterschiedlichen Einschätzungen bezüglich der Bedeutung des Internationalen als ausschlaggebendem Faktor für das politische Resultat der revolutionären Bewegung.
Das Folgende muss hinsichtlich der Entwicklung der bolschewistischen Partei festgehalten werden: Jedes Programm widerspiegelt den Einfluss und die Interessen sozialer Kräfte. In Ländern mit verzögerter bürgerlicher Entwicklung, in der die Bourgeoisie unfähig ist, die nationalen und demokratischen Aufgaben der Revolution konsequent zu verfechten, fließen bestimmte Elemente dieser Aufgaben in das Programm der Arbeiterklasse ein. Die Arbeiterklasse muss jene demokratischen und nationalen Forderungen, denen noch eine progressive Bedeutung zukommt, aufgreifen. Im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts war die sozialistische Bewegung häufig gezwungen, die Verantwortung für demokratische und nationale Aufgaben zu schultern und Elemente in ihre Reihen aufzunehmen, für die diese Aufgaben im Mittelpunkt standen – und denen die sozialistischen und internationalen Bestrebungen der Arbeiterklasse weitaus weniger bedeuteten. Die Vermischung von national-demokratischen und sozialistischen Tendenzen hat in der Entwicklung der bolschewistischen Partei eine Rolle gespielt. Lenin vertrat innerhalb der bolschewistischen Partei zweifellos die konsequenteste Opposition gegen diese Art nationalistischer und kleinbürgerlich-demokratischer Voreingenommenheit. Er war sich über ihre Existenz bewusst und konnte sie nicht einfach ignorieren.
Im Dezember 1914, nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs, schrieb Lenin:
Ist uns großrussischen klassenbewussten Proletariern das Gefühl des nationalen Stolzes fremd? Gewiss nicht! Wir lieben unsere Sprache und unsere Heimat, wir wirken am meisten dafür, dass ihre werktätigen Massen (d. h. neun Zehntel ihrer Bevölkerung) zum bewussten Leben erhoben werden, dass sie Demokraten und Sozialisten werden. Es schmerzt uns am meisten, zu sehen und zu fühlen, welchen Gewalttaten, welcher Unterdrückung und welchen Schmähungen die Zarenschergen, Gutsbesitzer und Kapitalisten unsere schöne Heimat unterwerfen. Wir sind stolz darauf, dass diese Gewalttaten Widerstand in unserer Mitte, im Lager der Großrussen hervorgerufen haben, dass aus diesem Lager Radistschew, die Dekabristen, die Rasnotschinzen-Revolutionäre der siebziger Jahre hervorgegangen sind, dass die großrussische Arbeiterklasse im Jahre 1905 eine mächtige revolutionäre Massenpartei geschaffen, dass der großrussische Bauer zur selben Zeit Demokrat zu werden und den Popen und den Gutsbesitzer davonzujagen begonnen hat.
… Wir sind erfüllt vom Gefühl nationalen Stolzes, denn die großrussische Nation hat gleichfalls eine revolutionäre Klasse hervorgebracht, hat gleichfalls bewiesen, dass sie imstande ist, der Menschheit große Vorbilder des Kampfs für die Freiheit und den Sozialismus zu geben und nicht nur große Pogrome, Galgenreihen und Folterkammern, große Hungersnöte und große Kriecherei vor den Popen, den Zaren, den Gutsbesitzern und Kapitalisten.[14]
Lenin war der Autor dieser Zeilen, doch man täte ihm Unrecht, würde man diesen Artikel als politisches Zugeständnis an den großrussischen Chauvinismus werten. Seine gesamte Biografie bezeugt seine unversöhnliche Opposition gegen den großrussischen Nationalismus. Der Artikel war ein Versuch Lenins, revolutionären Einfluss auf die tief verwurzelten nationalistischen Empfindungen der arbeitenden Massen zu nehmen und diese Gefühle für revolutionäre Zwecke zu gebrauchen. Er zeigt, dass Lenin die starken nationalistischen Regungen nicht nur in der Arbeiterklasse, sondern auch