David North
Verteidigung Leo Trotzki

Politische Biografie und historische Lüge

Rede vom 13. Dezember 2009 im Friends Meeting House in London.

Wie die Zeitung »Evening Standard« berichtete, soll Professor Robert Service bei der Präsentation seiner neuen Trotzki-Biografie am 22. Oktober 2009 bei Daunt Books in London erklärt haben: »Noch ist Leben in dem alten Kerl Trotzki – aber wenn der Eispickel nicht gereicht hat, ihn endgültig zu erledigen, habe ich das nun hoffentlich geschafft.«

Man darf sich ernsthaft fragen, was für eine Art von Historiker – eigentlich sogar was für eine Art Mensch – ist das, der seine eigene Arbeit auf diese Weise beschreibt und daraus offensichtlich noch Befriedigung zieht? Ist es wirklich das Ziel eines seriösen Biografen, das literarische Äquivalent zu einem Mord zu begehen? Jede mögliche Interpretation dieser Aussage spricht gegen Robert Service. Trotzki wurde ermordet und zwar auf besonders grausame und schreckliche Weise. Der Attentäter rammte die stumpfe Seite eines Eispickels in Trotzkis Schädel. Seine Frau Natalja war nebenan, als es passierte. Sie hörte den Schrei ihres Manns, mit dem sie 38 Jahre lang ihr Leben geteilt hatte, und als sie in sein Arbeitszimmer rannte, sah sie sein Blut über Stirn und Augen fließen. »Sieh nur, was sie mir angetan haben«, rief Trotzki Natalja zu.

Der Tod Trotzkis wurde von vielen als schrecklicher Verlust empfunden. In Mexiko-Stadt begleiteten 300 000 Menschen seinen Sarg durch die Straßen der Hauptstadt. Ein privater Brief des amerikanischen Schriftstellers James T. Farrell vermittelt ein Gefühl der traumatischen Erfahrung von Trotzkis Ermordung. »Das Verbrechen ist unaussprechlich. Es fehlt an Worten, um es zu beschreiben. Ich fühlte mich betäubt, verletzt, verbittert, ohnmächtig vor Wut. Er war der größte lebende Mann, und sie haben ihn umgebracht, und die Regierung der Vereinigten Staaten hat sogar Angst vor seiner Asche. Gott!«[1]

Ein ernsthafter Trotzki-Biograf würde keine Witze über »Eispickel« machen. Das ist ein verachtungswürdiges Kennzeichen der politischen Reaktion. Professor Service würde vielleicht protestieren, seine Biografie habe Trotzki nur insofern »umgebracht«, als dass sie jedes Interesse an diesem Individuum ersterben lässt und die Diskussion um ihn beendet. Aber ist das ein legitimer Anspruch? Jeder wahre Wissenschaftler möchte doch mit seinem Werk zur Entwicklung der historischen Diskussion beitragen und diese nicht ersticken. Doch das ist ganz klar nicht die Absicht von Robert Service. Wie er dem Evening Standard[2] mitteilte, hofft er, mit seiner Biografie zu erreichen, was Stalins Mord nicht schaffte – nämlich Trotzki als bedeutende historische Figur »endgültig zu erledigen«. Wenn man dieses Ziel kennt, hat man eine gewisse Vorstellung davon, wie Service an das Verfassen der Biografie heranging.

Services Worte bei der Buchvorstellung scheinen eine Geisteshaltung zu spiegeln, die in dem reaktionären Milieu, in dem er sich bewegt, recht verbreitet ist. Eine Besprechung der Biografie, die der rechte britische Historiker Norman Stone, ein Bewunderer von Margaret Thatcher und Augusto Pinochet, verfasst hat, trägt den Titel »The Ice Pick Cometh« (»Der Eispickel naht«), eine Anspielung auf das Broadwaystück »The Iceman Cometh« (»Der Eismann naht«). Eine weitere begeisterte Rezension aus der Feder von Robert Harris und erschienen in der Londoner Sunday Times gratuliert Service, er habe »Trotzki letztlich noch einmal ganz und gar umgebracht«[3].

Dies ist die Sprache von Menschen, die sich sehr bedrängt fühlen – persönlich wie politisch. Siebzig Jahre nach Trotzkis Tod zittern sie noch vor dem Schreckgespenst des großen Revolutionärs. Schon der Gedanke an diesen Menschen lässt sie unwillkürlich an Mord denken. Aber glauben sie wirklich, Services Buch könne erreichen, was die Macht von Stalins totalitärem Polizeistaat nicht konnte? Allein dass Professor Service und seine Bewunderer so denken, zeigt schon, wie wenig sie von Trotzki und den Ideen verstehen, denen er sein Leben widmete.

Leo Trotzki – Führer der Oktoberrevolution, Gegner des Stalinismus, Gründer der Vierten Internationale – wurde von einem Agenten der sowjetischen Geheimpolizei GPU im August 1940 ermordet. Die letzten elf Jahre seines Lebens hatte er im Exil verbracht. Trotzki lebte in seinen eigenen Worten auf einem »Planet ohne Visum« und zog von der Türkei nach Frankreich, nach Norwegen und schließlich im Jahre 1937 nach Mexiko. In den Jahren zwischen seiner Ausbürgerung aus der UdSSR und seiner Ankunft in Mexiko hatte die internationale politische Reaktion enorm an Stärke gewonnen: In Deutschland war Hitler an die Macht gelangt, die revolutionären Bewegungen der Arbeiterklasse in Frankreich und Spanien waren von den stalinistischen und sozialdemokratischen Bürokratien im Namen der »Volksfront« erstickt worden, und die Inszenierung der Moskauer Prozesse sowie der sich ausbreitende Große Terror löschten praktisch alle Vertreter marxistischer Politik und sozialistischer Kultur in der UdSSR aus.

Der erste der Moskauer Prozesse fand im August 1936 statt. Zu den sechzehn Angeklagten zählten historische Führer der bolschewistischen Partei wie etwa Grigori Sinowjew und Lew Kamenew. Ihnen wurde zur Last gelegt, Mordanschläge und verschiedene Terrorakte geplant zu haben. Kein einziges Beweisstück wurde im Prozess präsentiert, nur die Geständnisse der Angeklagten. Alle wurden von dem Tribunal zum Tode verurteilt. Die Berufungen der Angeklagten waren schon wenige Stunden nach dem Urteil des Tribunals abgelehnt. Am 25. August 1936 wurden sie erschossen. Obschon nicht anwesend, waren Leo Trotzki und sein Sohn Leon Sedow die Hauptangeklagten. Aus seinem norwegischen Exil verurteilte Trotzki den Prozess vehement als »eine der größten, plumpesten und verbrecherischsten Intrigen der Geheimpolizei gegen die Weltmeinung«.[4]

Auf Druck des Sowjetregimes internierte die sozialdemokratische Regierung Norwegens Trotzki, um ihn davon abzuhalten, weiterhin öffentlich Stalins mörderische Schauprozesse gegen die bolschewistische Führung anzuprangern. Beinahe vier Monate lang wurde er von jedem Kontakt mit der Außenwelt abgeschnitten, während das stalinistische Regime Lügen über ihn verbreitete. Die norwegische Internierung endete erst am 19. Dezember 1936, als Trotzki an Bord eines Frachters mit dem Ziel Mexiko gebracht wurde; die mexikanische Regierung hatte ihm Asyl zugesagt.

Die letzte Nachricht, die Trotzki vor seiner Abreise verfasste, war für seinen ältesten Sohn Leon Sedow bestimmt. Da Trotzki nicht wusste, was ihn auf seiner Reise nach Mexiko erwartete, informierte er Leon darüber, dass er und sein jüngerer Bruder Sergej ihn beerben würden und alle Nutzungsrechte für seine Schriften erhalten sollten. Trotzki merkte an, dass er nichts weiter besitze. Sein Brief endete mit einer bewegenden Bitte an Leon Sedow: »Falls du Sergej jemals triffst«, schrieb Trotzki, »so sag ihm, dass wir ihn nie vergessen haben und ihn nie auch nur für einen Augenblick vergessen werden.«[5] Aber Leon Sedow sollte seinen jüngeren Bruder nicht mehr sehen oder sprechen. Sergej wurde auf Stalins Befehl am 29. Oktober 1937 hingerichtet. Auch Leon sollte seinen Vater und seine Mutter nicht mehr treffen. Er wurde am 16. Februar 1938 von Agenten der sowjetischen Geheimpolizei ermordet.

Trotzki und Natalja Sedowa kamen am 9. Januar 1937 in Mexiko an. Sie lebten als Gäste von Diego Rivera in seinem berühmten Blauen Haus in Coyoacán, damals ein Vorort von Mexiko-Stadt. Trotzki nahm sofort den Kampf gegen Stalins Verleumdungen auf, um die wahren Hintergründe der Schauprozesse aufzudecken. Der zweite Prozess gegen die Alten Bolschewiken stand kurz bevor. Diesmal handelte es sich um 21 Angeklagte, darunter Juri Pjatakow und Karl Radek. In einer Rede, die am 30. Januar 1937 aufgenommen wurde und heute leicht im Internet zu finden ist, erklärte Trotzki:

Stalins Prozess gegen mich beruht auf falschen Geständnissen, die durch moderne inquisitorische Methoden gewonnen wurden, im Interesse der herrschenden Clique. In der Geschichte gibt es keine Verbrechen, die in Absicht oder Durchführung schlimmer wären als die Moskauer Prozesse gegen Sinowjew-Kamenew und gegen Pjatakow-Radek. Diese Prozesse entspringen nicht dem Kommunismus oder Sozialismus, sondern dem Stalinismus, das heißt dem unverantwortlichen Despotismus der Bürokratie über das Volk!

Was ist nun meine Hauptaufgabe? Die Wahrheit zu enthüllen. Zu zeigen und zu beweisen, dass die wahren Verbrecher sich hinter der Maske des Anklägers verstecken.[6]

Trotzki forderte die Einrichtung einer internationalen Untersuchungskommission, um die Vorwürfe, die das Sowjetregime gegen ihn erhob, zu prüfen und ein Urteil zu fällen. Er war bereit, der Kommission alles zur Verfügung zu stellen: »All meine Akten, Tausende persönlicher und offener Briefe, die die Entwicklung meiner Gedanken und meiner Taten Tag für Tag widerspiegeln, lückenlos. Ich habe nichts zu verbergen!«[7] Trotzki erklärte, sein Gewissen sei rein, er habe sich weder persönlich noch politisch irgendetwas zuschulden kommen lassen.

