David North
Das Erbe, das wir verteidigen

Die Wurzeln des Pablismus

Das Jahr 1948 zeichnete sich durch einschneidende Veränderungen in der politischen und ökonomischen Struktur Osteuropas aus. Es war daher notwendig, die Analyse des Zweiten Weltkongresses der Vierten Internationale vom April zu überarbeiten.

Die Sowjetbürokratie sah sich gezwungen, auf den besonders durch den Marshallplan aggressiv geführten Kalten Krieg des US-Imperialismus mit radikal antikapitalistischen Maßnahmen in den sogenannten »Pufferstaaten« zu reagieren. In Bulgarien, der Tschechoslowakei und Polen wurden die Schlüsselindustrien, das Bankensystem und das Nachrichten- und Verkehrswesen weitgehend oder vollständig verstaatlicht. In Rumänien war bereits mit der Verstaatlichung der Produktionsmittel begonnen worden.

Bei der Bestimmung des Klassencharakters dieser Staaten, deren gesellschaftliche und wirtschaftliche Struktur ein Ergebnis der besonderen und außergewöhnlichen Umstände nach dem Zweiten Weltkrieg war, musste die Vierte Internationale diese Entwicklungen berücksichtigen.

In den zwischen Stalin und dem britischen und amerikanischen Imperialismus in Teheran, Jalta und Potsdam geschlossenen Abkommen war der Sowjetunion die Vormachtstellung in Osteuropa als Gegenleistung dafür zugestanden worden, dass der Kreml sich an der Erdrosselung der revolutionären Bewegung der Arbeiterklasse in Frankreich, Italien und Deutschland und an der Niederschlagung des bewaffneten Kampfs der griechischen Arbeiter und Bauern beteiligte.

In Osteuropa waren das Privateigentum an den Produktionsmitteln und der kapitalistische Staatsapparat trotz der Anwesenheit der sowjetischen Besatzungstruppen nicht auf der Stelle abgeschafft worden. Dem Vorgehen des Kremls fehlte bis 1947 jede langfristige Perspektive zur Vernichtung des Kapitalismus in den Pufferstaaten. Seine Wirtschaftspolitik konzentrierte sich mehr auf die Ausnutzung ihrer materiellen Güter als auf die Vergesellschaftung ihrer Produktionsmittel. Die einheimische Bourgeoisie wurde nicht enteignet. Verstaatlicht wurden lediglich diejenigen Betriebe, von denen die Arbeiter bei Kriegsende Besitz ergriffen hatten.

Erst angesichts der militärischen und wirtschaftlichen Bedrohung durch den Marshallplan leitete die Sowjetbürokratie erste Maßnahmen gegen die osteuropäische Bourgeoisie ein. Die Bedeutung dieser Entwicklung und der Ereignisse in Jugoslawien wurde auf dem Siebten Plenum des Internationalen Exekutivkomitees der Vierten Internationale im April 1949 bewertet. Das IEK fasste die wichtigsten Merkmale des neuen politischen Schwenks der Sowjetbürokratie zusammen – die Verstaatlichung der Schwerindustrie, den Beginn wirtschaftlicher Planung und die Maßnahmen gegen die reichsten Schichten der Bauernschaft –, stellte aber gleichzeitig fest, dass »das Proletariat diesen bürokratischen ›Planungs‹-Versuchen gleichgültig und oft abwartend-feindselig begegnet«. Es erklärte, dass diese Art »›Planung‹ nach wie vor eine Mischform darstellt und sich bis heute grundlegend von der sowjetischen Planung unterscheidet, die ihrerseits eine bürokratische Deformation wirklicher sozialistischer Planung darstellt«.[1]

Das IEK analysierte den widersprüchlichen Charakter der Maßnahmen des Kremls in Osteuropa:

Diese Wandlungen in der Politik der Bürokratie gehen nicht ausschließlich auf Veränderungen der objektiven Umstände zurück. Der bürokratische Empirismus bringt – in Form der Reaktion auf unmittelbar drängende Probleme – das Fehlen jeder historischen Perspektive und die Unfähigkeit zum Ausdruck, einen in grundlegenden Fragen festen Kurs einzuhalten. Dies wiederum steht in Beziehung zum konkreten Verhältnis zwischen der Bürokratie, der Bourgeoisie und dem Proletariat. Weil sie in erster Linie jede Möglichkeit einer proletarischen Revolution im Keim ersticken wollte, schloss die Bürokratie vorübergehend einen Kompromiss mit der Bourgeoisie; weil ihre Privilegien historisch mit der Aufrechterhaltung der kapitalistischen Herrschaft unvereinbar sind, musste sie schließlich auf die allmähliche und bürokratische »Liquidierung« der kapitalistischen Kräfte in der Pufferzone hinarbeiten.[2]