in Teilen seiner eigenen Partei deutlich empfand. Die Ausnutzung nationalistischer Gefühle für revolutionäre Zwecke – im Gegensatz zur Anpassung revolutionärer Ziele an Nationalismus – ist eine schwierige Gratwanderung. Die Botschaft, die der Autor vermitteln will, entspricht nicht unbedingt der Interpretation seines Publikums. Unweigerlich leidet die politische Qualität der Botschaft, wenn sie bei einem breiten Publikum ankommt. Was Lenin als Tribut an die revolutionären Traditionen der großen russischen Arbeiterklasse verstanden wissen wollte, wurde von eher rückständigen Teilen der Parteiarbeiter aller Wahrscheinlichkeit nach als Loblied auf die revolutionären Fähigkeiten der Großrussen interpretiert. Und dies ist ungeachtet seiner linken Form eine Spielart des Chauvinismus mit gefährlichen politischen Implikationen, wie Trotzki 1915 aufzeigte. Er schrieb damals:
Wenn man die Perspektive der sozialen Revolution im nationalen Rahmen betrachten würde, so würde das bedeuten, ein Opfer derselben nationalen Engstirnigkeit zu werden, die das Wesen des Sozialpatriotismus ausmacht. … Man darf ganz allgemein nicht vergessen, dass innerhalb des Sozialpatriotismus neben dem vulgärsten Reformismus auch ein nationaler revolutionärer Messianismus existiert, der gerade seinen eigenen Nationalstaat, sei es wegen dessen industriellem Niveau oder dessen »demokratischen« Formen und revolutionären Errungenschaften, für berufen hält, die Menschheit zum Sozialismus oder zur »Demokratie« zu führen. Wenn eine siegreiche Revolution tatsächlich innerhalb der Grenzen einer einzelnen, entwickelteren Nation denkbar wäre, dann wäre dieser Messianismus und mit ihm das Programm der nationalen Verteidigung historisch verhältnismäßig gerechtfertigt. Doch er ist es natürlich nicht. Denn der Kampf für die Erhaltung der nationalen Basis der Revolution mit solchen Methoden, welche die internationalen Verbindungen des Proletariats untergraben, bedeutet in Wirklichkeit die Untergrabung der Revolution selbst. Denn diese kann nur auf nationaler Basis beginnen, doch sie kann angesichts der gegenwärtigen wirtschaftlichen, militärischen und politischen gegenseitigen Abhängigkeit der europäischen Staaten, die noch nie so deutlich zutage getreten ist wie gerade während des gegenwärtigen Kriegs, niemals auf ihr vollendet werden.[15]
Es wäre lohnend, die Umstände zu studieren, unter denen Lenin seine politische Perspektive neu bewertete. Sein Studium der Weltwirtschaft unter dem Eindruck des Ersten Weltkriegs ermöglichte ihm tiefere Einblicke in die Dynamik der russischen Revolution und veranlasste ihn, im Wesentlichen die Perspektive zu übernehmen, die bereits seit vielen Jahren mit Trotzki in Zusammenhang gebracht wurde.
Als Lenin 1917 seine Aprilthesen verlas, war den Zuhörern sofort klar, dass er in seiner Argumentation Trotzki folgte. Auf der Stelle wurde der Vorwurf des »Trotzkismus« erhoben, und schon diese Tatsache allein beweist die Größe von Trotzkis geistigem Beitrag zum Erfolg der Revolution in diesem Jahr. Trotzki hatte bereits einen begrifflichen und politischen Rahmen geschaffen, innerhalb dessen die Debatte in der bolschewistischen Partei voranschreiten konnte. Sie kam nicht wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Wenn Lenins Persönlichkeit und sein unumstrittenes Ansehen innerhalb der bolschewistischen Partei einen relativ raschen Sieg der neuen Perspektive ermöglichten, so begünstigte Trotzkis Pionierarbeit am Konzept der permanenten Revolution Lenins Kampf in der bolschewistischen Partei, insbesondere unter Bedingungen, als sich die Massen in Russland 1917 nach links bewegten.