Nach nur knapp drei Monaten wurde am 10. April 1937 in Coyoacán die Kommission einberufen, die unter dem Vorsitz des bekannten amerikanischen Philosophen John Dewey tagte. Von den Stalinisten und den Legionen ihrer liberalen Freunde, darunter Lillian Hellman, Malcolm Cowley und Corliss Lamont, war ein immenser Druck aufgebaut worden, um das Zusammentreten der Kommission zu verhindern oder, wenn dies nicht gelingen sollte, sie in ihrer Arbeit zu behindern. Eine Woche lang sagte Trotzki vor der Kommission aus, beantwortete zahlreiche Fragen zu den Vorwürfen des stalinistischen Regimes. Keiner von jenen, die stundenlang Zeugen seiner Ausführungen waren, sollte dieses Erlebnis je vergessen. James T. Farrell, der als Beobachter anwesend war, erinnerte sich in seinen Schriften später an die überwältigende moralische Kraft, die Trotzki als Person repräsentierte.

Sein Schlusswort, das er in Englisch hielt und das mehr als vier Stunden dauerte, bewegte die Kommissionsmitglieder zutiefst. »Alles, was ich sagen kann, wird gegen diesen Höhepunkt abfallen«, erklärte Dewey, nachdem Trotzki seine Rede geschlossen hatte.[8] Im Dezember 1937 veröffentlichte die Dewey-Kommission ihr Ergebnis. Trotzki wurde für »nicht schuldig« befunden und die Verfahren in Moskau als Schauprozess bezeichnet.

Die Ergebnisse der Dewey-Kommission bedeuteten einen großen moralischen Sieg für Trotzki. Aber die politische Reaktion hatte sich noch nicht erschöpft. Innerhalb der Sowjetunion brachte Stalins Polizei jeden Tag mehr als tausend Menschen um. In Spanien sorgten die konterrevolutionäre Politik der Kommunistischen Partei und die mörderische Raserei von Stalins Geheimpolizei für den sicheren Sieg Francos. Gelähmt vom Verrat der Stalinisten war die europäische Arbeiterklasse nicht in der Lage, dem Faschismus Einhalt zu gebieten und den Krieg zu verhindern. Trotzki konzentrierte seine Energie auf die Gründung der Vierten Internationale. »Die weltpolitische Lage als Ganzes«, schrieb er im Frühjahr 1938, »ist vor allem durch eine historische Krise der proletarischen Führung gekennzeichnet.«[9]

Die Stalinisten reagierten auf Trotzkis Bemühungen, indem sie ihre Gewalt gegen seine engsten Gesinnungsgenossen und Unterstützer verstärkten. Im Juli 1937 wurde Erwin Wolf, einer von Trotzkis politischen Sekretären, in Spanien ermordet. Zwei Monate später fiel Ignaz Reiss, der sich von der GPU abgewandt, Stalin öffentlich angeklagt und seine Sympathie für die Vierte Internationale erklärt hatte, in der Schweiz einem Attentat zum Opfer. Im Februar 1938 tötete die GPU Sedow. Und im Juli 1938 wurde Rudolf Klement, der Sekretär der Vierten Internationale, in Paris entführt und umgebracht.

Trotz der Herrschaft des stalinistischen Terrors fand im September 1938 die Gründungskonferenz der Vierten Internationale statt. In einer Rede, die einen Monat später aufgenommen wurde, erklärt Trotzki, das Ziel der Vierten Internationale »ist die volle materielle und geistige Befreiung der Werktätigen und Ausgebeuteten durch die sozialistische Revolution«. Er spottete dem Terror der Sowjetbürokratie. »Die Henker denken in ihrer Beschränktheit und ihrem Zynismus, dass sie uns einschüchtern können. Sie irren! Unter den Schlägen werden wir stärker. Die bestialische Politik Stalins ist nur die Politik der Verzweiflung.«[10]

Nach der Gründung der Vierten Internationale blieben Trotzki nicht einmal mehr zwei Jahre zu leben. Seine intellektuelle Kreativität und politische Weitsicht waren ungetrübt. Nicht nur erkannte er die Unvermeidbarkeit des Zweiten Weltkriegs, Trotzki sagte auch voraus, dass Stalin den katastrophalen Konsequenzen seiner internationalen Politik zu entgehen versuchen werde, indem er eine Allianz mit Hitler anstrebe. Trotzkis Analyse wurde durch den Hitler-Stalin-Pakt bestätigt, der im August 1939 geschlossen wurde. Trotzki warnte aber auch, dass Stalins Verrat die Sowjetunion nicht vor den Schrecken des Kriegs bewahren würde. Es sei nur eine Frage der Zeit, bis Hitler seine Militärmacht gegen die UdSSR richten werde.

In den letzten Monaten seines Lebens, als in Westeuropa bereits Krieg herrschte, verteidigte Trotzki die historische Perspektive des Sozialismus angesichts weit verbreitetem Skeptizismus und Verzweiflung. Er versuchte nicht, schwankende Anhänger mit der Vorhersage einer bevorstehenden Revolution zurückzugewinnen.

Anstelle einer Vorhersage stellte Trotzki eine Frage: »Wird die objektive historische Notwendigkeit letzten Endes einen Weg in das Bewusstsein der Vorhut der Arbeiterklasse finden, d. h. wird im Verlauf dieses Kriegs und der tief reichenden Erschütterungen, die er verursachen muss, eine wirklich revolutionäre Führung geschaffen werden, die in der Lage ist, das Proletariat zur Eroberung der Macht zu führen?«[11]

Er verstand, dass die vielen Niederlagen der Arbeiterklasse eine weit verbreitete Skepsis in ihre revolutionären Fähigkeiten aufkommen ließen. Viele gaben nicht den politischen Führern, sondern der Arbeiterklasse selbst die Schuld an den Niederlagen. Für jene, die der Ansicht waren, die vergangenen Niederlagen hätten die Unfähigkeit der Arbeiterklasse »bewiesen«, die Staatsmacht zu erobern und zu halten, konnten die historischen Bedingungen der Menschheit nur hoffnungslos erscheinen. Aber dieser Perspektive der Verzweiflung und Demoralisierung setzte Trotzki eine andere entgegen: »Allerdings stellt sich die Sache für denjenigen völlig anders dar, der sich klar geworden ist über den tiefen Antagonismus zwischen dem organischen, tiefgehenden und unüberwindlichen Drängen der Arbeitermassen, sich aus dem blutigen kapitalistischen Chaos zu befreien, und dem konservativen, patriotischen und durch und durch bürgerlichen Charakter der überlebten Arbeiterführung.«[12]

Trotzki erwartete nicht, das Kriegsende zu erleben. Er ging davon aus, dass Stalin keine Mühe scheuen würde, um ihn zu töten, bevor die Sowjetunion in den offenen Konflikt mit NaziDeutschland gezogen würde. In den frühen Morgenstunden des 24. Mai 1940 drang ein Mordkommando unter Führung des Malers David Alfaro Siqueiros in die Villa ein, in der Trotzki und Natalja lebten. Robert Sheldon Harte, ein stalinistischer Agent, der auf dem Anwesen arbeitete, hatte die Tore der Villa geöffnet. Die stalinistischen Attentäter erreichten das Schlafzimmer von Trotzki und Natalja und schossen eine Maschinengewehrsalve hinein. Die beiden überlebten fast wie durch ein Wunder das Attentat. Trotzki war sich aber bewusst, dass der Anschlag vom Mai nicht der letzte wäre. Er verstand die Gefahr, in der er sich befand, besser als jeder andere. »In einer reaktionären Epoche wie der unseren«, erklärte er, »muss ein Revolutionär gegen den Strom schwimmen. Ich tue dies nach besten Fähigkeiten. Der Druck, den die weltweite Reaktion ausübt, zeigt sich vielleicht am unerbittlichsten in meinem persönlichen Schicksal und dem Schicksal jener, die mir nahestehen. Ich betrachte dies nicht als mein Verdienst: Es ist das Ergebnis miteinander verbundener historischer Umstände.«[13]

Am 20. August wurde Trotzki von einem GPU-Agenten angegriffen und erlag am nächsten Tag seinen schweren Verletzungen. Er war 60 Jahre alt.

Mehrere Monate nach dem Mord schrieb Max Eastman eine letzte Hommage an Trotzki. Sie wurde unter anderem in dem prestigeträchtigen bürgerlichen US-Magazin »Foreign Affairs« veröffentlicht. Eastman hatte Trotzki über zwanzig Jahre hinweg sehr gut gekannt. Er hatte Trotzkis Biografie geschrieben und viele seiner wichtigsten Werke, darunter die »Geschichte der Russischen Revolution«, ins Englische übersetzt. Eastman war kein unkritischer Bewunderer Trotzkis. Ihre Beziehung war zeitweise von scharfen Konflikten gekennzeichnet. Während der letzten Lebensjahre Trotzkis hatte Eastman seine radikalen Ansichten abgelegt, endgültig dem Marxismus abgeschworen und sich immer schärfer nach rechts bewegt. Als sich Trotzki und Eastman im Februar 1940 letztmalig in Mexiko trafen, betrachteten sie sich nicht als Genossen, sondern als alte Freunde, die sich irgendwie fremd geworden waren. Keiner von den beiden versuchte, den anderen von der Richtigkeit der eigenen Position zu überzeugen.

Die Tatsache, dass Eastman Trotzki nicht länger politisch verbunden war, gibt seinem Nachruf einen besonderen Wert. Sein Essay mit dem Titel »Charakter und Schicksal Leo Trotzkis« beginnt mit den folgenden Worten:

Trotzki hielt den Schicksalsschlägen der vergangenen fünfzehn Jahre heldenhaft stand – Degradierung, Ablehnung, Exil, systematische verleumderische Falschdarstellung, Verrat durch jene, die ihn verstanden hatten, wiederholte Anschläge auf sein Leben durch jene, die ihn nicht verstanden hatten, und die Gewissheit, letztlich ermordet zu werden. Seine Gefährten, seine Sekretäre, seine Verwandten, seine eigenen Kinder wurden von einem höhnischen und sadistischen Feind zu Tode gejagt. Privat litt er unbeschreiblich, doch nie verließ ihn seine ungeheure Disziplin. Er verlor nicht für einen erkennbaren Augenblick seinen Halt, ließ nie einen Schicksalsschlag die Schärfe seines Geistes, seine Logik oder seinen literarischen Stil beeinträchtigen. Unter einem Kummer, der wohl fast jeden kreativen Künstler in die Psychiatrie und dann ins Grab gesandt hätte, entwickelte und verfeinerte Trotzki beständig seine Kunst. Seine unvollendete Lenin-Biografie, die ich teilweise übersetzt hatte, wäre sein Meisterwerk geworden. Er gab uns in einer Zeit, in der die Menschheit dringend solche Stärkungsmittel braucht, die Vision eines Menschen.

An seinem großen Platz in der Geschichte kann kein Zweifel bestehen. Sein Name wird fortbestehen, neben dem von Spartakus und den Gracchen, Robespierre und Marat, als der eines herausragenden Revolutionärs, eines kühnen Führers der Massen im Aufruhr.[14]

Diese Worte vermitteln ein Gefühl für die fortwährende Bedeutung von Trotzkis Leben. Eastman teilte seinen Lesern mit, dass man sich auch in 2000 Jahren noch an Trotzki als an einen der großen Kämpfer für die menschliche Freiheit erinnern werde.