Das IEK versuchte, den gesellschaftlichen Charakter der osteuropäischen Staaten genauer zu fassen: »Man kann schlussfolgern, dass die Pufferländer – außer Finnland und den sowjetisch besetzten Zonen in Deutschland und Österreich – heute einen einzigartigen Typus von zwitterhaften Übergangsgesellschaften darstellen. Sie befinden sich im Prozess der Umwandlung. Ihre Merkmale sind noch so fließend und unbestimmt, dass es außerordentlich schwierig ist, den grundlegenden Charakter dieses Typus in einer knappen Formel zusammenzufassen.«[3]

Das IEK gelangte zu folgender Einschätzung:

Das Schicksal der Pufferländer ist noch nicht entschieden, und zwar nicht nur, wie im Falle der UdSSR, im historischen Sinne, sondern auch im ganz unmittelbaren Sinne. Die Gesamtheit der gegenwärtigen weltpolitischen Entwicklungstendenzen: der Marshallplan, der relative »Wiederaufbau« Westdeutschlands, die Wiederaufrüstung Amerikas, die wirtschaftlichen Perspektiven des amerikanischen Imperialismus und des sowjetischen Fünfjahresplans, die Entwicklung der proletarischen Kämpfe und der Kämpfe der kolonialen Völker – all diese Faktoren werden in den kommenden Monaten über das unmittelbare Schicksal der Pufferländer entscheiden.[4]

Das IEK fasste die Schlussfolgerungen der Vierten Internationale zusammen: »Insgesamt führt diese Sachlage zu dem Schluss, dass sich die Pufferzone mit Ausnahme von Finnland und den russisch besetzten Zonen in Deutschland und Österreich auf dem Wege zur strukturellen Anpassung an die UdSSR befindet, diese Anpassung aber noch nicht vollständig vollzogen hat.«[5]

Für Jugoslawien stellte das IEK fest, dass sich der Ursprung des dortigen Staats und Wirtschaftssystems maßgeblich von den anderen Ländern unterschied.

Jugoslawien war das einzige Pufferland, in dem der Großteil der besitzenden Klassen und der bürgerliche Staatsapparat mit Hilfe der Massenaktion vernichtet wurden, d. h. durch den Guerillakrieg, der in diesem Land die Form eines echten Bürgerkriegs annahm. Aus diesem grundlegenden Unterschied zwischen Jugoslawien und den anderen Pufferländern ergeben sich eine Reihe weiterer Unterschiede auf verschiedenen Gebieten: Die KP verfügt über eine wirkliche Massenbasis; die Massen haben eine völlig andere Einstellung gegenüber dem neuen Staat; die jugoslawische KP hat ein anderes Verhältnis zur sowjetischen Bürokratie; nach der Tito-Krise werden sich in der Arbeiterbewegung trotz des unbestreitbar herrschenden Polizeiregimes womöglich wirklich unterschiedliche Strömungen bilden. Obwohl all diese Faktoren in ihrer Gesamtheit nicht die strukturellen Hindernisse aus dem Weg räumen können, die einer wirklichen Planwirtschaft im Wege stehen, und sich die jugoslawische Wirtschaft daher nach wie vor qualitativ von der sowjetischen unterscheidet, so bringen sie dieses Land in politischer und gesellschaftlicher Hinsicht doch näher an die Sowjetstruktur heran. Unsere Verteidigung Jugoslawiens gegen die Verleumdungskampagne und die Wirtschaftsblockade der sowjetischen Bürokratie usw. geht von unserer Einschätzung der Arbeiterbewegung des Landes aus, der Entstehung seines Staats und der revolutionären Möglichkeiten, die sich auf dieser Grundlage auftun. Diese Faktoren haben Vorrang vor rein ökonomischen Gesichtspunkten.[6]

Den Abschluss der Analyse des IEK bildete eine bedeutsame Feststellung, die kurze Zeit später innerhalb der Vierten Internationale angegriffen werden sollte. Aber im April 1949, als sich das IEK mit der objektiven Bedeutung der Entwicklungen in Osteuropa auseinandersetzte, warnte es noch:

a) Man kann den Stalinismus nicht aufgrund vereinzelter Ergebnisse seiner Politik einschätzen, sondern muss von der Gesamtheit seiner Aktivitäten auf Weltebene ausgehen. Betrachten wir den Verfallszustand, in dem sich der Kapitalismus selbst vier Jahre nach Kriegsende noch befindet, und betrachten wir die konkrete Situation von 1943–1945, so steht außer Frage, dass auf Weltebene der Stalinismus der entscheidende Faktor war, der den plötzlichen und zeitgleichen Zusammenbruch der kapitalistischen Ordnung in Europa und Asien verhinderte. In diesem Sinne sind die »Errungenschaften« der Bürokratie in der Pufferzone höchstens der Preis, den der Imperialismus für ihm auf Weltebene geleistete Dienste bezahlte – und dieser Preis wird darüber hinaus inzwischen ständig in Frage gestellt.