In gewissem Sinne folgten die Ereignisse vom Frühjahr, Sommer und Herbst 1917 der Entwicklung zwölf Jahre zuvor. Ich möchte einen interessanten Absatz aus dem Buch »Die Ursprünge des Bolschewismus« von dem Menschewiken Theodor Dan vorlesen. Folgendermaßen äußert er sich über das Jahr 1905:
Die Situation in den »Tagen der Freiheit« [des Höhepunkts der Revolution von 1905] war … so, dass sie praktisch die Menschewiken wie die Bolschewiken auf die Seite des »Trotzkismus« drängte. Der »Trotzkismus« wurde für kurze Zeit (freilich damals noch ohne Namen) zum ersten und letzten Mal in der Geschichte der russischen Sozialdemokratie eine gemeinsame Plattform.[16]
Also gewann 1905, unter Bedingungen einer äußerst explosiven Linkswendung der russischen Arbeiterklasse, Trotzkis Perspektive enorm an Ansehen und Gewicht. Dies wiederholte sich 1917. Der Sieg von 1917 bestätigte Trotzkis Perspektive der permanenten Revolution. Andererseits fand 1922–1923 die beginnende politische Reaktion gegen die Oktoberrevolution und das Wiederaufkommen des russischen Nationalismus seinen Ausdruck im erneuten Wachstum der alten, antitrotzkistischen Tendenzen innerhalb der bolschewistischen Partei. Man kann die damaligen Tendenzen nicht getrennt von den politischen Zerwürfnissen betrachten, die es bereits zuvor in der bolschewistischen Partei gegeben hatte. Damit ist nicht gesagt, dass sie identisch waren.
Das Wachstum des Bolschewismus im Jahr 1917 beruhte auf einer stürmischen Radikalisierung der Arbeiterklasse in den großen städtischen Zentren. Die sozialen Kräfte, die dem Wachstum der Partei 1922 und 1923 zugrunde lagen und die Lenin große Sorgen bereiteten, bestanden in hohem Maße aus nichtproletarischen Elementen, insbesondere aus den unteren Mittelklassen in den städtischen Zentren, denen die Revolution unzählige Karrieremöglichkeiten eröffnet hatte – von den Überbleibseln der alten zaristischen Bürokratie ganz zu schweigen. In den Augen dieser Elemente war die russische Revolution mehr oder weniger ein nationales, kein internationales Ereignis. Schon 1922 warnte Lenin vor diesem Phänomen, dem Anwachsen einer Art von nationalem Bolschewismus. Immer dringlicher verurteilte er die chauvinistischen Tendenzen. Diese Warnungen richteten sich Ende 1922 und Anfang 1923 insbesondere gegen Stalin, der sich nach Lenins Ansicht zum abscheulichen Typus des brutalen großrussischen Chauvinisten entwickelte.
Der Kampf gegen den Trotzkismus war im Wesentlichen ein Wiedererstarken der politischen Opposition gegen die Theorie der permanenten Revolution innerhalb der Partei. Weshalb hat Trotzki dies nicht offen ausgesprochen? Meiner Ansicht nach liegt die Antwort in den außerordentlich schwierigen Umständen, die durch Lenins letzte Krankheit und durch seinen Tod geschaffen wurden. Trotzki empfand es einfach als unmöglich, so offen über seine früheren Differenzen mit Lenin zu sprechen, wie er es vermutlich gern getan hätte. Erst Adolf Joffe übernahm es, in seinem berühmten Abschiedsbrief an Trotzki diese Differenzen objektiv und ungeschminkt zur Sprache zu bringen. Er schrieb diesen Brief im November 1927, nur Stunden, bevor er sich das Leben nahm, um gegen Trotzkis Ausschluss aus der Kommunistischen Partei zu protestieren. Joffe schrieb, er habe Lenin oft sagen hören, dass hinsichtlich der grundlegenden Perspektivfragen – einschließlich der Frage der permanenten Revolution – nicht er, sondern Trotzki Recht gehabt habe.
