David North
Verteidigung Leo Trotzki

Siebzig Jahre seit Leo Trotzkis Ermordung

Diesen Vortrag hielt der Autor am 17. Oktober 2010 auf einer Veranstaltung der Partei für Soziale Gleichheit (PSG) zum 70. Jahrestag der Ermordung Trotzkis in Berlin.

Siebzig Jahre, mehr als zwei Drittel eines Jahrhunderts, sind seit der Ermordung Leo Trotzkis vergangen. In der Politik ist das eine lange Zeit. Es wäre geradezu eine Plattitüde zu sagen, dass sich seit 1940 vieles geändert hat. Die Welt von Churchill, Roosevelt und Hitler scheint – ich benutze dieses Verb mit Bedacht – einer längst vergangenen Epoche anzugehören. Ob sie wirklich so weit hinter uns liegt, ist eine Frage, die sehr sorgfältig abgewogen werden sollte – besonders, wenn man die Einschätzung Leo Trotzkis durch die Historiker untersucht. Was immer sich in der Welt geändert hat, Trotzki ist in höchstem Maße eine Persönlichkeit unserer Zeit geblieben. Auch nach siebzig Jahren löst sein Name noch leidenschaftliche Kontroversen aus.

Zwei Tage nach Trotzkis Ermordung begrüßte die New York Times seinen Tod in einem Leitartikel voller Häme:

Die Opfer seiner kalten Grausamkeit … zählen nach Millionen … Es genügte ihm nicht, Russland in Blut und Leiden zu tauchen, die ganze Welt sollte durch ein Meer der Gewalt waten, um den Triumph des Proletariats zu sichern.

Die Gehässigkeit der Leitartikler, die diese Zeilen schrieben, ist nur allzu verständlich. Sie fürchteten Trotzki als größten Revolutionär ihrer Zeit. Er stellte eine Bedrohung ihrer Interessen und ihrer Lebensweise dar. Sie schrieben über einen Feind, dessen Taten die Welt geformt hatten, in der sie lebten. Die Leitartikler konnten jedoch nicht umhin, die enormen Leistungen ihres Gegners anzuerkennen:

Er war ein kraftvoller Schriftsteller, ein Redner, der große Massen mitreißen konnte, ein genialer Organisator … Es war Trotzki, der, eben aus der New Yorker East Side nach Russland gekommen, aus einer undefinierbaren, zerlumpten Masse von Russen die Rote Armee formte. Er vertrieb jeden ,weißen‘ General von russischem Boden, durchkreuzte jeden Versuch der Alliierten, das alte Regime wiederherzustellen, und verlieh einem Verkehrs- und Versorgungssystem, das in völligem Chaos versunken war, zumindest den Anschein von Ordnung.

Siebzig Jahre nach Trotzkis Tod ist die Wut seiner Feinde nicht verraucht. Im Verlauf der vergangenen sieben Jahre sind drei Trotzki-Biografien von britischen Historikern erschienen. Die erste, von Ian Thatcher, erschien 2003. Die zweite, von Geoffrey Swain, wurde 2006 herausgegeben. Die letzte von Robert Service wurde 2009 unter großem Getöse auf den Markt gebracht. Diese Biografien lassen jeden Ansatz von historischer Distanz, von Objektivität oder auch nur von elementarer Ehrlichkeit vermissen. Die Autoren schreiben über Trotzki, als sei er ein lebender politischer Gegner und ihr persönlicher Feind. So seltsam es erscheinen mag, die Leitartikler der New York Times von 1940 legten trotz ihrer politischen Erbitterung mehr Achtung vor den Tatsachen an den Tag. Zumindest erkannten sie an, dass Trotzki eine kolossale historische Rolle gespielt hatte.

Ich habe viel Zeit darauf verwandt, die Bücher von Thatcher, Swain und Service zu beantworten und ihren Inhalt zu widerlegen. Sie sind allesamt erbärmliche Beispiele für Geschichtsklitterung und historische Fälschung. Meine Aufsätze und Vorträge über diese drei Autoren sind in einem Sammelband herausgebracht worden, der etwa 200 Seiten umfasst. Ich bin dem Mehring-Verlag dankbar, dass er eine deutschsprachige Ausgabe dieses Buches publiziert hat. Gern würde ich behaupten, dass meine Kritik Swain, Thatcher und Service in allen Aspekten widerlegt hat. Doch leider war ich aus Gründen des Zeitdrucks und wegen anderer Verpflichtungen gezwungen, mich auf die hanebüchensten historischen Fälschungen dieser Autoren zu beschränken.

