David North
Das Erbe, das wir verteidigen

Die »Drei Thesen« der Rückschrittler

Bei seiner Darstellung der Kriegsjahre benutzt Banda Phrasen wie »in ­Europa beteiligten sich die Sektionen nicht an der Résistance«, um die Vierte Internationale in den Augen all jener, die ihre Geschichte nicht gründlich kennen, verächtlich zu machen.

Die Weigerung der Vierten Internationale, die politische Unabhängigkeit des Proletariats dem Programm des »demokratischen« Imperialismus zu opfern, und ihre Entschlossenheit zu einer prinzipientreuen Haltung gegenüber den Widerstandsbewegungen verdreht Banda nun zu der verlogenen Beschuldigung, die Trotzkisten, die ewigen politischen Feiglinge, hätten eine »enthaltsame Position« bezogen! Schon wieder ein Grund, das Internationale Komitee zu begraben! Nieder mit dem Trotzkismus!

Es dürfte kaum überraschen, dass Banda sich nicht die Mühe macht, nachzuprüfen, auf welchen historischen Ursprung die Auseinandersetzung über die Haltung der Vierten Internationale gegenüber den Widerstandsbewegungen im Zweiten Weltkrieg zurückgeht. Es interessiert ihn nicht, wer in den vierziger Jahren eine ähnliche Kritik an der trotzkistischen Bewegung vorbrachte, oder mit welchen politischen Positionen diese Kritik verbunden war.

Stattdessen streift Banda Cannons Kampf gegen die Fraktion von Morrow und Goldman nur im Vorübergehen und bezeichnet ihn als »Alibi und willkommene Ablenkung«, die den »Abstieg in einen Pragmatismus übelster Sorte« nicht aufgehalten habe. Dann geht er wie ein Taschendieb, der sich schnell davonstehlen will, sofort zum nächsten Punkt über. Warum so eilig? Aus der Beiläufigkeit seiner Bemerkung könnte man den Schluss ziehen, es habe sich nur um einen bedeutungslosen Zwischenfall gehandelt, der für die Geschichte der Vierten Internationale nicht besonders wichtig sei.

Dem ist nicht so. Mit dem Kampf gegen Felix Morrow und Albert Goldman setzte Cannon die erbitterte Schlacht fort, die die SWP 1939–1940 unter Leo Trotzkis Führung gegen die kleinbürgerliche Opposition von Shachtman, Burnham und Abern geschlagen hatte. Der Kampf gegen die Minderheit unter Morrow und Goldman wuchs sich schließlich zu einem internationalen Kampf gegen kleinbürgerliche und rechte Elemente in der gesamten Vierten Internationale aus.

Die Tatsache, dass Banda über diese Auseinandersetzung hinweggeht und nur von einem »Alibi« und einer »willkommenen Ablenkung« spricht, ist in zweierlei Hinsicht bezeichnend.

Erstens zeigt sich erneut, dass Banda eine durch und durch subjektive Auffassung von der Geschichte der Vierten Internationale und ihren innerparteilichen Kämpfen hat. Er ist unfähig, den objektiven Zusammenhang zwischen den Fraktionskämpfen in der trotzkistischen Bewegung und der Entwicklung der kapitalistischen Weltkrise und des Klassenkampfs herzustellen. Banda betrachtet und untersucht die politischen Lebenswege der Führer der Vierten Internationale nicht als einen widersprüchlichen Ausdruck der objektiven gesellschaftlichen Verhältnisse. Stattdessen teilt er sie ein in die Guten, die Bösen und die ganz Bösen.

Zweitens zeigt eine Analyse der Fragen, die im Verlauf des Kampfs gegen Morrow, Goldman und ihr internationales Gefolge aufkamen, die reaktionäre politische und theoretische Tradition von Bandas heutigen Vorwürfen gegen die Vierte Internationale. Banda ist, wie wir bereits feststellten, ein Eklektiker. Er stützt sich auf Bruchstücke aller möglicher alter revisionistischer Argumente, die schon längst zur Zufriedenheit aller Trotzkisten beantwortet worden waren – mit Ausnahme, wie sich jetzt herausstellt, von Michael Banda.

Nicht nur seine Kritik an der Haltung der Vierten Internationale zu den offiziellen Widerstandsbewegungen, sondern auch seine Behauptung, dass »die gesamte Vierte Internationale – Trotzkis dialektischer Fähigkeiten und seiner Voraussicht beraubt – der Nachkriegssituation völlig hilflos gegenüberstand«, weil »führende Trotzkisten wie Cannon den Trotzkismus in ein fetischistisches Dogma verwandelten«, ist eine Wiederholung der Vorwürfe von Felix Morrow.