b) Vom internationalen Standpunkt aus wiegen die Reformen der Sowjetbürokratie – die Angleichung der Pufferzone an die UdSSR – weit weniger schwer als die Schläge, die die Sowjetbürokratie gerade durch ihre Taten in der Pufferzone dem Bewusstsein des Weltproletariats versetzt hat, das sie mit ihrer Politik demoralisiert, verwirrt, fehlleitet und lähmt, so dass es teilweise für die imperialistischen Kampagnen zur Vorbereitung eines neuen Kriegs empfänglich wird. Selbst vom Standpunkt der UdSSR aus gefährden sie die Niederlagen und die Demoralisierung des Weltproletariats, die der Stalinismus verursacht hat, weit mehr, als sie die Festigung der Pufferstaaten stärkt.[7]

Die Vierte Internationale war zu keiner abschließenden, umfassenden Definition des Charakters der osteuropäischen Staaten gekommen. Ausdrücke wie »zwitterhaft«, »im Übergang befindlich« und »auf dem Weg zur strukturellen Anpassung« zeigen, dass die Analyse noch provisorisch, unvollständig und unzulänglich war. Darum wurde beschlossen, die Diskussion über den Klassencharakter der »Pufferstaaten« auszuweiten.

Heutige Impressionisten und Eklektiker wie Banda – die entweder alles vergessen haben, was sie aus dem Kampf gegen Pablo lernten, oder sich vielleicht die theoretischen Lehren aus diesem Kampf niemals ernsthaft angeeignet haben – wollen sich über die Umsicht und Sorgfalt lustig machen, mit der die Vierte Internationale an diese neuen gesellschaftlichen Phänomene heranging. Sie können nicht verstehen, weshalb die Vierte Internationale die osteuropäischen Staaten nicht auf der Stelle zu »Arbeiterstaaten« erklärte, sobald die Produktionsmittel einmal verstaatlicht waren. Als Empiriker sind sie völlig blind gegenüber den weit schwierigeren politischen, theoretischen und letztendlich praktischen Folgen, die sich aus der Definition der »Pufferländer« als Arbeiterstaaten ergeben.

Aber 1949 waren den wichtigsten Führern der Vierten Internationale die Lehren aus dem Kampf gegen Shachtman und Burnham noch frisch im Gedächtnis. Sie erinnerten sich noch an Trotzkis Warnung: »Jede soziologische Definition ist im Grunde eine historische Prognose.« Was zunächst nur wie ein ziemlich abstrakter Streit über Begriffe aussah, konnte in einem bestimmten Moment unter dem Druck von Klassenkräften zum Ausgangspunkt für eine grundlegende Revision der gesamten historischen Perspektive der trotzkistischen Bewegung werden – und genau dies geschah.

Die Diskussion über den Charakter der Staaten in Osteuropa brachte die Vierte Internationale auf die Frage der historischen Rolle des Stalinismus. Die sowjetische Bürokratie hatte auf militärischem Wege das Privateigentum an den Produktionsmitteln abgeschafft und ein staatliches Außenhandelsmonopol errichtet. Daher stellte sich die Frage: War dies gleichbedeutend mit der Vernichtung des kapitalistischen Staats in Osteuropa und der Errichtung der proletarischen Diktatur, sei sie auch deformiert? In Trotzkis Schriften aus den Jahren 1939–1940 fanden sich wichtige Anhaltspunkte zu diesen Fragen: seine Analyse über die Abschaffung der kapitalistischen Verhältnisse in Weißrussland und Ostpolen nach dem Einmarsch der Roten Armee in der Folge des Hitler-Stalin-Pakts vom August 1939.

Es gab aber nicht nur Ähnlichkeiten zu dieser Situation, sondern auch wichtige Unterschiede. Trotzki sprach von der Enteignung der Großgrundbesitzer und der Verstaatlichung der Produktionsmittel in Gebieten, die »sicherlich der UdSSR einverleibt werden« würden.[8]

Im Gegensatz dazu wurden die osteuropäischen Staaten nicht »strukturell in die Sowjetunion integriert«. (Die Grenzen der Nationalstaaten Osteuropas wurden niemals abgeschafft.) Trotzki hatte außerdem angemerkt, dass sich die Bürokratie in den sowjetisch besetzten Territorien gezwungen gesehen hatte, einen »Anstoß« für die revolutionäre Enteignung durch die Massen zu geben. Er erklärte, ohne die Massen zu unabhängigen Aktionen aufzurufen, »ist es unmöglich, ein neues Regime zu errichten«.[9]

Aber mit Ausnahme von Jugoslawien war die Abschaffung des kapitalistischen Eigentums diesmal von keinerlei ernst zu nehmenden unabhängigen Massenaktionen des Proletariats begleitet worden. Und das Fehlen wirklicher Sowjetformen der Arbeitermacht, die bürokratische Organisation der Tito-Führung und der generell nationalistische Charakter der Politik der Kommunistischen Partei Jugoslawiens warfen auch hier theoretische Probleme auf, die mit grundlegenden Fragen der historischen Perspektive zusammenhingen.