Nach der Veröffentlichung von »Verteidigung Leo Trotzkis« hatte ich auf etwas Erholung von der unerquicklichen Aufgabe gehofft, sogenannte Historiker zu widerlegen, die mit Fälschungen und Verdrehungen Karriere machen. Daraus scheint leider nichts zu werden. Vor meiner Abreise nach Deutschland berichteten mir die Genossen der Partei für Soziale Gleichheit (PSG) von der schroffen Abweisung, mit der das Institut für Geschichtswissenschaften an der Humboldt-Universität auf die Ankündigung reagiert hatte, dass Professor Alexander Rabinowitch einen öffentlichen Vortrag über die Oktoberrevolution halten werde. Das Institut war nicht bereit, einen geeigneten Hörsaal zur Verfügung zu stellen oder Rabinowitch offiziell zu begrüßen – und sei es auch nur durch eine Einladung auf eine Tasse Kaffee.

Ich fragte mich, worin die Ursache für diese Feindseligkeit gegenüber dem Vortrag von Professor Rabinowitch bestand. Es musste mehr dahinter stecken als schlechtes Benehmen. Wie eine Durchsicht der Schriften von Mitgliedern dieser Fakultät schnell ergab, war das in der Tat der Fall.

Im Online-Archiv des Instituts für Geschichtswissenschaften der Humboldt-Universität findet sich eine Rezension[1] der Trotzki-Biografie von Robert Service. Der Verfasser ist Andreas Oberender, ein wissenschaftlicher Mitarbeiter, der unter der Leitung von Professor Jörg Baberowski tätig ist. Oberenders wenig gehaltvolle Arbeit zeigt zumindest, dass die zeitgenössische Kampagne zur Diskreditierung Trotzkis kein rein angloamerikanisches Unterfangen ist.

Oberenders Begeisterung für Services Biografie kennt keine Grenzen. Freudig begrüßt er Services längst überfällige Zerstörung des »Mythos« von Trotzkis welthistorischer Bedeutung. In geradezu sklavischer Gefolgschaft wiederholt Oberender Services Abkanzelung der angesehenen Trotzki-Biografien von Isaac Deutscher und Pierre Broué. Diese Schriftsteller seien nichts als »Apologeten« und »Anbeter« Trotzkis gewesen.

Service hingegen preist Oberender als »idealen Biografen« Trotzkis:

Trotzkistischer Neigungen gänzlich unverdächtig, besitzt er die gebotene kritische Distanz gegenüber seinem Protagonisten …

Mit keinem Wort erwähnt Oberender, dass Services Verbindung zu dem extrem antikommunistischen Hoover-Institut an der Stanford-Universität seine »kritische Distanz« und seine Objektivität fragwürdig erscheinen lässt.

Trotz seines uneingeschränkten Lobs für Services Biografie hat Oberender nichts Konkretes dazu zu sagen. Er zitiert keinen einzigen Satz dieses angeblich so brillanten Werks. Stattdessen widmet er fast die ganze Rezension seiner eigenen gehässigen Verleumdung Trotzkis.

Oberender schreibt:

Ohne sein früh zu Tage tretendes Schreib- und Redetalent wäre er nur ein Jungrevolutionär unter vielen geblieben. Andere Ressourcen als die Rhetorik standen ihm nicht zu Gebote, um Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.

Was soll man zu einer derart banalen und absurden Äußerung sagen? Was würde man von einem Biografen des Grafen Tolstoi halten, der schriebe: »Ohne sein Talent als Schriftsteller wäre Tolstoi vermutlich nur ein wohlhabender Landbesitzer unter vielen geblieben. Hätte er nicht ›Krieg und Frieden‹, ›Anna Karenina‹, ›Die Wiederauferstehung‹ und ›Der Tod des Iwan Iljitsch‹ geschrieben, würde sich wohl niemand für ihn interessieren. Außer seiner Fähigkeit zu schreiben stand ihm nichts zu Gebote, um Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.« Welch tiefgründige Wahrheit!