Aber siebzig Jahre nach Trotzkis Tod erleben wir heute eine politisch reaktionäre und intellektuell unaufrichtige Kampagne, um ihm seinen »großen Platz in der Geschichte« zu nehmen. Die Veröffentlichung von Robert Services Trotzki-Biografie ist ein Meilenstein in dieser Kampagne historischer Verzerrung und Verfälschung, deren erklärtes Ziel darin besteht, die Taten und Ideen dieser Schlüsselfigur der modernen Geschichte in Verruf zu bringen.

Bevor wir Services »Trotzki« besprechen, sind ein paar Bemerkungen zur Behandlung von Trotzki durch Historiker innerhalb und außerhalb der UdSSR vorauszuschicken. Während Stalins Diktatur war Trotzki natürlich ein völliges Anathema in der UdSSR. Seit den frühen 1920er-Jahren wurde der politische Kampf der aufstrebenden Sowjetbürokratie gegen Trotzki zuerst und vor allem auf der Grundlage von Geschichtsfälschungen geführt. Dies betraf Geschichte und Entwicklung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands, des langen Konflikts zwischen den bolschewistischen und menschewistischen Fraktionen der Partei, der verschiedenen Tendenzen und Einzelpersonen in diesem allgemein sehr hitzigen Kampf und schließlich der Oktoberrevolution. Trotzkis Rolle bei diesem letztgenannten Ereignis und dem folgenden Bürgerkrieg war so immens, dass die Diskreditierungskampagne gegen ihn, die ernsthaft im Jahre 1923 einsetzte, eine systematische Fälschung der Geschichte notwendig machte.

Die Lügenkampagne begann in den Jahren 1923–1924 mit dem Vorwurf, Trotzki unterschätze die Bauernschaft. Diese absurde Anschuldigung, in der sich programmatische Differenzen aus der Zeit vor 1917 sowie zunehmende Konflikte im Sowjetstaat über die Wirtschafts- und Außenpolitik widerspiegelten, wurde zum Auftakt eines allgemeinen Angriffs auf Trotzkis Theorie der permanenten Revolution. Doch eben diese hatte die strategische Grundlage für die bolschewistische Eroberung der Staatsmacht und ihr Ziel der sozialistischen Weltrevolution gebildet. Der Kampf gegen Trotzki beinhaltete die Zurückweisung des internationalistischen Programms der Oktoberrevolution durch eine Bürokratie, die sich zunehmend auf die Verteidigung ihrer sozialen Privilegien im nationalen Rahmen konzentrierte. Somit existierte eine symbiotische Verbindung zwischen den immer bösartigeren Klagen über Trotzkis angebliche Häresien – auf Basis einer falschen Darstellung der Fraktionskonflikte zwischen Trotzki und Lenin in den Jahren vor 1917 – und der Einführung des Programms vom »Sozialismus in einem Land«. Die Lügen, die 1923 begannen, hatten tragische Konsequenzen. Wie Trotzki 1937 schrieb, begannen die Fälschungen der Moskauer Prozesse mit scheinbar »kleineren« Geschichtsverdrehungen.

Selbst nach der Enthüllung von Stalins Verbrechen im Jahre 1956 vermied die Sowjetbürokratie peinlich jede historische und politische Rehabilitierung Trotzkis. Auch wenn offiziell nicht länger behauptet wurde, dass er mit der Gestapo gemeinsame Sache gemacht habe, verteidigten und unterstützten das Sowjetregime und seine Verbündeten weiterhin den Kampf gegen den »Trotzkismus«, der von Stalin in den 1920er-Jahren begonnen worden war. Die systematischen Fälschungen bezüglich Trotzkis Rolle in der Geschichte des russischen Sozialismus, an der Spitze der Oktoberrevolution, beim Aufbau der Roten Armee und deren Sieg im Bürgerkrieg und, allem voran, beim Kampf gegen die Sowjetbürokratie blieben bestehen – sogar bis zur Auflösung der UdSSR. Service behauptet, Gorbatschow habe 1988 Trotzkis Rehabilitierung angeordnet.[15] Dies ist nur einer von Professor Services unzähligen Fehlern. Trotzki wurde von der Sowjetregierung niemals offiziell rehabilitiert.

Außerhalb der UdSSR wurde Trotzki gänzlich anders behandelt. Wohlbekannt ist die Rolle, die Isaac Deutschers dreibändige Trotzki-Biografie dabei spielte, ein neues Interesse an Trotzki zu wecken. Aber Deutschers Darstellung des außergewöhnlichen Lebens Trotzkis fand auch ein aufmerksames Publikum bei einem großen Spektrum von Wissenschaftlern, die zwar dem Marxismus in der Regel eher ablehnend gegenüberstanden, aber Trotzkis überragende Rolle in der Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts als unbestreitbare Tatsache betrachteten. Daher musste selbst ein Historiker wie Richard Pipes, der Trotzkis Ideen gegenüber feindselig eingestellt war, in einer Rezension von Deutschers »wunderbarem« zweiten Band feststellen: »Persönlicher Mut und intellektuelle Aufrichtigkeit besaß Trotzki ohne Frage, und dies unterschied ihn deutlich von den anderen Anwärtern auf die Nachfolge Lenins, die in bemerkenswertem Maße feige und hinterlistig waren.«[16]

Die wachsende Anerkennung von Trotzkis Rolle in der sowjetischen Geschichte ist keineswegs ausschließlich Deutschers Biografie zuzuschreiben. Das Werk anderer wichtiger Historiker, die in den 1950er-, 1960er- und 1970er-Jahren schrieben, trug ebenfalls zu einem tieferen Verständnis der russischen Revolutionsgeschichte und Trotzkis Rolle darin bei. Von besonderer Bedeutung waren dabei die Arbeiten von E. H. Carr, Leopold Haimson, Moshe Lewin, Alexander Rabinowitch, Richard B. Day, Pierre Broué, Robert V. Daniels, Marcel Liebman und Baruch Knei-Paz.

Bezeichnenderweise wurde in den letzten Jahren der Sowjet­union und nach ihrer Auflösung ein grundlegender Wandel in der Behandlung Trotzkis sichtbar. Mit der wachsenden Krise des stalinistischen Regimes verloren einerseits die alten Geschichtsfälschungen innerhalb der Sowjetunion unvermeidbar an Glaubwürdigkeit. Diese Entwicklung, sollte man meinen, konnte sich auf Trotzkis historischen Ruf nur positiv auswirken. Und sicherlich hungerten Dissidenten nach 1956 nach allen Informationen, die sie über ihn finden konnten. Doch ab den 1970er-Jahren bewegte sich die sowjetische Intelligenzija nach rechts. Solschenizyns »Archipel Gulag«, der sich kaum mit der Linken Opposition gegen den Stalinismus befasste, wurde zum wichtigsten Text der Dissidentenbewegung. Diese Opposition lehnte den Stalinismus nicht als eine Perversion des Marxismus ab, sondern vielmehr den Marxismus selbst und das gesamte revolutionäre Projekt. Daher wurde Trotzki in der »Dissidentenliteratur« der 1970er- und 1980er-Jahre ausgesprochen feindselig behandelt.

Betont wurde dabei allgemein nicht sein Widerstand gegen den Stalinismus, sondern eine angebliche Kontinuität zwischen Trotzkis Politik und dem politischen Kurs Stalins, nachdem Trotzki aus der kommunistischen Partei ausgeschlossen und aus der Sowjetunion verbannt worden war. Diese Tendenz trat besonders in der Ära Gorbatschow hervor, als erstmals echte historische Dokumente über Trotzkis Rolle, auch einige seiner Bücher, verfügbar waren. Ganz als ob sie den guten Eindruck zerstören wollten, den diese Dokumente und Bücher auf eine Öffentlichkeit machen mussten, die die Frage nach einer Alternative zu Stalin und dem Stalinismus stellte, nahm die neue Opposition gegen Trotzki die Form an, negative Bemerkungen zu seiner Persönlichkeit zu streuen. Eine weitere häufige Erscheinungsform des Antitrotzkismus in den letzten Jahren der Sowjetunion und direkt nach ihrer Auflösung war die deutliche und offen antisemitische Betonung von Trotzkis jüdischer Abstammung.

Das reaktionäre Klima des politischen Triumph-Gehabes, das auf den Zusammenbruch des stalinistischen Regimes von 1991 folgte, spiegelte sich nicht weniger scharf in der Behandlung Trotzkis außerhalb der ehemaligen UdSSR wider. Es begann eine Kampagne, das historische Bild Trotzkis als Vertreter einer historischen Alternative zum Stalinismus zu unterhöhlen und gar zu zerstören. In den frühen 1990er-Jahren gab die Universität Glasgow das Journal of Trotsky Studies heraus. Es erwies sich schnell, dass diese Zeitschrift Trotzki mit der Behauptung diskreditieren sollte, sein historischer Ruf sei unverdient, da er auf einer allzu unkritischen Akzeptanz der Geschichte auf Grundlage von Trotzkis Schriften beruhe. Diese Schriften, wurde behauptet, seien im eigenen Interesse verfasst und gar unehrlich. Hauptziel des Angriffs war Trotzkis Autobiografie »Mein Leben«, die über viele Jahrzehnte hinweg als literarisches Meisterwerk des zwanzigsten Jahrhunderts Anerkennung gefunden hatte.

Jede Facette von Trotzkis Leben – wie in seiner Autobiografie und den Werken anderer Historiker dargestellt – wurde in Zweifel gezogen. Trotzki leitete den Oktoberaufstand? Nein, er verbrachte die entscheidende Nacht der bolschewistischen Machtergreifung mit unbedeutenden Sekretärsaufgaben. Trotzki führte die Rote Armee zum Sieg? Nein, er war ein eitler Gockel, der gern im Militärdress umherstolzierte. Trotzki stand gegen die Bürokratie? Nein, er war ein alter Fraktionalist und Unruhestifter, der einfach den Streit liebte.