Hinter dem Problem einer richtigen Definition stand eine wesentliche programmatische Frage: Auf welchem Wege werden die Diktatur des Proletariats und der historische Übergang zum Sozialismus verwirklicht? Genau hier wurde der Zusammenhang zwischen einer soziologischen Definition und einer historischen Perspektive am deutlichsten. Im Rahmen des historischen Kampfs der Vierten Internationale, die Krise der revolutionären Führung der Arbeiterklasse zu lösen, war die Frage, ob die soziologische Definition »richtig« war oder nicht, völlig zweitrangig. Viel wichtiger waren die gefährlichen Revisionen von Perspektiven und Programm, die im Laufe der Diskussion über die Pufferländer in die Bewegung geschmuggelt wurden. Es stellte sich schließlich heraus, dass Pablo, Cochran und ihresgleichen, die (unterstützt von Hansen) vor allem betonten, man müsse die »Kriterien« für einen Arbeiterstaat festlegen, ein verstecktes Ziel verfolgten, ob sie sich dessen bewusst waren oder nicht.

Als sich Trotzki 1939–1940 gegen die Definition der sowjetischen Bürokratie als Klasse wandte, versuchte er gleichzeitig festzustellen, ob sich der Streit mit Burnham und Shachtman nur um Worte drehte. »Welche neuen politischen Schlüsse folgen aus diesen Annahmen?«, fragte er.

Da die Vierte Internationale für den Sturz der Bürokratie eintrat, drehten sich die Meinungsverschiedenheiten zwischen Minderheit und Mehrheit so lange nur um Worte, wie erstere zugestand, dass diese Revolution mit der Verteidigung der verstaatlichten Eigentumsverhältnisse verbunden war, selbst wenn sie es vorzog, die Revolution nicht politisch, sondern sozial zu nennen. Daher schrieb Trotzki: »Wenn wir ihnen diese begrifflichen Zugeständnisse machen würden, brächten wir unsere Kritiker in eine sehr schwierige Lage, da sie selbst nicht wüssten, was sie mit ihrem rein verbalen Sieg anfangen sollten.«[10]

In der Auseinandersetzung von 1939–1940 ging es natürlich nicht einfach um Worte. Ausgehend von ihrer Definition der Bürokratie als Klasse ging die Minderheit dazu über, die bedingungslose Verteidigung der UdSSR gegen den Imperialismus abzulehnen. 1949 traten die den Meinungsverschiedenheiten über Begriffe zugrunde liegenden programmatischen Differenzen nicht so schnell zutage. Zunächst sah es so aus, als sei der theoretische Streit beigelegt. Man hatte sich auf eine Definition der Pufferstaaten und Jugoslawiens geeinigt. Aber die weitgehendere Bedeutung der Auseinandersetzung enthüllte sich bald schlagartig in Form einer Perspektive, die die trotzkistische Bewegung physisch zu vernichten drohte.

Alle großen theoretischen Kämpfe werden von widerstreitenden Klassenkräften bestimmt. Die durch die Nachkriegsabkommen hervorgerufenen »Erscheinungsformen« konnten den Eindruck erwecken, der Stalinismus sei stärker denn je und die Sowjetbürokratie könne trotz all ihrer früheren Verbrechen eine progressive historische Rolle spielen. Trotzki hatte davor gewarnt, dass starke Veränderungen in der politischen Konjunktur in den Reihen der revolutionären Bewegung oft zu einem Rückfall in kleinbürgerliche Denkformen führen. Durch eine unkritische Anpassung an die äußere Erscheinung der politischen Wirklichkeit findet der Druck feindlicher Klassenkräfte seinen gefährlichsten Ausdruck.

Der Verlauf der Diskussion zwischen 1949 und 1951 spiegelte eine politische Krise in der Vierten Internationale und besonders in der Socialist Workers Party wider. Die politischen Meinungsverschiedenheiten, die sich allmählich in der Führung der SWP herauskristallisierten, waren ein direkter Ausdruck grundlegender Veränderungen der Klassenbeziehungen in den USA. Zurückzuführen waren diese auf eine Institutionalisierung des Klassenkompromisses und der Klassenzusammenarbeit nach den Methoden des »New Deal«, die sich ökonomisch auf erhöhte Staatsausgaben nach Keynes’ Rezepten stützten. Der Entwicklungsprozess dieser politischen und theoretischen Krise innerhalb der Vierten Internationale verdient eine sorgfältige Untersuchung.