Hinter Oberenders Schmähschrift gegen Trotzki steht ein erbitterter Hass auf die sozialistische Bewegung. Er fährt fort:

Ansonsten unterschied sich Trotzkis Werdegang kaum von dem, was für die linksradikale, dem Zarenregime entfremdete Intelligenz typisch war. Das Milieu seiner Sozialisation waren die von ungesunder Stickluft und Fraktionsgezänk erfüllten Emigrantenzirkel und Zeitungsredaktionen mit ihren endlosen scholastischen Disputen über die Reinheit der marxistischen Lehre und den richtigen Weg zur Revolution.

Oberender zufolge

… trat Trotzki nie aus dem einengenden Bannkreis der russischen Sozialdemokratie heraus; nach Anzeichen von Offenheit und Kontaktbereitschaft gegenüber anderen intellektuellen und weltanschaulichen Milieus sucht der Leser vergebens.

Was für eine Ignoranz! Trotzkis Aktivitäten und sein Einfluss beschränkten sich vor 1917 nicht auf das Milieu der russischen Sozialdemokratie. Er war eine der wichtigsten Persönlichkeiten in der europäischen sozialistischen Bewegung, allen wichtigen Führern der Zweiten Internationale wohlbekannt – einschließlich Ramsey McDonald, dem zukünftigen britischen Premierminister. Trotzki sprach fließend Deutsch und Französisch und schrieb auch in beiden Sprachen. Er war zumindest vor 1914 eng mit Karl Kautsky befreundet und seine Artikel erschienen in Die Neue Zeit. Trotzki galt als herausragende Kapazität in Fragen der Balkanpolitik. Was die Spannweite seiner kulturellen Interessen angeht, so leugnet nicht einmal Service, dass Trotzki über ein breites Spektrum intellektueller, literarischer und künstlerischer Strömungen schrieb – über Themen wie Nietzsche, Ibsen und die europäische künstlerische Avantgarde.

Doch Oberender meint:

Die Aneignung und Rezeption des Marxismus durch den jungen Trotzki zeigt eindrücklich, was geschieht, wenn sich ein durchaus beweglicher und aufnahmefähiger Intellekt einer Ideologie unterwirft, sich selbst in einem hermetisch abgeschlossenen Gedankengebäude einmauert und die Wirklichkeit nur noch durch das Prisma starrer Dogmen und unumstößlicher Gewissheiten wahrnimmt.

In der für kleinkarierte Pragmatiker typischen Weise versucht Oberender, Menschen wie Trotzki, die sich der Bedeutung theoretischer Methodik bewusst sind und systematisch denken, als »Dogmatiker« zu verspotten. Allerdings versäumt er es, die »starren Dogmen« und »unumstößlichen Gewissheiten«, die Trotzkis Denken angeblich einschnürten, zu benennen. Vermutlich hat Oberender das Gesamtwerk marxistischen Denkens, seine Verankerung im philosophischen Materialismus und die materialistische Geschichtsauffassung im Sinn. Er merkt gar nicht, dass er mit seinen unbewiesenen Behauptungen eben jenes dogmatische Denken an den Tag legt, das er Trotzki vorwirft.

Hören wir Oberender weiter.

Unvoreingenommene Analysen und sachliches Argumentieren waren Trotzkis Sache nicht; er war ein Meister der grandiosen Phrase und der schneidenden Polemik, begabt mit dem fragwürdigen Talent, auch die abwegigsten und haarsträubendsten Gedanken in schillernden rhetorischen Prunk zu kleiden. Das Übermaß an Stil ging Hand in Hand mit einem eklatanten Mangel an Substanz und Tiefgang.

Oberender geht davon aus, dass seine Leser keinen blassen Schimmer von Trotzkis literarischem Werk und dem immensen Einfluss haben, den er durch seine Schriften auf die öffentliche Meinung ausübte. Brecht äußerte 1931 in einem Gespräch mit Walter Benjamin und Hermann Hesse, dass Trotzki zu Recht als Europas größter Schriftsteller gelten könne. Und Brecht war beileibe kein politischer Anhänger Trotzkis. Ein Akademiker, der es fertigbringt, einen derart verlogenen und kompletten Unsinn zu schreiben, kann nicht mehr beanspruchen, als Historiker ernst genommen zu werden.