Der unterschwellige Nationalismus der politischen Tendenzen, die sich in der Parteiführung entwickelten, blieb Trotzki kaum verborgen. Gegen Ende seines Lebens erklärte Trotzki ausdrücklich, der Kampf gegen den Trotzkismus in der Sowjetunion habe in den Differenzen gewurzelt, die schon vor 1917 in der bolschewistischen Partei geherrscht hatten. Im Jahr 1939 schrieb er: »Man kann sagen, dass der ganze ›Stalinismus‹ in ›theoretischer‹ Hinsicht aus der Kritik der Theorie der permanenten Revolution, so wie sie im Jahre 1905 formuliert worden war, hervorgegangen ist.«[17]
Trotzki wird als Theoretiker der Weltrevolution im Bewusstsein der revolutionären Bewegung bleiben. Natürlich lebte er länger als Lenin und wurde mit neuen Problemen konfrontiert. Dennoch weisen Trotzkis gesamte Schriften von 1905 bis zu seinem Tod 1940 eine ganz bestimmte Kontinuität auf. Ihr entscheidendes und wesentliches Thema ist stets die Perspektive der Weltrevolution. Lenins gesamtes Wesen ist in der russischen Revolution aufgehoben. Doch für Trotzki war sie eine Episode in seinem Leben – eine sehr große Episode, gewiss, aber eben doch nur eine Episode im größeren Drama der sozialistischen Weltrevolution.
Es würde den Rahmen dieses Vortrags sprengen, noch auf Trotzkis Arbeit nach seiner Verdrängung von der politischen Macht einzugehen. Abschließend möchte ich lediglich ein entscheidendes Element in Trotzkis theoretischem Vermächtnis betonen: seine Rolle als letzter großer Vertreter des klassischen Marxismus.
Mit dem Begriff des klassischen Marxismus verbinden wir zwei fundamentale Auffassungen: erstens, dass die Arbeiterklasse die grundlegende revolutionäre Kraft in der Gesellschaft ist, und zweitens, dass die wichtigste Aufgabe von Marxisten darin besteht, unermüdlich auf theoretischer und auf praktischer Ebene für ihre politische Unabhängigkeit zu kämpfen. Die sozialistische Revolution ist das Endprodukt dieser ständigen, kompromisslosen Arbeit. Die politische Unabhängigkeit der Arbeiterklasse erreicht man nicht durch eine clevere Taktik, sondern durch Bildung im grundlegenden Sinne – vor allem durch die Bildung ihrer politischen Avantgarde. Es gibt keine Abkürzungen. Wie Trotzki häufig warnte, ist die Ungeduld der größte Feind der revolutionären Strategie.
Das zwanzigste Jahrhundert war Zeuge der größten Siege und tragischer Niederlagen der Arbeiterklasse. Es ist notwendig, die Lehren aus den vergangenen einhundert Jahren zu ziehen. Nur unsere Bewegung hat sich dieser Aufgabe angenommen. Die Geschichte kennt keine Vergeblichkeit und kein Vergessen. Der nächste große Aufschwung der internationalen Arbeiterklasse, dessen internationales Ausmaß durch die globale Verflechtung der kapitalistischen Produktion vorgezeichnet ist, wird zu einem intellektuellen Wiederaufleben des Trotzkismus, d. h. des klassischen Marxismus, führen.
Leo Trotzki, »Stalin Seeks my Death«, 8. Juni 1940, in: Writings of Leon Trotsky (1939–40). New York 2001; S. 298 f., aus dem Englischen.
Leo Trotzki, Verteidigung des Marxismus. Essen 2006; S. 36.
Robert J. Alexander, International Trotskyism 1929–1985. A documented Analysis of the Movement. Durham 1991; S. 32, aus dem Englischen.
Leo Trotzki, Die russische Revolution 1905. Berlin 1923; S. 322.
Ebd. S. 246.
Leo Trotzki, Geschichte der Russischen Revolution. Band 1, Februarrevolution. Essen 2010; S. 158 f.
Ebd. S. 197.
Leo Trotzki, Terrorismus und Kommunismus. Berlin 1920; S. 16.
Leo Trotzki, Tagebuch im Exil. Köln 1979; S. 72 f.
Leo Trotzki, Stalin. Essen 2001; S. 472 f.
Leo Trotzki, Die permanente Revolution. Essen 1993; S. 268.
Leon Trotsky, »Our Differences«, in: 1905. New York 1971; S. 314–317, aus dem Englischen.
Ebd. S. 317 f.
W. I. Lenin, Werke Bd. 21. Berlin; S. 92 f.
Zitiert in: Leo Trotzki, Die Dritte Internationale nach Lenin. Essen 1993; S. 84 f.
Theodore Dan, Der Ursprung des Bolschewismus. Hannover 1968; S. 272.
Leo Trotzki, Stalin. Essen 2001; S. 471.