Bert Cochran (E. R. Frank) war einer der Ersten, die dafür eintraten, dass die Vierte Internationale die Existenz von Arbeiterstaaten in Osteuropa anerkennen sollte. 1949 legte er ein Memorandum vor, in dem er argumentierte, dass die Verstaatlichung der Produktionsmittel in den Pufferländern wirtschaftliche und politische Herrschaftsformen hervorgebracht habe, die »denen der UdSSR im Großen und Ganzen gleichen«.[11]

Auf der Sitzung des Politischen Komitees der SWP vom 12. Juli 1949 leitete Morris Stein die Diskussion über die oben zitierte Resolution ein, die auf dem Siebten Plenum erarbeitet worden war. Sein Bericht bestand in der Hauptsache aus einer Zusammenfassung dieses Dokuments. Cochran vertrat auf der Sitzung die Argumente seines Memorandums. Die Diskussion wurde am 2. August 1949 fortgesetzt. Stein sprach über die Meinungsverschiedenheiten in der SWP und der Vierten Internationale:

Als ich auf unserer letzten Sitzung die Resolution zu den osteuropäischen Ländern zusammenfasste, vergaß ich, auf die Position der britischen RCP hinzuweisen. Ich will das jetzt kurz nachholen. Ihre neuesten Dokumente habe ich nicht gelesen, aber das ist nicht so wichtig, weil sie schon seit 16 Monaten dieselbe Position vertreten. Schon damals erklärten sie, die Pufferländer seien Arbeiterstaaten. Zu China beziehen sie heute eine ähnliche Position. Sie gehen davon aus, dass der Stalinismus an der Macht gleichbedeutend mit einem Arbeiterstaat ist. Als sie erstmals die Position vertraten, dass die Pufferländer Arbeiterstaaten seien, hatte es in diesen Ländern noch keine Verstaatlichungen größeren Ausmaßes gegeben. In gewissem Sinne ähnelt ihre Argumentationslinie derjenigen Shachtmans, obwohl sie zu entgegengesetzten Schlussfolgerungen kommen.

Wenn die Stalinisten den Staatsapparat kontrollieren, dann bedeutet das für Shachtman bürokratischen Kollektivismus, d. h., für ihn wird eine neue gesellschaftliche Klasse geboren, sobald die Stalinisten die Staatsmacht erobern. Auch für die RCP bedeutet die Übernahme der Staatsmacht durch die Stalinisten automatisch eine gesellschaftliche Umwälzung, nur dass sie den Begriff Arbeiterstaat verwenden. Diese bequeme Methode entbindet ihre Anhänger von jeder Verantwortung, den konkreten, lebendigen Prozess zu analysieren.

In diesem Zusammenhang ist es bezeichnend, dass nur die Mehrheitstendenz in der Internationale eine ernsthafte Analyse der Pufferländer erstellt hat. Durch ihren Versuch, das Problem der Pufferländer zu vereinfachen, verkompliziert die RCP in Wirklichkeit diese Frage und stellt sämtliche ideologischen Positionen des Trotzkismus in Frage.

Wenn die Machtübernahme des Stalinismus gleichbedeutend ist mit der Entstehung eines Arbeiterstaats, worin besteht dann die Rolle der Vierten Internationale? Was geschieht mit der marxistischen Auffassung über den Staat?

In der RCP haben sich mehrere Tendenzen herausgebildet, die alle auf diese Widersprüche in ihrer Position zu den osteuropäischen Ländern zurückgehen. Eines ihrer führenden Mitglieder zog zum Beispiel die Schlussfolgerung, dass wir, wenn der Stalinismus eine derart revolutionäre Kraft ist, ebenso gut in die KP eintreten könnten. Andere stellen die Existenz der Vierten Internationale in Frage und behaupten, sie sei verfrüht gegründet worden.

Und jetzt wollen wir zu einigen Argumenten kommen, die in unserer letzten Diskussion aufkamen. Cochrans Herangehensweise an diese Frage hat mich sehr erstaunt. Ich war erstaunt darüber, wie er die grundlegenden Fragen beiseite wischt. Er stimmt zum Beispiel damit überein, dass die Landwirtschaft in den Pufferländern nach wie vor in privaten Händen liegt und privat genutzt wird. Aber das, sagt er, sei nicht so wichtig. Er versucht nicht einmal, uns zu erklären, warum das nicht wichtig sein soll. Er geht einfach darüber hinweg.