Trotzkis Schriften zur europäischen und zur Weltpolitik, die sich über vierzig Jahre erstrecken, sind in ihrem Scharfsinn unübertroffen. Doch Oberender erklärt:

Trotzki war ein obsessiver Viel- und Schnellschreiber, der sich Kompetenz in jeder nur erdenklichen Frage anmaßte und seinen unbezähmbaren Mitteilungsdrang mitunter in bloße Geschwätzigkeit abgleiten ließ. Bezeichnenderweise forderte das Politbüro Trotzki im Juni 1926 auf, er solle seine publizistische Fließbandproduktion drosseln und sich stärker den Ämtern und Aufgaben widmen, mit denen ihn die Partei betraut hatte.

Oberenders Sympathien gehören Stalin und den übrigen Fraktionsgegnern Trotzkis im sowjetischen Politbüro. Er versäumt es anzumerken, dass die stalinistischen Bemühungen, Trotzki zu zensieren, Teil einer gezielten Kampagne waren, um den größten und populärsten Gegner der wachsenden Bürokratie zum Schweigen zu bringen und zu ächten.

Oberender entblödet sich nicht, in absurder Anwendung der kontrafaktischen Geschichtsschreibung zu fragen:

Was wäre aus Trotzki geworden, wenn die Zarenherrschaft nicht an den Herausforderungen des Ersten Weltkrieges gescheitert wäre? Er hätte sich wohl weiter als linksradikaler Journalist und alternder Revolutionär im Wartestand durchs Leben geschlagen.

Und was, könnten wir in ähnlicher Weise fragen, wäre aus Lincoln ohne die Krise der Union geworden? Er wäre ein Provinzadvokat geblieben. Was wäre aus Luther geworden ohne den Konflikt zwischen Rom und den deutschen Fürsten, der den Anstoß zur Reformation gab? Auf einer etwas bescheideneren Ebene könnte man fragen, was wohl aus Frau Merkel geworden wäre ohne den Fall der Berliner Mauer. Im Grunde fragt uns Oberender, was aus Trotzki geworden wäre, wenn es das zwanzigste Jahrhundert nicht gegeben hätte! Es fand zwar auch ohne Herrn Oberenders Erlaubnis statt, aber leider gefallen ihm die Ergebnisse nicht.

In Revolutions- und Bürgerkriegszeiten ließ er den Schreibtisch hinter sich, um die Massen zu agitieren und die Rote Armee in den Kampf gegen die Weißen zu führen. Seine Rednergabe, sein Organisationstalent und nicht zuletzt seine unsentimentale Einstellung zur Gewaltanwendung ließen ihn rasch zu einem der bekanntesten und einflussreichsten Parteiführer aufsteigen.

Mit anderen Worten: In Zeiten von Krieg und Revolution, in denen sich Millionen in gewaltige politische Auseinandersetzungen stürzten, stieg Trotzki zu einer der großen Persönlichkeiten der Weltgeschichte auf!

Oberender möchte nun die Geschichte rückgängig machen:

Was bleibt von Trotzki und seinem Nimbus? … [Es] kann nach der Lektüre der [Service-] Biographie kein Zweifel daran bestehen, dass bei kritischer Betrachtung von Trotzkis einst aufgeblähter Reputation nicht mehr viel übrig bleibt. Seine Schriften gehören mehrheitlich ins Kuriositätenkabinett, und die exaltierte Überspanntheit seines Denkens wirkt heute, in unserer ideologieentwöhnten Zeit, nur noch befremdlich, wenn nicht bizarr. Die von ihm gegründete Vierte Internationale ist kaum mehr als eine Fußnote in der Geschichte der Arbeiterbewegung.

Wie man mir sagt, wurde Herr Oberender in der ehemaligen DDR geboren. Wie würde er heute den Platz der stalinistischen Regierungspartei SED in der Geschichte der Arbeiterbewegung beurteilen? Oder auch den Platz der Kommunistischen Partei der Sowjetunion? Was bleibt von diesen reaktionären bürokratischen Strukturen? Trotzki sagte das Schicksal der stalinistischen Parteien voraus: »Von diesen reaktionären Organisationen«, schrieb er, »wird kein Stein auf dem anderen bleiben.«