Felix Morrow bildete sich 1946 ein, die Vierte Internationale sei in ihre letzte Krise eingetreten, und gab folgende Begründung:

Dieses irrwitzige Festklammern an veralteten Formeln – das ist der Grund für all unsere Streitigkeiten. Genosse Cannon nennt es unser »unveränderliches Programm«. Hier liegt der Kern unseres Streits. Für Cannon und seine Anhänger darf das Programm nicht von weltlichen Händen berührt werden, es ist heilig, unantastbar …

Unserem Verständnis nach muss man, um die jetzige Auseinandersetzung richtig einzuschätzen, unbedingt verstehen, welche Situation durch Trotzkis Tod geschaffen worden ist. Trotzkis Tod musste früher oder später unweigerlich eine politische Krise in der Vierten Internationale hervorrufen, und damit sind wir heute konfrontiert – eine politische Krise im internationalen Maßstab. Es musste so kommen, denn Trotzkis Tod hinterließ eine Lücke, die niemand ausfüllen konnte, weder einzeln noch gemeinsam.[1]

Als Morrow über Cannons »unveränderliches Programm« schimpfte – was Banda heute mit den Worten »ein fetischistisches Dogma aus dem Trotzkismus machen« umschreibt –, versuchte er, das Programm der Vierten Internationale umzuwerfen. Die Ähnlichkeit zwischen Bandas und Morrows Position ist weder oberflächlich noch zufällig. Das abgetragene theoretische Kostüm der kleinbürgerlichen Gegner der Vierten Internationale wird von Generation zu Generation weitervererbt. Und jede neue Generation von Revisionisten – von Shachtman 1940 bis hin zu Banda 1986 – rühmt sich der Neuentdeckung des einen Fehlers, der dem Trotzkismus zum Verhängnis geworden sei.

Wir wollen die Ursprünge der Auseinandersetzung mit der Morrow-Goldman-Fraktion und ihren internationalen Anhängern untersuchen, zu denen übrigens auch Bandas geliebter Grandizo Munis zählte, sowie Jock Haston von der Revolutionary Communist League, wie sich die britische Sektion damals nannte.

Der Kampf, den Trotzki und die SWP gegen Burnham, Shachtman und Abern führten, war ein politischer Meilenstein auf dem Weg der Socialist Workers Party zu einer marxistischen proletarischen Partei. Die SWP brach entschlossen mit den kleinbürgerlichen Propagandisten, die in der Arbeiterbewegung ein Fremdkörper waren und sich dem Klassendruck beugten, den der Imperialismus kurz vor dem Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg auf die revolutionäre Vorhut ausübte.

James Burnham, der ideologische Führer der Minderheit, der sich offen gegen den dialektischen Materialismus ausgesprochen hatte, desertierte kaum mehr als einen Monat nach der Spaltung im April 1940 in das Lager der demokratischen imperialistischen Reaktion. Shachtmans Gruppe, die sich »Workers Party« nannte, bezeichnete sich nach wie vor als trotzkistisch. Aber sie lehnte die Haltung der Vierten Internationale zur Sowjetunion ab. Sie weigerte sich, sie als Arbeiterstaat zu bezeichnen und bedingungslos gegen imperialistische Angriffe zu verteidigen.

Shachtman brachte mit seiner Fahnenflucht den Skeptizismus einer breiten Schicht kleinbürgerlicher Intellektueller zum Ausdruck, die unter dem Eindruck proletarischer Niederlagen, der scheinbaren Stärke der sowjetischen Bürokratie und des Gespensts des Kriegs sämtliches Vertrauen in die Perspektive der sozialistischen Revolution verloren hatten. Wie Trotzki erklärt hatte:

All die verschiedenen Arten enttäuschter und verängstigter Vertreter des Pseudomarxismus gehen im Gegensatz dazu davon aus, dass der Bankrott der Führung nur die Unfähigkeit des Proletariats »widerspiegelt«, seinen revolutionären Auftrag zu erfüllen. Nicht alle unsere Gegner drücken diesen Gedanken klar aus, aber alle – Ultralinke, Zentristen, Anarchisten, ganz zu schweigen von den Stalinisten und Sozialdemokraten – wälzen die Verantwortung für die Niederlagen von sich selbst auf die Schultern des Proletariats ab. Keiner von ihnen äußert sich dazu, was genau die Bedingungen sind, unter denen das Proletariat in der Lage sein wird, den sozialistischen Umsturz durchzuführen.[2]