Die Resolution des IEK spricht die Frage der nationalen Staatsgrenzen und ihre reaktionäre Funktion an. Sie zeigt, dass eine Planwirtschaft im Rahmen kleiner Nationalstaaten nicht möglich ist. Auch darüber geht er hinweg. Warum?[12]

Cochran verteidigte seine Position. Seiner Meinung nach war das entscheidende Kriterium, um den Charakter der osteuropäischen Staaten zu bestimmen, nicht ihr geschichtlicher Ursprung und das Fehlen einer revolutionären Massenbewegung der Arbeiterklasse, sondern die Tatsache, dass die Industrie verstaatlicht worden war. Seiner Argumentation zufolge waren die »soziologischen Ähnlichkeiten« zwischen Osteuropa und der UdSSR so groß, dass sie die unterschiedlichen geschichtlichen Ursprünge überwogen.

Cochran befasste sich dann mit der grundlegenden Bedeutung, die seiner Meinung nach dieser Diskussion zukam:

Hinter all diesen Argumenten [gegen die Existenz von Arbeiterstaaten in Osteuropa] steckt die Befürchtung, dass wir, wenn wir die soziologische Ähnlichkeit zwischen der Tschechoslowakei oder Jugoslawien und der UdSSR zugeben, dem Stalinismus eine fortschrittliche Rolle zuschreiben. Und wenn dem so ist, müssen wir dann nicht die Rolle der Vierten Internationale neu bewerten?

Wenn Ihr darüber nachdenkt, werdet Ihr feststellen, dass das Problem in Wirklichkeit auf einer ganz anderen Ebene liegt, als es in unserer Diskussion heute Abend erschien. Ich sehe das folgendermaßen: Wenn wir annähmen, der Stalinismus könne anderswo in der Welt, in Amerika oder Westeuropa das erreichen, was er in der Tschechoslowakei und Polen erreicht hat – nennt es, wie Ihr wollt, kapitalistisch, neokapitalistisch, Zwitterstaat, ganz wie es Euch beliebt – wenn der Stalinismus mit seinen Methoden in Amerika das erreichen könnte, was er in der Tschechoslowakei erreicht hat, dann, denke ich, würde daraus folgen, dass der Stalinismus dazu bestimmt ist, die Zukunft einer neuen Gesellschaft einzuleiten.[13]

Cochran hatte den Nagel auf den Kopf getroffen. In Wirklichkeit drehte sich die Diskussion nicht um soziologische Definitionen, sondern um historische Prognosen und die Aufgaben der Vierten Internationale. Cochran beteuerte eilig, er glaube nicht, dass der Stalinismus in den USA und Europa dasselbe schaffen könne wie in den Pufferländern, und »deshalb ist der Stalinismus historisch bankrott. Unsere grundlegende Analyse des Stalinismus ändert sich nicht.«[14]

Clarke sprach sich auf der Stelle gegen Cochrans Standpunkt aus, obwohl gerade er letztendlich zum größten Verfechter von Pablos revisionistischen Anschauungen in der SWP werden sollte. Clarkes politische Entwicklung ist ein Beispiel für den Einfluss objektiver Klassenkräfte auf den Kader der revolutionären Bewegung. »Individuelle« Positionen ändern sich oft ebenso plötzlich wie unerwartet. Clarke warnte, dass Cochrans Auffassungen dazu führen würden, dem Stalinismus eine progressive Rolle zuzuschreiben. Die SWP solle sich »davor hüten, den Charakter dieser Staaten mit einer oberflächlichen Formel zu definieren, besonders angesichts der weltweiten Krise und der Kämpfe in anderen Teilen der Welt«.[15]

Dann griff Cannon in die Diskussion ein:

Meiner Meinung nach kann man den Klassencharakter eines Staats nicht durch Manipulationen in der Staatsspitze verändern. Dies ist nur durch eine Revolution möglich, die gefolgt wird von einer grundlegenden Veränderung der Eigentumsverhältnisse. Das verstehe ich unter einer Veränderung des Klassencharakters des Staats. So fand es in der Sowjetunion statt. Die Arbeiter eroberten erst die Macht und nahmen dann die Umwandlung der Eigentumsverhältnisse in Angriff …

Meiner Meinung nach hat in den Pufferländern keine soziale Revolution stattgefunden und der Stalinismus keine Revolution vollzogen. Ich schätze die Situation so ein, dass sich bei Kriegsende mit den Siegen der Roten Armee eine gewaltige revolutionäre Bewegung ankündigte. Die instinktive Bewegung der Massen war darauf gerichtet, reinen Tisch zu machen und den Kapitalismus wegzufegen. Sie war darauf gerichtet, dass die Arbeiter die Macht erobern und sich sofort mit der Sowjetunion oder zu Vereinigten Balkanstaaten zusammenschließen, um ein Gebiet zu schaffen, in dem eine sozialistische Planung möglich ist.