Der wichtigste Spezialist dieser Art der Neuschreibung von Geschichte war Ian Thatcher, der als Mitherausgeber des Journal of Trotsky Studies an der Universität Glasgow auftrat, bevor er an die Universität Leicester und die Brunel University in Westlondon wechselte. Thatchers Karriere basiert fast ausschließlich auf seiner Gründung einer neuen Schule antitrotzkistischer Fälschung. Höhepunkt seines Schaffens in diesem Bereich war das Verfassen einer Trotzki-Biografie, die 2003 bei Routledge erschien. Ich muss heute nicht auf Thatchers Werk eingehen, da ich bereits eine umfassende Analyse seiner armseligen Sammlung von Verdrehungen und Lügen verfasst habe.[17] Es ist für die heutige Diskussion nur insofern relevant, als es den Vorläufer und die Hauptinspirationsquelle für Robert Services Biografie darstellt. Service versäumt denn auch nicht, Thatcher im Vorwort seinen besonderen Dank auszusprechen. »Ian hat in seiner gesamten Karriere immer wieder über Trotzki publiziert«, bemerkt Service, »ich schätze seine großzügige Haltung, mit der er meine Rohfassung geprüft und Anregungen gegeben hat.« (S. 11) In der Tat durchzieht Ian Thatchers »Haltung« Services Biografie. Service hat Thatchers Ansatz vollständig übernommen. Das macht er schon mit seiner Behauptung deutlich, sein Buch entlarve den wahren Charakter der Autobiografie Trotzkis, »der in seiner Darstellung selektiv und ausweichend war und sich selbst verherrlicht hat«. (S. 12)

»Vollständige Biografie«

Im Vorwort beschreibt Service sein Werk als »[…] die erste vollständige Biographie Trotzkis von einem nichtrussischen Autor, der kein Trotzkist ist«. (S. 12)

Was bedeutet hier »vollständig«? Allgemein bezieht sich die Bezeichnung »vollständige Biografie« nicht einfach nur auf die Länge eines Buchs, sondern vielmehr auf seine Breite und Tiefe. Jede bedeutende Biografie untersucht ihren Gegenstand im Kontext der Epoche, in der die Person lebte. Sie zählt nicht nur die Taten eines Individuums auf, sondern untersucht auch die Ursprünge und Entwicklung seiner Gedanken. Sie möchte die objektiven und subjektiven Einflüsse aufdecken und erklären, die sie oder ihn emotional wie intellektuell prägten. Die Biografie von Service tut nichts von allem – und zwar nicht nur, weil ihr Autor einen pathologischen Hass auf den Gegenstand seiner Untersuchung pflegt (was allerdings ein ernsthaftes Handikap darstellt). Tatsache ist, dass Professor Service einfach nicht genug über Trotzkis Leben und Denken weiß. Er hat der Vorbereitung dieses Buchs viel zu wenig Zeit und intellektuelle Anstrengung gewidmet, als dass es mehr sein könnte als eine Verhackstückelung.

Ein wahrer Wissenschaftler, der über das notwendige Wissen, den Wagemut und vielleicht sogar die Kühnheit verfügt, die »vollständige« Biografie einer führenden historischen Figur zu schreiben, nimmt einiges auf sich. Der Biograf muss bereit sein, soweit dies möglich ist, das Leben des anderen im eigenen Geiste nachzuvollziehen und wieder aufleben zu lassen. Ein solches Unterfangen ist oftmals sehr belastend für den Biografen, erfordert über viele Jahre Studium, Recherche und Schreiben. Es ist sowohl intellektuell als auch emotional eine Herausforderung – für den Autor ebenso wie für die Menschen, die mit ihm leben. Darum finden sich in den Vorworten vieler Historiker so häufig Dankesworte an den Ehegatten, an Kinder, Freunde und Kollegen, die eine intellektuelle, moralische und emotionale Unterstützung waren.

Man kann als Beispiel dieses Prozesses das Verfassen der Plechanow-Biografie durch Professor Samuel Baron anführen. Viele Jahre nach ihrem Erscheinen veröffentlichte Baron einen Essay, in dem er seine erlittenen Qualen darlegte. Das Projekt hatte 1948 begonnen, als Baron seine Doktorarbeit zu einem Aspekt von Plechanows Werk schrieb. Ihre Fertigstellung dauerte vier Jahre. Doch Baron befand, dass seine Dissertation zu eng angelegt war, um eine Veröffentlichung verdient zu haben, und

daher beschloss ich ohne wirkliches Bewusstsein dessen, was dies beinhalten würde, eine umfassende Biografie zu schreiben. Da die Quellen so umfangreich, das Subjekt so komplex und meine freie Zeit so begrenzt waren, brauchte es elf Jahre, um den Plan umzusetzen. Zwar war ich während dieser Jahre stark mit Lehrveranstaltungen belastet und musste mich auch um meine Familie kümmern, doch Plechanow war in Gedanken stets bei mir. Ich verbrachte viele Abende, Wochenenden, freie Tage und Urlaube mit Recherche und Schreiben … Im Bett wie am Tage dachte ich oft über meinen Gegenstand nach. Die Aufgabe, die ich mir gesetzt hatte, schien so unerfüllbar, dass ich mich oft laut fragte, ob sie mir ein Ende setzen würde, bevor ich sie beenden könnte. Doch ans Aufhören war nicht zu denken, denn ich hatte schon zu viel investiert, und so verrichtete ich sklavisch weiter meine Sisyphusarbeit.[18]

Wie lange brauchte Professor Service, um für seine Trotzki-Biografie zu recherchieren und sie zu schreiben? Sein vorausgegangenes größeres Buch, ein zusammenhangsloses und unausgereiftes Werk mit dem Titel »Comrades: A History of World Communism«, erschien 2007. Davor hatte Service im Jahre 2004 eine Stalin-Biografie veröffentlicht. Ich will mich zur Qualität der beiden Werke hier nicht weiter äußern, sondern nur kurz feststellen, dass beide abgrundtief schlecht sind. Aber damit beschäftigen wir uns ein anderes Mal. Uns interessiert hier lediglich, dass Service seine »vollständige« Trotzki-Biografie nur zwei Jahre nach der Veröffentlichung seiner »Geschichte des Weltkommunismus« herausgebracht hat. Damals, so lässt sich aus seinem früheren Werk ableiten, war Services Wissen über Trotzkis Leben recht begrenzt. Seine Bemerkungen zu Trotzki haben einen nebensächlichen Charakter und beinhalten eine Reihe von auffälligen faktischen Fehlern. Er datiert den ersten Anschlag auf Trotzkis Leben durch David Alfaro Siqueiros falsch. Er fand im Mai 1940 statt, doch Service nennt den Monat Juni für das Attentat. Noch erstaunlicher ist jedoch, dass er Trotzkis Todestag falsch benennt.

Doch nur zwei Jahre nach der Veröffentlichung von »Comrades« liegt nun Services »Trotzki« in den Regalen der Buchhandlungen. Man überlege sich, was erforderlich ist, um eine Trotzki-Biografie zu verfassen. Trotzkis politisches Leben umfasst 43 Jahre. Er spielte als Vorsitzender des Petrograder Sowjets eine bedeutende Rolle in der Revolution von 1905. 1917, nachdem er nach Russland zurückgekehrt war und sich der bolschewistischen Partei angeschlossen hatte, wurde Trotzki wieder Vorsitzender des Petrograder Sowjets. Er wurde auch Vorsitzender des Militärischen Revolutionskomitees, das unter Trotzkis Leitung den Oktoberaufstand 1917 organisierte und leitete, der die Arbeiterklasse an die Macht brachte. 1918 wurde er Volkskommissar für das Kriegswesen und spielte in dieser Funktion die führende Rolle bei der Organisation und Leitung der Roten Armee. Von 1919 bis 1922 war Trotzki neben Lenin die einflussreichste Gestalt in der Kommunistischen Internationale. Gegen Ende des Jahres 1923, mit der Gründung der Linken Opposition, trat er als zentrale Figur im Kampf gegen die stalinistische Bürokratie hervor. Nach seiner Verbannung aus der Sowjetunion 1929 inspirierte Trotzki die Gründung einer Internationalen Linken Opposition und arbeitete in den Jahren 1933 bis 1938 die theoretischen und programmatischen Grundlagen der Vierten Internationale heraus.

Zusätzlich zu dem immensen Umfang seiner politischen und praktischen Aktivitäten gehörte Trotzki zu den produktivsten Schriftstellern des zwanzigsten Jahrhunderts. Man schätzt, dass eine vollständige Sammlung seiner veröffentlichten Schriften wohl mehr als hundert Bände umfassen würde. Noch heute ist ein beträchtlicher Teil seiner Schriften, darunter Briefe und Tagebücher, nicht veröffentlicht und in andere Sprachen übersetzt worden. All das läuft darauf hinaus, dass eine ernsthafte, umfassende Trotzki-Biografie zu schreiben, eine Aufgabe darstellt, die dem gewissenhaften Forscher viele Jahre konzentrierter Arbeit abverlangt.

Darüber hinaus muss der Biograf ein tiefes Verständnis der historischen und gesellschaftlichen Umgebung haben, in der sein Forschungsgegenstand lebte, und mit den politischen und theoretischen Voraussetzungen vertraut sein, die die Basis seiner Auffassungen bildeten. Professor Service betont stark, dass seine Biografie nicht von einem Trotzkisten geschrieben wurde, und bezeichnet den verstorbenen Pierre Broué, der der trotzkistischen Bewegung politisch verbunden war, abschätzig als »Götzendiener«[19]. Ganz abgesehen von der Tatsache, dass Broué unabhängig von seinen politischen Überzeugungen ein hervorragender Historiker war, gibt es Grund zu der Annahme, dass seine persönliche Verbundenheit mit sozialistischer Politik, ähnlich wie bei Deutscher (der kein Trotzkist war), einen entscheidenden Vorteil beim Verfassen der Trotzki-Biografie darstellte. Broué und Deutscher waren durch Jahrzehnte politischer Arbeit beide schon vor Beginn ihrer biografischen Tätigkeit tatsächlich mit der marxistischen und sozialistischen Kultur vertraut.

Service verfügt über keine der Qualifikationen, die man zum Schreiben einer Trotzki-Biografie mitbringen muss. Das Fehlen persönlicher Erfahrung in der marxistischen Bewegung muss sicherlich kein absolutes Hindernis sein, um eine solche Biografie zu verfassen. Vielleicht ergibt sich daraus sogar ein Maß an wissenschaftlichem »Abstand« zum Forschungsgegenstand, der dem politisch engagierten Historiker schwerer fällt. Doch Professor Service ist weder politisch distanziert noch unabhängig. Man kann Service, der Broué als »Götzendiener« bezeichnet, wohl mit durchaus größerer Berechtigung als »Hasserfüllten« bezeichnen. Und Hass, besonders in seiner subjektiven und bösartigen Spielart, die Service so offensichtlich antreibt, ist unvereinbar mit wahrer Wissenschaft. Darüber hinaus disqualifiziert sich Service als Biograf und Historiker noch durch einen anderen Umstand, und zwar durch das vollkommene Fehlen von intellektueller Integrität und Neugierde.

Ich habe bereits eine längere Kritik zu Professor Services Trotzki-Biografie verfasst, die im November auf der jährlichen Konferenz des amerikanischen Slawistenverbands[20] weite Verbreitung fand. Hier kamen mehrere Tausend Spezialisten auf dem Gebiet der russischen Geschichte zusammen. Eine bedeutende Zahl von Historikern erhielt und las meine Kritik. In späteren Diskussionen äußerten sich einige von ihnen leicht missbilligend, was den scharfen Ton meiner Worte betrifft. Aber keiner von ihnen bestritt auch nur eine der von mir dargestellten Tatsachen.