Politisch, theoretisch und organisatorisch war die Spaltung mit Shachtman zwar von entscheidender Bedeutung, aber das bedeutete nicht, dass der seiner Degeneration zugrunde liegende gesellschaftliche Druck aufgehört oder es keine Spur kleinbürgerlicher Elemente mehr in der Vierten Internationale gegeben hätte. Solange der Kapitalismus besteht, und selbst noch unmittelbar nach der sozialistischen Revolution, wird es keinen »letzten Kampf« gegen den Revisionismus geben. Der Krieg mit seinen katastrophalen Folgen und unvorhersehbaren Konsequenzen führte innerhalb der Vierten Internationale zu neuen Gruppierungen.

Die ersten Anzeichen für neue revisionistische Tendenzen innerhalb der Vierten Internationale zeigten sich 1942, als eine Gruppe aus Deutschland emigrierter Trotzkisten »Drei Thesen zur politischen Situation und den politischen Aufgaben« veröffentlichte. Die Positionen in diesem Dokument erinnerten an Trotzkis Warnung von 1939, dass kleinbürgerlicher Skeptizismus unweigerlich in eine politische Sackgasse führen muss: »Wenn wir annehmen, es wäre wahr, dass der Grund für die Niederlagen in den sozialen Eigenschaften des Proletariats selbst begründet liegt, dann müsste man die Lage der modernen Gesellschaft als hoffnungslos bezeichnen.«[3] Dies war mehr oder weniger der Standpunkt, zu dem die Verfasser der »Drei Thesen« mit ihrer Theorie des »Rückschritts« gelangt waren. Ausgehend davon, dass die Niederlage der Arbeiterklasse und die Herrschaft der Nazis über Europa unwiderruflich feststünden, kamen die »Rückschrittler« von der IKD (Internationale Kommunisten Deutschlands) zu der Überzeugung, dass die Perspektive des Sozialismus für die absehbare Zukunft von der Bühne der Geschichte abgetreten sei. Ihrer Meinung nach würde der Krieg noch jahrzehntelang toben. Ihr Pessimismus führte zu regelrechten Weltuntergangsvisionen: »Wo man auch hinsieht«, schrieben sie, »überall nur maßlose Zerstörung, Brand und Chaos, das den Untergang jeder menschlichen Kultur besiegelt.«[4]

Für sie war der Nationalsozialismus nicht das Ergebnis des verfaulenden Kapitalismus, sondern das Geburtsmal eines neuen Gesellschaftssystems: »Die Gefängnisse, die neuen Ghettos, die Zwangsarbeit, die Konzentrationslager und selbst die Kriegsgefangenenlager sind nicht nur politisch-militärische Übergangseinrichtungen, sondern gleichzeitig neue wirtschaftliche Ausbeutungsformen, Begleiterscheinungen der Entwicklung eines modernen Sklavenstaats, die einem beträchtlichen Teil der Menschheit zum dauernden Schicksal werden sollen.«[5]

Die alten Auffassungen des Klassenkampfs galten nicht mehr: »Die politische Situation … zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass alle Arbeiterparteien und alle nicht-faschistischen bürgerlichen Parteien zerschlagen worden sind … Bis auf gewisse Ausnahmen gibt es keine unabhängige traditionelle bürgerliche oder proletarische Bewegung mehr … selbst die ›nationale‹ Bourgeoisie wird Schritt für Schritt zerschmettert … Unter diesen Bedingungen muss der Protest gegen das wachsende Elend einen anderen Ausdruck finden.«[6]

Die neue Bewegung würde aus »allen Klassen und Schichten« bestehen, die sich zum Kampf für die »nationale Befreiung« Europas zusammenschließen. Alles Gerede über den Sturz des Kapitalismus zählte nicht mehr: »In diesem Zwischenstadium, das im Wesentlichen einer demokratischen Revolution entspricht, bleibt der Übergang vom Faschismus zum Sozialismus eine Utopie.«[7]

Hitlers Niederlage in Stalingrad Ende 1942 – der Anfang vom Ende des deutschen Faschismus – zerschlug den Kernpunkt der »Drei Thesen«, dass ein Ende des Kriegs und der Vorherrschaft des deutschen Imperialismus nicht abzusehen sei. Aber anstatt ihre alte Theorie nun aufzugeben, revidierten sie die Rückschrittler einfach, um sie noch umfassender zu gestalten und die Perspektive der sozialistischen Revolution noch kategorischer zurückzuweisen.