Da sich Herr Oberender in Spekulationen ergangen hat, welches Schicksal Trotzki wohl erwartet hätte, wenn es nicht zu Krieg und Revolution gekommen wäre, wird er wohl keinen Anstoß daran nehmen, wenn ich die Frage stelle: Was wäre wohl aus Herrn Oberender geworden, wenn die DDR nicht zusammengebrochen wäre? Offen gesagt, bezweifle ich, dass sein Leben ganz anders verlaufen wäre. Für seine bescheidenen Talente hätte sich sicherlich ein Platz im Wissenschaftsbetrieb der DDR finden lassen. Vielleicht hätte er sogar eine Stelle an der Humboldt-Universität bekommen. Die Rezension jedenfalls, die er über die Service-Biografie geschrieben hat, hätte in einem stalinistischen Journal abgedruckt werden können, ohne dass auch nur ein einziges Wort hätte geändert werden müssen!

Nach Oberender gehörten Trotzkis Schriften in ein Kuriositätenkabinett, für unsere Zeit hätten sie nämlich keine Bedeutung. Ein merkwürdiges Urteil für einen Historiker – besonders für einen, der angeblich auf die Geschichte der Sowjetunion spezialisiert ist. Zu behaupten, Trotzki sei irrelevant, heißt, die historische Bedeutung eines der wichtigsten Ereignisse des zwanzigsten Jahrhunderts abzustreiten: der Russischen Revolution. Ist es möglich, die politische Strategie hinter der Russischen Revolution zu verstehen, ohne auf die Schriften Leo Trotzkis zurückzugreifen? Kein ernsthafter Historiker könnte beim Studium der Ereignisse von 1917 auf die »Geschichte der Russischen Revolution« verzichten, die überdies als ein unbestrittenes Meisterwerk der Weltliteratur gilt. In ähnlicher Weise ist ein Studium von Trotzkis »Verratener Revolution« nicht nur für Historiker unverzichtbar, sondern für jeden, der verstehen möchte, was die Sowjetunion war und worauf die sozialen, wirtschaftlichen und politischen Widersprüche zurückgehen, die 1991 zu ihrer Auflösung führten – ein Schicksal, das 1936 von Trotzki vorausgesehen wurde!

Trotzkis literarisches Werk ist heute von einer Aktualität, die sich im Vergleich zu anderen Autoren seiner Zeit einzigartig ausnimmt. Ungeachtet aller Veränderungen in den vergangenen siebzig Jahren behandelte Trotzki Themen, Prozesse und Probleme, die uns bis heute beschäftigen: der Charakter der Weltwirtschaft und ihre Beziehung zum Nationalstaatensystem; die Bedeutung und die Auswirkungen der globalen Vorherrschaft des amerikanischen Imperialismus und die Brüchigkeit der bürgerlichen Demokratie. Natürlich nennt Herr Oberender nicht einmal den Titel eines einzigen Buchs von Trotzki. Das Auffallendste seiner zahlreichen Versäumnisse besteht allerdings darin, dass er nicht mit einem Wort auf das hinweist, was zumindest für einen deutschen Historiker zu Trotzkis größten Leistungen zählen muss: seine Analyse des deutschen Faschismus und seine leidenschaftliche Warnung vor der ungeheuren Gefahr, die der Nationalsozialismus für die deutsche und die internationale Arbeiterklasse darstellte.

Glaubt Herr Oberender, dass auch diese Schriften in das historische Kuriositätenkabinett gehören? Haben sie keine Bedeutung für unser angeblich »ideologieentwöhntes« Zeitalter? Gerade wird im Historischen Museum Berlins eine umfangreiche Ausstellung über die Herrschaft des Nationalsozialismus gezeigt. Bis auf den heutigen Tag leiden die deutsche Politik und Kultur unter dem Sieg der Nazis im Januar 1933 und seinen Folgen. Doch dieser Sieg war ein Ergebnis der feigen und verantwortungslosen Politik der sozialdemokratischen und kommunistischen Parteien, die sich weigerten, Millionen sozialistischer Arbeiter zum gemeinsamen Kampf gegen Hitler zu vereinen.