Die veröffentlichte Kritik mit dem Titel »Im Dienste der Geschichtsfälschung« umfasste mehr als 10 000 Wörter. Man könnte sich fragen, ob es noch mehr über Services Buch zu sagen gibt. Fakt ist, dass meine erste Kritik kaum die Oberfläche der Fälschungen, Verdrehungen, Halbwahrheiten und dreisten Lügen von Professor Service angekratzt hat.

Ich will nicht einfach die Punkte wiederholen, die ich bereits angesprochen habe. Aber ich will meine Auflistung der Verzerrungen von Professor Service fortsetzen, indem ich zu einer Frage zurückkehre, die eine so zentrale Rolle in seiner Trotzki-Biografie spielt, nämlich Trotzkis jüdische Abstammung. Ich hatte bereits in meiner früheren Rezension festgestellt: »Um es offen zu sagen, ist Services Konzentration auf diese Frage ziemlich unerfreulich und suspekt. Dass Trotzki Jude war, spielt in der Biografie von Service eine wichtige Rolle. Er verliert diese Tatsache nie aus den Augen und erinnert seine Leser ständig daran, als ob er besorgt wäre, sie könnte ihnen entfallen.«[21] Ich bemerkte bereits, dass seine Beschreibungen Trotzkis vor ethnischen Stereotypen nur so strotzen (zum Beispiel: »er war keck in seiner Klugheit und offen in seinen Meinungen. Niemand konnte ihn einschüchtern. Trotzki besaß diese Eigenschaften in einem höheren Maße als die meisten anderen Juden« (S. 259) oder: »dabei war er durchaus nicht der einzige Jude, der an den Chancen zum sozialen Aufstieg sichtlich Gefallen fand« (S. 259), »In Wirklichkeit war seine Nase weder lang noch gebogen« und so weiter)[22].

Mit Vorliebe bedient sich Service der Methode, eine antisemitische Haltung einfach festzustellen, ohne sie zu beweisen. Ein Beispiel: »Tatsächlich wurde den Juden vielfach nachgesagt, die bolschewistische Partei zu dominieren.« (S. 264) Wer war dieser Meinung? Die bewusste Verwendung der indirekten Rede, um eine Behauptung aufzustellen, die durch keine erkennbare Quelle bewiesen wird, ermöglicht es Service, einen antisemitischen Beigeschmack zu erzeugen, ohne dafür die Verantwortung zu übernehmen. Das ist kein unbedachter Fehler. Wissenschaftliche Arbeit folgt definitiven Regeln. Service, der seit Jahrzehnten als professioneller Historiker arbeitet, verletzt diese Regeln immer wieder mit Absicht.

Ich möchte die Aufmerksamkeit auf ein weiteres Beispiel lenken, das ich bisher noch nicht eingeführt habe. Es zeigt Services Bemühen, Trotzkis jüdische Abstammung hervorzuheben. Es geht um seine konsequente Benennung des jungen Trotzki als »Leiba Bronstein«. Service schreibt: »Trotzki war Leiba Bronstein, bis er im Alter von 23 Jahren sein bekanntes Pseudonym annahm.« (S. 25) Und so nennt er den jungen Mann auf den ersten vierzig Seiten seiner Biografie ausschließlich »Leiba«. Auf Seite 61 kündigt Service dann einen bedeutsamen Wendepunkt an. »Leiba« war inzwischen achtzehn und immer stärker in die revolutionäre Aktion involviert. Er machte in der Provinzstadt Nikolajew neue Bekanntschaften, er lernte Ilja Sokolowski, Alexandra Sokolowskaja and Gregori Ziv kennen. Sie waren Juden, schreibt Service,

[…] aber sie sprachen, lasen oder schrieben nicht Jiddisch. Außerdem hatten sie russische Vornamen, und sie ließen sich gern mit russischen Diminutiven rufen: Ilja als Iljuscha, Alexandra als Sascha, Schura als Schurotschka und Grigori als Grischa. Leiba wollte wie sie sein und entschied, künftig Ljowa zu heißen, was der russische Diminutiv von Lew war. Semantisch hatte es nichts mit dem jiddischen Namen Leiba zu tun, aber es war ein geläufiger Vorname und klang obendrein ein bißchen ähnlich. (S. 61)

Diese Geschichte von Leibas Verwandlung in Ljowa unterstreicht ein zentrales Thema von Services Argumentation: Trotzki habe sich seiner jüdischen Abstammung geschämt und sie in seiner Autobiografie herunterzuspielen versucht. (Dies soll ein Beispiel für deren »gravierende Ungenauigkeiten« sein.) So versucht Service seinen Lesern glaubhaft zu machen, dass er die wirkliche Geschichte aufgedeckt habe, wie der kleine »Leiba Bronstein«, der Sohn des »erfolgreichen Juden« David Bronstein, zu Ljowa Bronstein und später zu Leo Trotzki wurde.

Eine interessante Geschichte, aber stimmt sie auch? In seiner Autobiografie erinnert sich Trotzki daran, dass man ihn von früher Kindheit an Ljowa nannte. In »Mein Leben« schreibt der englische Übersetzer Max Eastman in einer Fußnote: »Trotzkis voller Geburtsname war Lew Dawidowitsch Bronstein. Der Name seines Vaters war David Leontijewitsch Bronstein. ›Ljowa‹ ist einer von zahlreichen Kosenamen von Lew, was wörtlich ›Löwe‹ bedeutet. Im Englischen und Französischen wurde Trotzki Leon genannt, im Deutschen Leo.«[23]

Service liefert keinerlei dokumentarisches Material, um seine Behauptung zu stützen, dass der kleine Junge je anders gerufen wurde als Ljowa oder mit abgeleiteten Kosenamen wie »Ljowotschka«. Die Familie Bronstein sprach nicht Jiddisch, also gab es auch keinen Grund, den Jungen Leiba zu nennen. Die in seinem Elternhaus gesprochene Sprache war eine Mischung aus russisch und ukrainisch.

Was soll man also von Services Geschichte halten, der junge »Leiba« habe den Namen Ljowa angenommen, um wie seine Freunde einen russisch klingenden Vornamen zu haben? Service verweist für diese Geschichte in einer Fußnote auf zwei Stellen. 1. auf die feindseligen Memoiren von Gregori Ziv, der einer der ersten Gefährten des jungen Trotzki in der revolutionären Bewegung war, und 2. auf einen Brief des jungen Trotzki an seine große Liebe, Alexandra Sokolowskaja, vom November 1898.

Der Leser sollte sich darauf verlassen können, dass diese Dokumente Services Geschichte faktisch untermauern. Die meisten Leser haben jedoch weder die Zeit noch die Möglichkeit, sich Zugang zu den Originaldokumenten zu verschaffen. Keins der beiden Dokumente liegt in Englisch vor. Zivs 1921 veröffentlichtes Buch gibt es in wenigen Büchereien in der russischen Originalsprache.[24] Den Brief an Sokolowskaja gibt es, ebenfalls auf Russisch, auf Mikrofilm in den Archiven der Hoover-Institution an der Universität Stanford.

Eine Überprüfung dieser Dokumente[25] führt zu der nicht völlig überraschenden Entdeckung, dass sie absolut keine Informationen enthalten, die Services Geschichte stützen. Das erste Kapitel von Zivs Memoiren, in dem er seine frühesten Kontakte zu Trotzki überliefert, ist mit »Ljowa« betitelt. Es steht dort nicht das Geringste darüber, dass Trotzki seinen Vornamen von »Leiba« in »Ljowa« oder Lew geändert habe. Der junge Mann, den er traf, hieß Ljowa. Punkt. Der Name »Leiba« kommt nicht ein einziges Mal in den Memoiren vor. Ziv schreibt ausführlich über den Wechsel des Nachnamens seines früheren Genossen von Bron­stein zu Trotzki (den der junge Revolutionär vornahm, als er aus dem Exil entfloh: Er nahm offenbar den Namen eines früheren Gefängniswärters an). Es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass Ziv den Vornamen Leiba einfach vergessen habe. Ziv schrieb ihn nicht auf, weil Ljowa nie mit diesem Namen gerufen wurde.

Wie steht es nun mit dem zweiten Dokument, das Service nennt, dem Brief Trotzkis an Alexandra Sokolowskaja vom November 1898? Es ist ein sehr persönlicher und intimer Brief von einem jungen Mann an die Frau, in die er sehr verliebt ist. Dieser Brief ist ein wichtiges Dokument, auf das Service mehrfach zu sprechen kommt. Erklärt der junge Trotzki in diesem sehr persönlichen Brief, wie er an den Namen Ljowa kam? Die Antwort ist NEIN! Es gibt dort überhaupt nichts über eine solche Änderung. Der Brief ist übrigens mit »Ljowa« unterzeichnet, dem Namen, den er in seiner ganzen Jugend getragen hat.

Bis Professor Service also einen echten Nachweis für seine Geschichte von der Verwandlung von »Leiba« in »Ljowa« vorlegt, dürfen wir annehmen, dass er die ganze Sache schlicht und einfach erfunden hat.

Die Frage von Trotzkis ursprünglichem Namen ist sowohl von historischer als auch von politischer Bedeutung. Es ist bekannt, dass die stalinistische Bürokratie ab Mitte der 1920er-Jahre immer häufiger von Trotzki als Bronstein sprach. Er hatte diesen Namen seit 1902 nicht mehr benutzt. Diese Benennung fiel mit der verstärkten Kampagne gegen die Linke Opposition zusammen. Die Benennung Trotzkis als Bronstein (sowie Sinowjews als Radomilski und Kamenews als Rosenfeld) entwickelte sich zu einer Standardmethode der Stalinisten. Während der Moskauer Prozesse machte Trotzki auf die antisemitischen Untertöne in diesen Prozessen aufmerksam, in denen zahlreiche Juden angeklagt waren. Interessanterweise verurteilten in den Vereinigten Staaten viele bürgerliche Liberale jüdischer Abstammung Trotzki, weil er auf diesen Aspekt der Prozesse aufmerksam machte. Unter ihnen befand sich auch der politisch prominente Rabbi Stephen Wise. Diese Bereitschaft, den Mantel eines höflichen Schweigens über den antisemitischen Gestank zu decken, der dem Kreml entstieg, entsprang der nachsichtigen Haltung der Liberalen gegenüber dem Stalinismus in der Volksfrontperiode.

Jahrzehnte später, in der Glasnostperiode, und dann wieder nach der Auflösung der Sowjetunion, wurde Trotzkis jüdische Abstammung für eine breite Schicht russischer Antisemiten zur Obsession. Der herausragende Historiker Walter Lacqueur hat darauf hingewiesen:

Es wäre falsch, den wirklichen Hass von Teilen der russischen Rechten und Neostalinisten auf Trotzki zu unterschätzen. Er war die Personifizierung allen Übels, und er war als Kommunist und als Jude doppelt verhasst; sein ›eigentlicher Name‹, Leiba Bronstein, wurde von seinen Feinden immer mit liebevoller Sorgfalt hervorgehoben. Diese Praxis war früher das Monopol der Nazis. Niemand wäre auf die Idee gekommen, Lenin Uljanow, Gorki Peschkow oder Kirow Kosirikow zu nennen.[26]

In einer Fußnote schreibt Lacqueur, dass Trotzkis Kindheitsname Ljowa war.