1944 legten sie ein neues Dokument vor, »Kapitalistische Barbarei oder Sozialismus«, in dem sie Folgendes behaupteten: »Die Entwicklung moderner Sklavenstaaten ist eine weltweite Erscheinung, die sich aus der Verwesung des Kapitalismus ergibt.«[8]

Die geschichtliche Entwicklung der Menschheit sei um Generationen, wenn nicht gar Jahrhunderte zurückgeworfen worden. Die Arbeiterklasse habe daher die Aufgabe, die nationale Freiheit zurückzuerobern, um die Voraussetzungen für eine sozialistische Entwicklung zu schaffen. Die rückschreitende Entwicklung

stellt sich uns als furchtbarer Selbsterhaltungskampf einer Gesellschaft dar, die zum Untergang verdammt ist. Sie geht den Weg der Geschichte in umgekehrter Richtung, zurück zum Ende des Mittelalters, der Epoche der ursprünglichen Akkumulation, des Dreißigjährigen Kriegs, der bürgerlichen Revolutionen etc. Damals wurden veraltete Wirtschaftsformen zerschlagen und unabhängige Nationen errichtet – heute wird diese Unabhängigkeit zerstört und die Gesellschaft zurückgestoßen in die Barbarei des Mittelalters …

Der Sozialismus … wird in die Vergangenheit gesogen … Das Proletariat ist, wie früher, wieder eine formlose Masse. Die Eigenschaften, die es sich während seines Aufstiegs und seiner Herausbildung erworben hat, sind verlorengegangen.[9]

Der historische Inhalt des »Rückschritts« wurde in folgende Formel gefasst: »… von Sklaverei, Knechtschaft, fehlender nationaler Unabhängigkeit, wirtschaftlicher Abhängigkeit und Rückständigkeit zu wirtschaftlicher Rückständigkeit und Abhängigkeit, fehlender nationaler Unabhängigkeit, Knechtschaft und Sklaverei.«[10]

Um bloß keinen falschen Optimismus aufkommen zu lassen, verkündeten die IKD-Theoretiker stolz: »… den Ausgangspunkt des Rückschritts haben wir konkret bestimmt: im Russland der siegreichen Oktoberrevolution. Wir haben also die siegreiche Oktoberrevolution in die Rückschrittstheorie mit einbezogen. Mit ihren Widersprüchen betrachten wir sie als isolierte Revolution in konterrevolutionärer Umwandlung.«[11]

Anstatt dem deutschen Faschismus schrieben die Rückschrittler nun die Rolle des Herrn über den universalen »Sklavenstaat« den USA zu. Der grundlegende gesellschaftliche Konflikt bestand jetzt im Kampf der Nationen um Unabhängigkeit.

Bevor sich Europa in Form »Sozialistischer Staaten« zusammenschließen kann, muss es sich erst erneut in unabhängige und eigenständige Nationen aufspalten. Es geht ausschließlich darum, dass die zersplitterten, versklavten, zurückgeworfenen Völker und das Proletariat wieder Nationen bilden …

Das dringendste politische Problem ist die jahrhundertealte Frage aus der Frühzeit des industriellen Kapitalismus und des wissenschaftlichen Sozialismus – Erringung der politischen Freiheit, Errichtung der Demokratie (auch in Russland) als unerlässliche Vorbedingung für nationale Befreiung und Gründung einer Arbeiterbewegung.[12]

Jeder Sozialist müsse anerkennen, dass

die rückschrittliche Entwicklung in großem Maßstabe alle Probleme in sich zusammendrängt, die mit der gesamten aufsteigenden Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Vorgeschichte verbunden gewesen waren … Und das durch den Rückschritt bereitgestellte unerlässliche Mittel zur Lösung der Weltkrise des Kapitalismus und Sozialismus – ein Mittel, nach dem die Revolutionäre nur die Hand ausstrecken müssen – heißt: nationale Freiheit. Damit wollen wir sagen: Die nationale Frage ist eine historische Erscheinung, die notwendigerweise zu dem strategischen Dreh- und Angelpunkt für den Wiederaufbau der Arbeiterbewegung und für die sozialistische Revolution wird. Wer diese historisch notwendige Erscheinung nicht versteht und nicht weiß, wie er sie nutzen soll, weiß und versteht nichts vom Marxismus-Leninismus.[13]