Trotzkis Warnungen vor der Gefahr des Faschismus gehören zu den weitsichtigsten politischen Dokumenten des zwanzigsten Jahrhunderts. Sie sind umso ungewöhnlicher, als sie entstanden, während er im Zwangsexil in der Türkei lebte. Trotzki rief zu einer Einheitsfront der Arbeiterklasse gegen die Nazis auf und verurteilte sowohl die erbärmliche Unterordnung der SPD unter Hindenburg als auch die verbrecherische Gleichsetzung der Sozialdemokratie mit dem Faschismus durch die stalinistische Partei. Während die stalinistische KPD in einer Mischung aus Demagogie und bangem Fatalismus behauptete, dass ein Sieg der Nationalsozialisten schnell zu einer kommunistischen Revolution führen würde, warnte Trotzki, dass Hitlers Machtübernahme eine politische Katastrophe von unvorstellbarem Ausmaß mit sich bringen würde.

Die Behauptung, dass es keinen Unterschied gemacht hätte, wenn Trotzki sich im innerparteilichen Kampf durchgesetzt hätte, wird durch die Ereignisse in Deutschland widerlegt. Selbst wenn keine andere Frage Trotzki und Stalin entzweit hätte, so hätte ihr Zerwürfnis wegen Deutschland genügend historisches Gewicht, um zu beweisen, dass Trotzkis Niederlage äußerst tragische Folgen hatte.

Ich möchte mich auf ein Dokument beziehen, das Trotzki im April 1932, neun Monate vor Hitlers Sieg, geschrieben hat. Es ging darin um die angemessene Reaktion der Sowjetregierung auf einen faschistischen Sieg. Trotzki schrieb:

Meine Beziehungen zu der jetzigen Moskauer Regierung sind nicht von der Art, dass ich ein Recht hätte, in ihrem Namen zu sprechen oder auf ihre Absichten zu verweisen, die ich, wie jeder andere Leser oder Politiker, nur auf Grund aller erreichbaren Nachrichten beurteilen kann. Aber umso freier heraus kann ich sagen, wie meiner Meinung nach die Sowjetregierung im Falle der faschistischen Staatsumwälzung in Deutschland handeln müsste. Wenn ich an ihrer Stelle wäre, würde ich, sobald ich telegrafisch von diesem Ereignis erführe, eine Anweisung zur Generalmobilmachung unterzeichnen. Wenn man einem Todfeind gegenübersteht, und wenn der Krieg sich notwendig aus der Logik der tatsächlichen Lage ergibt, wäre es unverzeihlicher Leichtsinn, diesem Feind Zeit zu geben, sich festzusetzen und zu verstärken … und so eine Gefahr von ungeheurem Ausmaß wachsen zu lassen.[2]

Möchte Oberender auch diese Worte ins historische Kuriositätenkabinett verbannen?

Wie ist Leo Trotzki siebzig Jahre nach seinem Tod einzuschätzen? Wir haben heute den Vorteil des historischen Rückblicks. Wir kennen den Ausgang der politischen Konflikte, in denen Trotzki eine so zentrale Rolle gespielt hat. Wir kennen das Schicksal der Sowjetunion und des stalinistischen Regimes, das auf der Grundlage des politischen Kampfes gegen Trotzki an die Macht kam.

Man muss die Frage stellen: Welche Perspektive wurde durch den Verlauf der Geschichte bestätigt: die Theorie Stalins und Bucharins vom »Sozialismus in einem Land« oder Trotzkis Theorie von der Unmöglichkeit, den Sozialismus auf nationaler Grundlage zu errichten? Welche Perspektive nahm den Weg der wirtschaftlichen Entwicklung vorweg: Stalins Konzeption eines autarken nationalen Sozialismus oder Trotzkis Beharren auf dem Primat globaler ökonomischer Prozesse?

Die Geschichte der Sowjetunion als Ganzes zeigt, dass die Kampagne gegen Trotzki und den Trotzkismus, die 1923 im Politbüro begann, eine rechtsgerichtete und im Wesentlichen russisch-nationalistische Reaktion gegen das revolutionäre internationalistische Programm einleitete, auf dem die Russische Revolution beruht hatte. Binnen weniger als zehn Jahren mündete der Ausschluss der Internationalisten aus der Kommunistischen Partei in einen politisch motivierten Massenmord von ungeheuerlichen Ausmaßen. Ziel war die Vernichtung aller Vertreter der marxistischen Politik und Kultur innerhalb der sozialistischen Intelligenz und der Arbeiterklasse.