Auf mehreren Veranstaltungen zur Vorstellung der Biografie wurde Professor Service zu seinem Umgang mit Trotzkis jüdischem Hintergrund befragt. Statt seine Haltung professionell zu begründen, reagierte er aggressiv, als ob er mit einer Zivilklage drohe: »Nennen Sie mich einen Antisemiten?« Nur Service selbst und vielleicht seine engsten Bekannten kennen seine innerste Haltung zu Juden. Aber darum geht es nicht. Wer, aus welchen Gründen auch immer, antijüdische Vorurteile anspricht, schürt und ausnutzt, praktiziert Antisemitismus. Wenn Service Juden zu seinen persönlichen Freunden zählt, tut das nichts zur Sache. Es ist eine bekannte historische Tatsache, dass Karl Lueger, der Gründer der antisemitischen Christlichsozialen Partei und Bürgermeister von Wien im Österreich des Fin de Siècle, mehrere jüdische Freunde hatte. Für Lueger war der Antisemitismus lediglich eine politische Waffe, um die verbitterte Wiener Kleinbourgeoisie hinter seinem reaktionären politischen Banner zu sammeln. Als er gefragt wurde, wie er seine antisemitische Demagogie mit seinen leutseligen Gelagen mit Juden vereinbare, antwortete Lueger zynisch: »In Wien entscheide ich, wer Jude ist.« Professor Service praktiziert eine ähnliche doppelte Buchführung.

Einen letzten Punkt zu diesem Thema. In seiner Stalin-Biografie von 2004 legte Professor Service Wert darauf, Stalin vom Antisemitismus freizusprechen. Er zitiert eine Bemerkung Stalins am Ende eines frühen Parteitags der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands. Stalin stellte fest, dass es unter den Menschewiken einen höheren Prozentsatz Juden gab als unter den Bolschewiken, und sagte: »Es würde nicht schaden, wenn wir, die Bolschewiken, ein kleines Pogrom in der Partei veranstalten würden.« Service schreibt mit bemerkenswerter Nachsicht, Stalins Äußerung sei »später benutzt worden, um ihm Antisemitismus nachzuweisen. Sie war grob und taktlos. Aber sie reicht kaum, um ihm einen Hass auf alle Juden nachzuweisen … Viele Jahre lang sollte er Freund, Gefährte und Führer zahlloser Juden sein.«[27] Was für eine außerordentlich generöse Deutung von Stalins Haltung gegenüber Juden! Insoweit Stalin nicht alle Juden hasste und sogar einige Juden zu seinen Freunden zählte, war er kein Antisemit! Im Übrigen sollte man nicht versäumen, darauf hinzuweisen, dass Service in seinem Stalin-Zitat von der SDAPR-Konferenz folgende Passage ausgelassen hat: »Lenin ist empört, dass Gott ihm Genossen wie die Menschewiken geschickt hat. Was sind das für Leute? Martow, Dan, Axelrod – alles beschnittene Juden … Wissen die georgischen Arbeiter eigentlich, dass das jüdische Volk feige ist und nicht zum Kämpfen taugt?«[28]

Das zentrale Anliegen von Services Biografie – und damit knüpft er dort an, wo sein Mentor Ian Thatcher aufhörte – besteht darin, Trotzki nicht nur als Politiker, sondern auch als Menschen zu diskreditieren. Die Fokussierung auf Trotzkis Person wird dem Biografen gewissermaßen durch die ihm selbst bis zu einem gewissen Grade bewusste Tatsache diktiert, dass er das Ideengebäude Trotzkis intellektuell nicht bewältigen kann. Es ist leichter, Trotzki persönlich anzugreifen, sein Handeln und seine Motive zu entstellen.

Services Porträt Trotzkis wurde von unzähligen rechten Kritikern begrüßt. Robert Harris schrieb beispielsweise in der britischen Sunday Times:

Wenn man sich den unausstehlichsten, radikalen Mittelschichtstudenten vorstellt, den man je traf – verbittert, höhnisch, arrogant, eigennützig, eingebildet, verhärtet, unreif, engstirnig und herablassend –, diesem Bild einen Kneifer hinzufügt und es an den Anfang des vergangenen Jahrhunderts zurückversetzt, dann hat man Trotzki.[29]

Ich könnte mir vorstellen, dass die meisten Adjektive, die der übereifrige Mr. Harris hier benutzt, ziemlich gut zur Charakterisierung seiner eigenen Person taugen.

Der eigentliche Zweck des verzerrten Trotzki-Bilds ist die Erfindung einer gänzlich neuen historischen Person. Dieses Bild wird in der gesamten bürgerlichen Presse seinen Widerhall und in weiteren pseudohistorischen Arbeiten sein Echo finden, die pflichtschuldig auf die »Autorität« und das »maßgebliche Werk« von Professor Service verweisen. Alle Spuren des wirklichen Trotzki, wie er von Genossen und Freunden beschrieben wurde, und vor allem, wie er in seinen Schriften und Taten zu erkennen ist, sollen verwischt und entwertet werden. Die Person des großen Revolutionärs, politischen Genies, militärischen Führers und Meisters des Worts soll ersetzt werden durch etwas Missgestaltetes, Fratzenhaftes, dem jede Ähnlichkeit mit dem Menschen Trotzki abgeht. Trotzki à la Service: ein politisches Monster des zwanzigsten Jahrhunderts! Genau das haben Service und seine Freunde im Sinn, wenn sie von einer »zweiten Ermordung« Trotzkis durch das Buch sprechen.

Doch weil die Konstruktion die Wirklichkeit gröblich verfälscht, verheddert sich der Autor in zahllose Widersprüche. Das Buch beginnt sonderbarerweise mit einer ziemlich treffenden und objektiven Zusammenfassung der Rolle Trotzkis in der Russischen Revolution. Service schreibt zu Beginn:

Trotzki bewegte sich am politischen Himmel wie ein strahlender Komet. […] war er der beste Redner der Russischen Revolution. Er war Anführer des Militärischen Revolutionskomitees, das im Oktober die provisorische Regierung stürzte. Er war die treibende Kraft bei der Gründung der Roten Armee. Er gehörte dem Politbüro der Partei an, dessen politische, wirtschaftliche und militärische Strategie er stark beeinflusste. Er war eine führende Figur in den ersten Jahren der Kommunistischen Internationale. Alle Welt führte den Erfolg der Oktoberrevolution auf seine Partnerschaft mit Lenin zurück. (S. 15)

Kaum eine Seite später beginnt Service allerdings damit, seine einführenden Worte zu unterlaufen. Trotzki »übertrieb seine eigene Bedeutung. Seine Ideen vor 1917 waren nicht annähernd so originell und breitgefächert, wie er es gern gesehen hätte. Trotzki hat viel dazu beigetragen, daß die Bolschewiki an die Macht kamen, aber nicht so viel, wie er behauptete.« (S. 18), teilt uns Service mit.

Diese beiden Einschätzungen passen nicht zueinander. Wenn Trotzki all das tat, was Service ihm im ersten Abschnitt zuschreibt, wie kann er dann »seine persönliche Bedeutung übertrieben« haben?

Nach dem ersten Absatz reiht Service eine Verunglimpfung an die andere, ohne sich um die offensichtliche Anhäufung von Unsinnigkeiten und Widersprüchen zu scheren. Zuweilen behauptet er in einem Satz etwas, das er im selben Abschnitt dann widerlegt! »Leiba«, schreibt Service, »hatte keine Bedenken, auf Kosten seines Vaters zu leben, obwohl er dessen Hoffnungen und Wertvorstellungen verachtete.« (S. 60) Die beiden unmittelbar folgenden Sätze lauten: »Außerdem war der Sohn ebenso stur wie sein Vater. Er wollte sich nicht länger sagen lassen, was er zu tun hatte, und statt sich dem väterlichen Willen zu beugen, verließ er seine behagliche Wohnung und zog bei den Schwigowskis ein.« (S. 60) Auf diese Weise erfährt der Leser im dritten Satz, in dem »Leiba« die bequeme elterliche Wohnung verlässt, um seinen Idealen nachzugehen, das Gegenteil des ersten Satzes, in dem Trotzki keine Skrupel hatte »auf Kosten seines Vaters« zu leben.

Wiederholt behauptet Service, Trotzki habe Entwürfe seiner Autobiografie redigiert, um Material herauszunehmen, das ein ungünstiges Licht auf ihn hätte werfen können. Tatsächlich geschah dies nicht ein einziges Mal. Ganz im Gegenteil. In einem frühen Entwurf seiner Autobiografie, wie Service selbst anmerkt, hatte Trotzki einen Zwischenfall erwähnt, bei dem er einem grausamen und sadistischen Gefängniswärter mutig entgegengetreten war, um ihm zu sagen, dass er dessen beleidigende Bemerkungen nicht länger hinnehmen werde. Der Gefängniswärter lenkte ein. Diese durch Zeugen verbürgte Episode wurde in die veröffentlichte Autobiografie »Mein Leben« nicht aufgenommen.

Service kommentiert dies so: »Diesen Vorfall nahm Trotzki, genau wie andere Episoden, bei denen er Wagemut gezeigt hatte, nicht in seine veröffentlichten Memoiren auf. Solche Informationen mußten Autoren, die ihn bewunderten, ihm abringen. Gern machte er in der Öffentlichkeit eine gute Figur, aber Prahlerei mochte er nicht – das ließ er lieber andere für sich erledigen. Er war süchtig nach Aufmerksamkeit und ganz von sich eingenommen. Bald erkannten die Menschen, wie eitel und egonzentrisch er in Wirklichkeit war.« (S. 78 f., Hervorhebung hinzugefügt.)

Durch einen ziemlich plumpen Trick findet Service hier den Weg, die Bescheidenheit Trotzkis und seine Verachtung für Prahlerei zu diffamieren.

Service verwendet viel Mühe und Raum darauf, Trotzki als untreuen, seine zwei Kinder und seine Ehefrau im Stich lassenden Ehemann abzustempeln. »Als Ehemann«, lesen wir, »behandelte er seine erste Frau schäbig und überging die Bedürfnisse seiner Kinder, besonders wenn seine politischen Interessen dazwischenkamen. Das hatte katastrophale Folgen selbst für diejenigen unter ihnen, die nicht am öffentlichen Leben der Sowjetunion teilnahmen – und seinen Sohn Lew, der ihm ins Exil folgte, hat die Zusammenarbeit mit dem Vater vermutlich das Leben gekostet.« (S. 19)

Wer Services Version der Geschichte folgt, kann kaum auf den Gedanken kommen, dass die repressiven Bedingungen des zaristischen Russlands oder die späteren Verfolgungen durch Stalin irgendetwas mit dem tragischen Schicksal der Familie Trotzkis zu tun gehabt haben. Und tatsächlich kritisiert Service, dass Trotzki die Verantwortung für den Tod seiner Tochter Sina im Jahr 1933 dem Sowjetregime zuwies.