Die gewundenen Pfade ihrer Perspektive führten die Rückschrittler dazu, die grundlegende marxistische Auffassung über die politische Unabhängigkeit der Arbeiterklasse aufzugeben und eine neue Rechtfertigung für die Klassenzusammenarbeit in Form der Volksfront zu finden. Im Europa von 1942–1945 bedeutete dies, die Arbeiterklasse vollständig den bürgerlich geführten Widerstandsorganisationen unterzuordnen. »Revolutionäre haben die Wahl, diese Bewegungen entweder bedingungslos zu unterstützen oder sich völlig aus der Politik zurückzuziehen.«[14]

Die IKD-Rückschrittler waren nicht davon abzubringen, dass die einzig vernünftige Perspektive davon ausgehen müsse, dass eine neue Epoche nationaler demokratischer Revolutionen angebrochen sei. Der Arbeiterklasse bliebe nichts anderes übrig, als sich an die bürgerlichen und kleinbürgerlichen Führer des Widerstands anzuhängen: »Wir hatten gute Gründe dafür und betrachten es als Anstoß zum Nachdenken, dass wir uns weder in ›Kapitalistische Barbarei‹ noch in den ›Drei Thesen‹ noch sonst irgendwo mit ›proletarischen‹ revolutionären Zukunftsaussichten befassten. Außer Hohn und Spott kann man in unseren Schriften kein Wort über diesen Revolutions-Unfug der Vierten [Internationale] finden.«[15]

Fast vom ersten Augenblick ihres Erscheinens an wurde die Perspektive der Rückschrittler von der Socialist Workers Party bekämpft und verurteilt. Schon 1942 warnte die SWP in einer Resolution:

Der offizielle Patriotismus dient lediglich dazu, die Klasseninteressen der Ausbeuter zu verschleiern. Die nachträgliche Kapitulation der französischen Bourgeoisie vor Hitler hat dies zur Genüge bewiesen.

Das Streben der Massen in Frankreich und den anderen besetzten Ländern nach nationaler Unabhängigkeit ist von großer revolutionärer Bedeutung. Aber genau wie der Antifaschismus kann auch dieser Wunsch für imperialistische Zwecke missbraucht werden. Ein derartiger Missbrauch der Bewegung ist unvermeidbar, wenn sie unter den Parolen und der Führung des bürgerlichen Nationalismus verbleibt. Das einzige Interesse der »demokratischen« imperialistischen Gangster besteht darin, das Eigentum wieder an sich zu reißen, das ihnen die faschistischen Gangster genommen haben.

Das verstehen sie unter nationaler Befreiung. Die Massen haben ganz andere Interessen. Die Arbeiter in den besetzten Ländern müssen sich an die Spitze der Aufstandsbewegungen stellen und sie darauf hinlenken, Europa auf sozialistischer Grundlage neu zu organisieren. Ihre Verbündeten in diesem Kampf sind nicht die anglo-amerikanischen Imperialisten und ihre Anhängsel unter der einheimischen Bourgeoisie, sondern die deutschen Arbeiter … Die Parole für einen vereinten revolutionären Kampf lautet: »Vereinigte Sozialistische Staaten von Europa«. Alle anderen Parolen müssen dieser Parole untergeordnet werden.[16]

Der Streit zog immer weitere Kreise und wurde immer schärfer. Ausgerechnet Shachtman und seine »Workers Party« – die, erinnern wir uns, die »Militärpolitik« der SWP als »Sozialchauvinismus« verurteilt hatten – begrüßten die Theorien der IKD-Rückschrittler. Die Parole der SWP, die »Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa«, bezeichneten sie als »rein abstrakt und dogmatisch … Bevor die Massen in den ›Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa‹ eine realistische Perspektive erkennen können, wollen sie zweifellos erst einmal ihre eigenen unabhängigen Nationalstaaten haben.«[17]

Shachtmans Impressionismus zeitigte wie üblich die bizarrsten politischen Ergebnisse. In Asien, wo wirklich demokratische Aufgaben gelöst werden mussten, lehnte die Workers Party den nationalen Befreiungskampf des chinesischen Volks gegen den japanischen Imperialismus ab und sagte, man könne Chiang Kai-shek als bürgerlichem Nationalisten nicht die geringste Unterstützung zukommen lassen. Aber in Europa, wo die demokratische Revolution schon längst stattgefunden hatte, pochte Shachtman darauf, dass sich das Proletariat der reaktionären nationalen Bourgeoisie in den besetzten Ländern unterordnen solle.