Meiner Meinung nach war die Rolle des Stalinismus alles andere als revolutionär. Er gab der Revolution einen Anstoß nur in dem Sinne, dass die Siege der Roten Armee die revolutionäre Bewegung antrieben. Aber die tatsächliche Rolle des Stalinismus bestand darin, die Revolution zu erdrosseln, die Massenbewegung der Arbeiter zu unterdrücken, den kapitalistischen Staat wieder zu stabilisieren und die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse zu erhalten …

Wenn man einmal anfängt, mit dem Gedanken zu spielen, der Klassencharakter eines Staats könne durch Manipulationen an der Staatsspitze verändert werden, dann öffnet man allen möglichen Revisionen von grundlegenden theoretischen Auffassungen Tür und Tor. Ich denke, dass nicht nur die Möglichkeit, sondern eine gewisse Wahrscheinlichkeit besteht, dass die Pufferländer in den kapitalistischen Einflussbereich zurückkehren, wenn die Lage nicht durch eine revolutionäre Bewegung in Europa von Grund auf verändert wird.

In meinen Augen sind diese Länder zurzeit ein Faustpfand zwischen zwei Mächten – dem westlichen Kapitalismus und der Sowjetunion. Es liegt durchaus im Bereich des Möglichen, dass im Verlauf des Kalten Kriegs ein Deal gemacht wird, der zum Ausgangspunkt für eine Lockerung der stalinistischen Kontrolle über die Staatsapparate in diesen Ländern und die allmähliche Übernahme der staatlichen Posten durch wirkliche Vertreter des Kapitalismus wird. Ob eine solche Entwicklung wahrscheinlich ist oder nicht, tut aber nichts zur Sache. Wenn Ihr zugebt, dass sie möglich ist, dann müsst Ihr den Standpunkt einnehmen, dass man den Klassencharakter eines Staats ohne Revolution oder Konterrevolution wie einen Lichtschalter hin- und herschalten kann. Und genau mit diesem Gedanken spielen einige Leute, und zwar in seiner extremsten Form: dass zum Beispiel England nach und nach die Bergwerke, die Stahl- und andere Industrien verstaatlichen und so im Schneckentempo bis zum Sozialismus kommen könnte. Bisher haben wir solche Auffassungen immer als reformistisch bezeichnet.

Eines steht zweifelsfrei fest: So, wie die Lage jetzt ist, kann sie nicht bleiben. Wir sind alle darin einig, dass es eine Übergangslage ist … Vorläufig muss man sie als Übergangsgebilde anerkennen, in denen keine soziale Revolution, sondern vielmehr eine fehlgeschlagene Revolution stattgefunden hat. Dabei sollten wir es zunächst belassen. Es ist zu früh für eine endgültige Definition.

Ich stimme mit dem überein, was Clarke über die Sowjetunion gesagt hat: dass Verstaatlichung plus Außenhandelsmonopol nicht das Kriterium für einen Arbeiterstaat ist. Sie sind von dem Arbeiterstaat, der durch die Russische Revolution geschaffen wurde, übrig geblieben. Es sind die Überbleibsel der Russischen Revolution. Deshalb nennen wir den sowjetischen Staat »degeneriert«.

Es macht einen gewaltigen Unterschied, ob verstaatlichte Eigentumsverhältnisse das Ergebnis einer proletarischen Revolution sind oder ob die Stalinisten in dem einen, beziehungsweise die englischen Reformisten in dem anderen Falle gewisse progressive Schritte in Richtung Verstaatlichung unternehmen.[16]

Stein fasste die Diskussion zusammen und sagte: »Ich weiß selbst noch nicht ganz genau, was unseren Differenzen hier wirklich zugrunde liegt.«[17]

Es mehrten sich jedoch die Anzeichen, dass es in der Vierten Internationale grundlegende Differenzen gab. Im September 1949 schrieb Pablo einen Artikel, in dem neben seinem Vorschlag, Jugoslawien als einen »vom Augenblick seiner Entstehung an deformierten Arbeiterstaat« zu definieren, die Keimform einer völlig neuen Perspektive enthalten war.

Der Sozialismus als ideologische und politische Bewegung des Proletariats wie als Gesellschaftssystem ist von seinem Charakter her international und unteilbar. Diese Auffassung ist die Grundlage unserer Bewegung, und nur mit ihr kann die bewusste Massenbewegung aufgebaut werden, die die sozialistische Entwicklung der Menschheit sicherstellen wird.

Während wir an diesem Gedanken festhalten, werden wir es dennoch in der gesamten historischen Periode des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus, die Jahrhunderte andauern kann, mit einer weitaus gewundeneren und komplizierteren Entwicklung der Revolution zu tun haben, als unsere Lehrer annahmen – nicht mit normalen Arbeiterstaaten, sondern mit Arbeiterstaaten, die von Natur aus deformiert sind.[18] (Hervorhebung hinzugefügt)

Als der Fraktionskampf 1953 seinen Höhepunkt erreichte, sagte Cannon, er habe Pablos Idee über »Jahrhunderte« deformierter Arbeiterstaaten niemals akzeptiert. Das wird durch eine öffentliche Rede Cannons bestätigt, die er am 4. November 1949 zum 32. Jahrestag der Russischen Revolution hielt. Ihr Thema lautete: »Die Entwicklungstendenzen im 20. Jahrhundert«. Ein Studium dieser Ansprache lässt nur den Schluss zu, dass sie eine direkte Antwort auf die Perspektive war, die Pablo in seinem Dokument vom September vertreten hatte.