Die Umstände, unter denen die Kinder Trotzkis und seine erste Frau zu Tode kamen, sind für Service jedoch von geringem Interesse. Schwerpunkt seines Interesses ist es vielmehr, Trotzki als unverantwortlichen und abgestumpften Schürzenjäger darzustellen, der seine erste Frau Alexandra Sokolowskaja gedankenlos und egoistisch im Stich gelassen habe.

Service behandelt die Beziehung zwischen Trotzki und Alexandra Sokolowskaja mit wahrlich beleidigender Grobheit. Wiederholt versucht er das junge Paar Leo und Alexandra auf sein eigenes Niveau herabzuziehen.

In diesem Zusammenhang benutzt Service den von mir bereits erwähnten Brief des neunzehn Jahre alten inhaftierten Leo Trotzki aus dem Jahre 1898. Trotzki schrieb ihn der ebenfalls in Odessa inhaftierten Alexandra. Die beiden konnten nicht persönlich miteinander reden. Als er den Brief schrieb, war er krank und niedergeschlagen. Fast ein Jahr waren sie bereits im Gefängnis, und mehrere Monate davon verbrachte Trotzki in Einzelhaft.

Service zitiert eine kurze Passage, in der Trotzki eingesteht, über Suizid nachgedacht und ihn verworfen zu haben, und kommentiert sie so:

In diesen Empfindungen steckten Protzerei und Unreife. Er war ein egozentrischer junger Mann. Unbewußt versuchte er, Alexandra zu mehr zu verleiten als nur dazu, ihn zu lieben: Sie sollte ihn verstehen und sich um ihn kümmern, und das ließ sich möglicherweise durch Eingeständnisse der Schwäche erreichen. Dabei war er nie ernsthaft suizidgefährdet; seine Bemerkungen sollten in ihr den Wunsch wecken, ihn zu beschützen. Er sah ein, daß er überheblich und herzlos zu ihr gewesen war. Was konnte er da Besseres tun, als ihr zu gestehen, daß er eine steinerne Schale besaß und zu sagen, daß er ›Tränen vergoß‹? (S. 73)

Solch hausbackenes Psychologisieren ist von recht zweifelhaftem Wert, selbst wenn es mit den besten Absichten geschieht. Es bekommt aber einen unsinnigen und boshaften Charakter, wenn die Passage, auf die sich die Analyse stützt, gefälscht ist. Trotzki, so erklärt uns Service, spekulierte schlau auf Alexandras Verletzlichkeit, indem er unaufrichtig behauptete, »Tränen« wegen seiner »steinernen Schale« vergossen zu haben.

Der Haken an dieser »Interpretation« ist, dass Service den Brief Leo Trotzkis entstellt hat. Um die Fälschung zu verdeutlichen ist es notwendig, die diesbezügliche Briefstelle vollständig und richtig zu zitieren. Der junge Revolutionär schrieb:

Sascha [Alexandra] ist so gut … und wenn ich sie so sehr küssen und liebkosen möchte … Und all das ist unerreichbar: Stattdessen gibt es Einsamkeit, Schlaflosigkeit, abscheuliche Gedanken an den Tod … brrr … »die Stunde der Erlösung wird kommen, die Menschen werden ihr Loblied singen, sie werden unser mit Tränen gedenken. Sie werden unsere Gräber aufsuchen«. Unsere Gräber, Sascha: unsere G-r-ä-b-e-r. Oh, mit welchem Grauen werden sie eines Tages über unsere Gesellschaftsordnung sprechen … Hinter diesen Türen kann ich jetzt in diesem Augenblick den gewohnten Klang vieler Ketten hören … Sascha, wie sehr haben wir uns daran gewöhnt und wie schrecklich ist es dennoch. Menschen in Ketten … und das alles ist Recht. Bist Du überrascht über diesen Ausbruch von »Weltschmerz«? Eine ungewöhnliche Empfindsamkeit wächst in mir. Beim Lesen von Belletristik oder Gedichten von Pjotr Jakubowitsch habe ich gelernt, Tränen zu vergießen. Meine Nerven sind angespannt, das ist wohl alles. Die sibirische Taiga wird diese städtische Empfindsamkeit mäßigen. Wie glücklich werden wir andererseits dort sein. Wie olympische Götter. Wir werden immer, immer unzertrennlich sein. – Wie oft habe ich mir dies schon gesagt, und doch möchte ich es immer wieder wiederholen … Du und ich haben so vieles durchgestanden, wir haben so vieles erlitten, dass wir, sei sicher, unsere Stunde des Glücks verdient haben.[30]

Dieser Brief an sich ist schon ein außergewöhnliches und tief bewegendes Dokument. Dass sein Autor der zukünftige Führer der Russischen Revolution war, verleiht ihm eine besondere Bedeutung. Diesen Brief als Ausdruck von »Protzerei« und »Unreife« zu interpretieren, spricht für Services Zynismus und Mangel an Sensibilität. Vom wissenschaftlichen Gesichtspunkt aus ist eine solche Einschätzung des Briefs jedenfalls unaufrichtig und irreführend.

Zunächst geht es bei Trotzkis, von ihm selbst in Anführungszeichen gesetzter Bemerkung, »Tränen vergießen« gelernt zu haben, nicht darum, dahinter die eigene »steinerne Schale« verbergen zu wollen, sondern unmittelbar um seine Reaktion auf die Lyrik des Dichters Pjotr Jakubowitsch. Wäre Service ein ernsthafter Historiker, hätte er nach sorgfältigem Nachdenken seinen Lesern die Bedeutung dieses Hinweises nahegebracht. Jakubowitsch (1860–1911) war ein bedeutender Lyriker, der als Revolutionär aktiv in der »Narodnaja Wolja« (Volkswille) wirkte. Seine Gedichte rufen Erinnerungen an den Heroismus und die Tragik des zum Scheitern verurteilten Kampfs der revolutionären Terroristen gegen den Zarismus wach und hatten großen moralischen Einfluss auf die Jugend der neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts. Die von Jakubowitsch in seinen Gedichten benutzten Bilder, insbesondere die von Tod und Selbstaufopferung, wurden von Trotzki in seinem Brief an Sascha heraufbeschworen. Und sie wird seine Hinweise natürlich sehr gut verstanden haben. Ein gewissenhafter Historiker würde in diesem umfangreichen Brief, aus dem ich nur eine kurze Passage zitiert habe, wertvolles Material für die Herausbildung eines Verständnisses für sein Thema und die betreffende Zeit sehen. Aber Service ist daran einfach nicht interessiert.

Ein Hauch von Gleichgültigkeit und Trägheit durchzieht das ganze Buch. Der Autor zeigt keinerlei Neugier für den Ursprung der intellektuellen und künstlerischen Kreativität Trotzkis. Seine Bemerkungen über Trotzkis frühe, in der sibirischen Verbannung entstandenen, literarischen Bemühungen sind im Allgemeinen so banal und oberflächlich, dass man glauben könnte, ihr einziger Zweck bestehe darin, die Biografie durch eine hohe Seitenzahl »vollständig« erscheinen zu lassen. Ein typisches Beispiel für Services Talent, aufdringliche Erläuterungen anzubringen, ist seine Bemerkung, Trotzki habe »[…] die Klassiker der russischen Literatur ebenso wie französische Romane [geliebt], er war ein Bewunderer Ibsens und beeindruckt von Nietzsche. Sie alle galten ihm als Beispiele der zeitgenössischen Weltkultur.« (S. 266, Hervorhebung hinzugefügt.) Tat er das wirklich? Wer hätte das gedacht!? Aber etwas scheint hier nicht zu stimmen. Die Bezugnahme auf Nietzsche wirft Zweifel auf, und der Leser mag sich wundern: Was an Nietzsche beeindruckte Trotzki?

Ein ernsthafter Leser, der in der Lage wäre, der Sache auf den Grund zu gehen, stieße womöglich auf Trotzkis Essay »Zur Philosophie des ›Übermenschen‹«, der kurz nach dem Tode Nietzsches im Jahre 1900 geschrieben wurde. Schnell würde der Leser daraus entnehmen, dass »beeindruckt« kaum ein passendes Wort für die Reaktion des jungen Trotzki auf Nietzsche ist. Trotzki verstand Nietzsches Philosophie des »Übermenschen« als Rechtfertigung eines neuen und immer mächtigeren sozialen Typus der

Finanzhasardeure, »Übermenschen« an der Börse, skrupellosen Politiker und Pressemanipulierer, kurz, der ganzen Masse des parasitären Proletariats, das sich eng mit dem bürgerlichen System verbunden hat und auf die eine oder andere Weise – und zwar ziemlich gut – auf Kosten der Gesellschaft lebt, ohne irgendetwas zurückzugeben … Und diese ganze (ziemlich große und immer noch wachsende) Schicht brauchte eine Theorie, die dem intellektuell Überlegenen das Recht zusprach »zu wagen« … Sie wartete auf ihren Apostel und fand ihn in Nietzsche.

Trotzki schließt seinen Essay mit der Aussage, der soziale Boden, auf dem die Philosophie Nietzsches entstand, habe sich als »verfault, bösartig und verseucht« erwiesen.[31]

Vermittelt dies den Anschein, Trotzki sei von Nietzsche »beeindruckt« gewesen? Ist es nicht eher wahrscheinlich, dass Service sich nicht bemühte, Trotzkis Essay zu lesen, und daher einfach nicht weiß, wovon er spricht? Bei Service und anderen seines Schlags verbinden sich intellektuelle Unaufrichtigkeit mit Ignoranz und Scharlatanerie.

Wie ich bereits bemerkte, würde eine erschöpfende Betrachtung aller Fehler und falschen Ausführungen des Buchs selbst ein »vollständiges« Buch erfordern, mindestens so umfangreich wie die Biografie Services. Es ist keine Übertreibung zu sagen, dass es für informierte Leser nicht leicht wäre, in Services Buch eine Seite zu finden, die vom Standpunkt grundlegender geschichtswissenschaftlicher Standards nicht zu beanstanden wäre. Es ist nicht einmal möglich, den direkten Quellenangaben des Autors zu trauen, ohne sie zu überprüfen. Immer wieder erweist sich, dass die von Service angegebenen Quellen seine Aussagen nicht stützen.