Shachtman griff natürlich die Trotzkisten an, weil sie nicht bereit waren, völlig in den offiziellen Widerstandsbewegungen aufzugehen und sich ihrem bürgerlichen Programm anzupassen. »Die Sektionen der Vierten Internationale«, schrieb er, »erwiesen sich als politisch steril«, weil sie »nicht zu den glühendsten und standhaftesten Kämpfern für die nationale Befreiung, das zentrale Ziel dieser revolutionären demokratischen Bewegungen wurden.«[18] Die SWP analysierte Shachtmans Position und stellte dabei klar, dass es gar nicht um die Frage ging, ob sich die Trotzkisten am Widerstandskampf der Massen gegen die Nazis beteiligen sollten oder nicht:

Revolutionäre beteiligen sich an jeder Massenbewegung, aber mit ihrem eigenen revolutionären Programm und ihrer eigenen revolutionären Methode. Die Resolution der Workers Party fordert dagegen politische Übereinstimmung mit der Volksfront; sie fordert, dass wir an der Volksfront als Volksfrontanhänger teilnehmen. Die Lehrmeister der Workers Party in der IKD haben geschrieben, dass diese Bewegungen »bedingungslos unterstützt« werden müssten. Und hier liegt der wesentliche Unterschied zwischen uns und Shachtman.[19]

Wenige Jahre zuvor hatte Trotzki gewarnt, dass der Impressionismus zur Auflösung des theoretischen Denkens führe; die Dokumente der IKD lieferten den konkreten Beweis dafür. Ihre Autoren hatten unter dem Einfluss großer historischer Ereignisse völlig den Boden unter den Füßen verloren.

Obwohl die theoretischen Formulierungen der IKD in einem fast undurchdringlich komplizierten Stil verfasst waren und sich den Anschein überwältigender Tiefgründigkeit gaben, waren sie im Wesentlichen nichts weiter als subjektive Konstruktionen, die nur von einseitigen Eindrücken von der Oberfläche der politischen Entwicklung ausgingen. Der Klasseninhalt ihrer impressionistischen Methode zeigte sich unweigerlich in den politischen Schlussfolgerungen: Sie traten für eine Kapitulation vor der Bourgeoisie ein und unterstützten dadurch den Verrat der Stalinisten und der Sozialdemokraten.

Wie alle Impressionisten waren sie praktisch blind gegenüber der wirklichen Entwicklung des geschichtlichen Prozesses, den sie zu erklären vorgaben. Von 1943 an kam das Proletariat in ganz Europa in Bewegung.

Ermutigt durch die eindrucksvolle soziale Kraft, die die Sowjetunion den Nazis entgegenstellte, setzte die Arbeiterklasse zu einem machtvollen Angriff gegen den deutschen Imperialismus und seine bürgerlichen Verbündeten an. Besonders in Frankreich, Italien und Griechenland eröffneten sich den bewaffneten Massen Möglichkeiten zur Machteroberung, die sie zu nutzen versuchten. Diese Kämpfe wurden von den Stalinisten verraten, die auf der Grundlage der Abkommen zwischen der sowjetischen Bürokratie und dem anglo-amerikanischen Imperialismus dafür sorgten, dass die Herrschaft des Kapitalismus in Griechenland und Westeuropa erhalten blieb.


[1]

Internes Bulletin der SWP, Jg. 8, Nr. 8, Juli 1946, S. 28–29.

[2]

Leo Trotzki, »Die UdSSR im Krieg«, in: Verteidigung des Marxismus, Essen 2006, S. 14.

[3]

Ebd., S. 15

[4]

Internes Bulletin der SWP, Jg. 8, Nr. 10, August 1946, S. 15.

[5]

Ebd.

[6]

Ebd.

[7]

Ebd.

[8]

Internationale Kommunisten Deutschlands, »Capitalist Barbarism or Socialism«, in: New International, Beilage, Oktober 1944, S. 331.

[9]

Ebd., S. 333–334.

[10]

Ebd., S. 333.

[11]

Ebd., S. 334.

[12]

Ebd., S. 340.

[13]

Ebd.

[14]

Internes Bulletin der SWP, Jg. 8, Nr. 10, August 1946, S. 16.

[15]

Ebd.

[16]

Ebd., S. 16–17.

[17]

Ebd., S. 18.

[18]

Ebd., S. 19.

[19]

Ebd.