Der anti-sozialistische Terror der Dreißigerjahre hinterließ in der sowjetischen Gesellschaft schwere politische Wunden. Stalins gezielte Massenmorde, die zur Vernichtung fast des gesamten Offizierskorps der Sowjetunion führten, begünstigten die Nazis und erleichterten ihnen den anschließenden Einmarsch.

Die furchtbaren Verluste an Menschenleben, die die Sowjetunion zwischen 1941 und 1945 erlitt, müssen zu einem großen Teil den Auswirkungen der stalinistischen Säuberungen zugeschrieben werden. Langfristig änderte der sowjetische Sieg im Zweiten Weltkrieg nichts daran, dass sich die UdSSR politisch auf dem Weg in eine Katastrophe befand. All die fieberhaften Reformversuche der sowjetischen Bürokratie nach Stalins Tod 1953 basierten auf dem nationalistischen Programm des Stalinismus. Das System, das Stalin hinterließ, taumelte von Krise zu Krise, bis es 38 Jahre nach dem Tod des Diktators zusammenbrach. Und dieser Zusammenbruch – die Auflösung der UdSSR durch die Bürokratie, die Umwandlung von Staatseigentum in Privateigentum und die Verwandlung von Teilen der Bürokratie in kapitalistische Multimilliardäre – er nahm genau die Form an, die Trotzki in den 1930er-Jahren vorausgesehen hatte.

Abschließend möchte ich gern Trotzkis heutige Bedeutung ansprechen. Welchen Platz nimmt er in der Geschichte ein? Als Schriftsteller, Redner, Stratege revolutionärer Erhebungen, militärischer Führer und politischer Denker repräsentiert Trotzki den Gipfel sozialistischer Politik und Kultur im zwanzigsten Jahrhundert. Vor 1917 entwarf Trotzki die Strategie der Russischen Revolution. Während der Jahre der Revolution und des Bürgerkrieges verkörperte er den Siegeswillen des Proletariats. Später, angesichts politischer Niederlagen und der Isolation als gejagter Exilant, stieg Trotzki zu noch größerer politischer und moralischer Größe auf – als der unversöhnliche Gegner der stalinistischen Konterrevolution und der Stratege der zukünftigen Weltrevolution.

Wie kein anderer definierte Trotzki, was es hieß, im zwanzigsten Jahrhundert ein revolutionärer Sozialist zu sein. Es steht außer Frage, dass Lenin eine überragende Persönlichkeit in der Geschichte des Sozialismus war. Aber sein Leben und seine Arbeit sind in die Russische Revolution eingebettet, mit allen ihren Widersprüchen. Er starb im Januar 1924, als sich die Reaktion gegen die Oktoberrevolution in der Partei, die er geschaffen hatte, gerade erst zu entfalten begann. In den letzten Wochen seines bewussten politischen Lebens wandte sich Lenin aus Sorge um das Schicksal der Revolution – wie in seinen letzten Schriften dokumentiert – an Trotzki mit der Bitte um Unterstützung. Im Kampf gegen den Stalinismus erreichte Trotzkis politisches Werk welthistorische Bedeutung. Die Russische Revolution war eine große Episode in Trotzkis Leben – eine Episode in seinem Kampf für den Sieg der internationalen Arbeiterklasse. Trotzki personifizierte und repräsentierte die sozialistische Weltrevolution. Darüber hinaus rettete er den Sozialismus im Kampf gegen den Stalinismus aus dem Abgrund, in den er von den Gangstern im Kreml und ihren politischen Komplizen gestürzt worden war.

Keine politische Tendenz, die sich sozialistisch nennt, kann ihr Programm und ihre Beziehung zum Marxismus heute ohne die von Trotzki entwickelten politischen Konzepte und politischen Kämpfe definieren. Die Vierte Internationale, die er 1938 gründete, besteht noch immer und verkörpert heute den wahren Marxismus. Siebzig Jahre nach seinem Tod bleibt Trotzki die größte politische Persönlichkeit des vergangenen und der wichtigste Lehrer der Sozialisten des neuen Jahrhunderts.


[1]

Andreas Oberender, »Rezension zu: Service, Robert: Trotsky. A Biography. London 2009«, in: H-Soz-u-Kult, 17.6.2010, [http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2010-2-208].

[2]

Leo Trotzki, »Ein Sieg Hitlers bedeutet Krieg gegen die UdSSR«, in: Porträt des Nationalsozialismus, Essen 1999; S. 199 f.