Um diese Betrachtung zu beenden, ist es angebracht, auf Services Behandlung der Beziehung zwischen Trotzki und Alexandra Sokolowskaja zurückzukommen. Die Verdrehung der Umstände ihrer Trennung spielt eine wichtige Rolle bei seinem Bemühen, Trotzki als Person, Ehemann und Vater zu diskreditieren. Alle Rezensenten der rechten britischen Presse sprangen begeistert auf diesen Zug auf. Trotzki schildert in seiner Autobiografie »Mein Leben« die Umstände seiner ersten Flucht 1902 aus der sibirischen Verbannung:

Wir hatten zu dieser Zeit schon zwei Töchter: Die jüngste war noch nicht vier Monate alt. Das Leben unter den sibirischen Verhältnissen war schwer. Meine Flucht musste Alexandra Lwowna eine doppelte Bürde auferlegen. Aber sie entschied diese Frage mit den Worten: Es muss sein. Die revolutionäre Pflicht war für sie stärker als alle anderen Erwägungen, besonders persönlicher Art. Sie hatte als erste den Gedanken an meine Flucht gefasst, nachdem wir uns über die neuen Aufgaben klar geworden waren. Sie beseitigte alle auf diesem Wege auftauchenden Zweifel.

Nach meiner Flucht maskierte sie mehrere Tage erfolgreich vor der Polizei meine Abwesenheit. Vom Auslande aus konnte ich mit ihr nur unter großen Schwierigkeiten den Briefwechsel aufrechterhalten. Für sie kam dann die zweite Verbannung. Wir trafen uns in der Zukunft nur vorübergehend. Das Leben hatte uns auseinandergebracht, aber es hat unsere geistige Verbindung und unsere Freundschaft unerschüttert bewahrt.[32]

Service, der Trotzkis Worte nicht zitiert, schreibt: »Später hat er [Trotzki] behauptet, Alexandra habe seine Abreise rückhaltlos unterstützt. Das ist schwerlich für bare Münze zu nehmen.« (S. 91)

Auf welcher Grundlage behauptet Service dies? Er bringt kein einziges Beweisstück bei – Dokumente, Briefe, persönliche Erinnerungen –, das Trotzkis Darstellung widersprechen würde. Diese Darstellung wurde, was betont werden sollte, 1929 geschrieben, als Alexandra noch lebte. Sie widersprach ihm nicht, obwohl Trotzki zu der Zeit aus der UdSSR ausgewiesen war, öffentlich als größter Feind des sowjetischen Volks dargestellt wurde und obwohl das stalinistische Regime jede persönliche Verurteilung ihres früheren Ehemanns begrüßt hätte.

Service setzt suggestive Wendungen ein, um Trotzkis Handeln in ein möglichst schlechtes Licht zu rücken: »Bronstein hatte vor, sie in der Wildnis Sibiriens allein zu lassen. […] Kaum hatte er zwei Kinder gezeugt, beschloß er, sich aus dem Staub zu machen.« (S. 91 f.) Allerdings diskreditiert Service seine eigenen haltlosen Behauptungen, indem er einräumt, Trotzki habe gemäß dem »revolutionären Verhaltenskodex« gehandelt. Die »Sache« war für die Revolutionäre alles. »Für die Revolutionäre war ›die Sache‹ alles. Eheliche und elterliche Pflichten waren schon bedeutsam, aber doch nie so sehr, daß sie junge Kämpfer daran hinderten, das zu tun, was ihr politisches Bewußtsein ihnen befahl.« (S. 92) Wenn dem so war – und Service fügt ausdrücklich hinzu, dass es so war –, aus welchem Grunde behauptet er dann, Trotzkis Bemerkung, Alexandra habe seine Flucht aus der Verbannung befürwortet und sogar angeregt, sei »schwerlich für bare Münze« zu nehmen?

Tatsache ist, dass Services Verurteilung von Trotzkis Handeln nicht auf einer ehrlichen Betrachtung des historischen Kontexts beruht, in dem die jungen Revolutionäre lebten. Man muss hinzufügen, dass Services Verweis auf die »verlassene« Alexandra eine bewusst böswillige Spekulation ist. Es gibt gute Gründe, als historische Tatsache anzunehmen, dass es Bemühungen gab, Alexandra und ihre Kinder zu unterstützen. Und tatsächlich fügt Service in einem späteren Kapitel selbst Material ein, das auf die maßgebliche Rolle der Familie Bronstein bei der Unterstützung der Kinder Trotzkis hinweist. 1907 nahmen Trotzkis Eltern die Tochter Sina mit nach Westeuropa, als sie ihren Sohn besuchten. Service erwähnt, dass Trotzkis Familienleben »kompliziert« gewesen sei: »Sina lebte damals bei Trotzkis Schwester Jelisaweta und deren Mann in ihrem Haus in der Grjasnaja-Straße in Cherson, denen Alexandra regelmäßig schrieb.« (S. 142)

Es scheint also nicht so, als hätte Trotzki »sich aus dem Staub gemacht« und seine Familie »im Stich gelassen«. Als Revolutionäre meisterten sie beide, Lew Dawidowitsch und Alexandra, die außerordentlich schwierigen Umstände so gut sie konnten. Irgendwann in der Zukunft, wenn mehr Dokumente ans Tageslicht gekommen sind, ist es vielleicht möglich, die Einzelheiten ihres persönlichen Verhältnisses genauer zu rekonstruieren. Aber Robert Service wird nicht der Mann sein, der diese Aufgabe übernimmt.

Was die Beziehung zwischen Trotzki und Alexandra betrifft, gibt es ein Dokument, das ihre tiefe und anhaltende Verbundenheit als Genossen und Freunde belegt. Es handelt sich um einen Brief, den Alexandra am 14. August 1935 an Trotzki schrieb. Der letzte Akt der grauenhaften menschlichen Tragödie steht bevor. Sie redet ihn mit »Lieber Ljowa« an und berichtet ihm von den schwierigen Bedingungen, mit denen die einzelnen Familienmitglieder konfrontiert sind. Unter Hinweis auf die Bemühungen Trotzkis, ihr materielle Unterstützung zukommen zu lassen, schreibt sie: »Wie immer hat mich Eure Aufmerksamkeit tief gerührt.« Ihren Brief beendet sie mit: »Ich umarme Euch herzlichst, Eure Alex.«[33]

Lew Dawidowitsch Trotzki und Alexandra Lwowna Sokolowskaja waren außergewöhnliche Menschen, Vertreter einer revolutionären Generation, deren Fähigkeit zur Selbstaufopferung, um das Dasein der Menschheit zu verbessern, offenbar grenzenlos war. Wie können Professor Service und seinesgleichen glauben, sie könnten mit Verunglimpfungen, Fälschungen und Rufmord diese Titanen auf ihr eigenes jämmerliches Niveau herunterziehen!


[1]

Zitiert nach Alan M. Wald (Hg.), James T. Farrell, The Revolutionary Socialist Years. New York 1978; S. 87, aus dem Englischen.

[2]

»Londoner’s Diary«, in: London Evening Standard, 23. Oktober 2009, [http://londonersdiary.standard.co.uk/2009/10/index.html], aus dem Englischen.

[3]

Robert Harris, »Trotsky: A Biography by Robert Service«, in: The Sunday Times, 18. Oktober 2009, aus dem Englischen.

[4]

Leo Trotzki, »Interview in News Chronicle«, 24. August 1936, in: Writings of Leon Trotsky (1935–36). New York 1977; S. 413, aus dem Englischen.

[5]

Leo Trotzki, »Last Letter from Europe«, 18. Dezember 1936, in: Writings of Leon Trotsky (1935–36). New York 1977; S. 502, aus dem Englischen.

[6]

Leo Trotzki, »Speech for a Newsreel«, 30. Januar 1937, in: Writings of Leon Trotsky (1936–37). New York 1978; S. 179, aus dem Englischen.

[7]

Ebd.

[8]

The Case of Leon Trotsky. Report of Hearings on the Charges Made Against Him in the Moscow Trials, by the Preliminary Commission of Inquiry. New York 1968; S. 585, aus dem Englischen.

[9]

Leo Trotzki, Das Übergangsprogramm. Essen 1997; S. 83.

[10]

Leo Trotzki, »The Founding of the Fourth International«, 18. Oktober 1939, in: Writings of Leon Trotsky (1938–39). New York 1974; S. 87 f., aus dem Englischen.

[11]

Trotzki, Verteidigung des Marxismus. Essen 2006; S. 14.

[12]

Ebd. S. 15.

[13]

Leo Trotzki, »Stalin Seeks My Death«, 8. Juni 1940, in: Writings of Leon Trotsky (1939–40), New York 1974; S. 250, aus dem Englischen.

[14]

Foreign Affairs, Jg. 19, Nr. 2, Januar 1941; S. 332, aus dem Englischen.

[15]

In der deutschen Ausgabe wird diese Behauptung auf S. 16 (Einleitung) fallen gelassen, im Schlusskapitel (S. 618) dann jedoch wieder aufgestellt. Anm. d. Hrsg.

[16]

The American Historical Review, Jg. 54, Nr. 4, Juli 1960; S. 904, aus dem Englischen.

[17]

Siehe Teil II dieses Buches.

[18]

Samuel H. Baron, Plekhanov in Russian History and Soviet Historiography. Pittsburgh 1995; S. 188, aus dem Englischen.

[19]

Friedrich Griese hat für die Suhrkamp-Ausgabe diesen Ausdruck (im Englischen »idolator«) stark abgeschwächt und mit »Bewunderer« übersetzt (S. 12). Anm. d. Hrsg.

[20]

Siehe Teil I ab S. 57 in diesem Buch.

[21]

Siehe S. 167 in diesem Buch.

[22]

Dieser erläuternde Hinweis von Service unter einer antisemitischen Karikatur von Trotzki wurde in der deutschen Ausgabe gestrichen. Die Karikatur selbst, die einem Nazi-Hetzblatt entstammt, wurde jedoch ohne weitere Erklärung und Quellenangabe abgedruckt (Bild 11 im Anhang). Anm. d. Hrsg.

[23]

Leon Trotsky, My Life. New York 1970; Vorwort S. 3, aus dem Englischen.

[24]

Gregori A. Ziv, Trockij. Charakteristika. New York 1921.

[25]

Bronštejn an A. Sokolovskaja, November 1898: Rossijskij gosudarstvennyj archiv social’no-političeskoj istorii (RGASPI), Moskau.

[26]

Walter Lacqueur, Stalin. The Glasnost Revelations. New York 1990; S. 59 f., aus dem Englischen.

[27]

Robert Service, Stalin. A Biography. London 2004; S. 77.

[28]

Zitiert nach Hiroaki Kuromiya, Stalin. London 2005; S. 12, aus dem Englischen.

[29]

Robert Harris, »Trotsky: A Biography by Robert Service«, in: The Sunday Times, 18. Oktober 2009, aus dem Englischen.

[30]

Siehe Fußnote 26 auf S. 207 dieser Ausgabe.

[31]

Кое-что о философии »сверхчеловека« (Etwas über die Philosophie des »Übermenschen«), in: L. Trotskii, Sochinenija, Bd. 20. Moskau und Leningrad 1926; S. 147–162, aus dem Russischen.

[32]

Trotzki, Mein Leben. Berlin 1961; S. 123.

[33]

Leo Trotzki, Tagebuch im Exil. München 1962; S. 143.