Cannon sprach zu den früheren Angriffen des Revisionismus auf die revolutionäre Perspektive des Marxismus und ihren Ausgangspunkt, den historischen Bankrott des Kapitalismus und die revolutionäre Rolle der internationalen Arbeiterklasse. Er erwähnte, wie Ende des 19. Jahrhunderts, mitten in einer wirtschaftlichen Blüte, »die Ideologen des triumphierenden Kapitalismus begeistert die Widerlegung der marxistischen Prophezeiung feierten«.[19]

Er erklärte, wie diese Ideen, die zur ideologischen Grundlage für den Reformismus in der Arbeiterbewegung wurden, durch den Ausbruch des Ersten Weltkriegs und die Russische Revolution, die größte Bestätigung des Marxismus, zerschmettert wurden. Dann untersuchte Cannon die materiellen und ideologischen Wurzeln des Stalinismus und seiner Theorie des »Sozialismus in einem Land«. Diese Theorie, erklärte er, »bedeutete eine Zurückweisung der Perspektive der internationalen Revolution; sie bedeutete, anzuerkennen und für die Zukunft davon auszugehen, dass der Kapitalismus in fünf Sechsteln der Welt auf Dauer weiterbesteht; sie bedeutete die Bereitschaft der sowjetischen Bürokratie, sich an ihn anzupassen und mit ihm zu leben«.[20]

Diese Auffassung, genauso falsch wie der ursprüngliche Revisionismus Bernsteins, wurde durch die explosiven revolutionären Kämpfe und die Wirtschaftskrisen der späten zwanziger und der dreißiger Jahre zunichte gemacht. Aber die revolutionären Möglichkeiten der dreißiger Jahre wurden verraten, und dies führte zu einer Kette katastrophaler Niederlagen.

Die furchtbaren Erfahrungen mit dem Stalinismus und dem Faschismus, der Zweite Weltkrieg und ihre Ursachen und Folgen haben vieles verändert, zahlreiche Erwartungen enttäuscht und neue Probleme geschaffen, die theoretisch untersucht werden müssen. Erneut haben Leute, die nur das Unmittelbare sehen, alles andere für unmöglich halten und von den neuen Ereignissen überrascht sind, eine Reihe von oberflächlichen Impressionen ausgearbeitet, die sie als ausgearbeitete Theorien ausgeben.[21]

Cannon sprach voller Hohn über jene, die den Faschismus für die Tendenz der Zukunft gehalten hatten:

Aus dem morastigen Tümpel ihrer eigenen Ängste und Albträume haben diese Untergangspropheten die sogenannte »Rückschritts«-Theorie herausgefischt. Sie verkündeten, der historische Prozess entwickle sich jetzt rückläufig in die Barbarei und nicht vorwärts zum Sozialismus. Um die wirkliche Rolle und die Zukunft des Faschismus einzuschätzen, taugte dieser kapitulantenhafte Pessimismus genauso wenig wie der begeisterte Optimismus einer Schicht Kapitalisten …

Die Anmaßungen und Einbildungen Hitlers und Mussolinis und ihr schließliches Schicksal sind ein geschichtliches Symbol für alle faschistischen Diktatoren, die in dem einen oder anderen Land noch einen kurzen Auftritt wagen mögen. Auf der Spitze seines Wahns prahlte Hitler, sein Nazi-Regime werde 1000 Jahre dauern. Aber dann musste er sich mit bloßen zwölf Jahren zufriedengeben und mit seinem Kopf bezahlen, als seine Herrschaft so jämmerlich zusammenbrach. Als sich Mussolini hocherhobenen Haupts auf einem römischen Balkon präsentierte, erschien er vielen Leuten wie ein unantastbarer Supermann. Aber nach bloßen zwanzig Jahren fiel sein Regime »wie ein fauler Apfel«. Und Mussolini selbst endete mit dem Kopf nach unten, er hing an den Füßen auf einem öffentlichen Platz wie ein geschlachtetes Schwein in einer Metzgerei. In dem Ende der beiden faschistischen Supermänner liegt poetische Gerechtigkeit und Prophezeiung.[22]

Cannon kam dann auf die historische Rolle der sowjetischen Bürokratie zu sprechen:

Die stalinistischen Verbrecher werden kein ruhmvolleres Ende nehmen. Die historische Mission zur Eroberung der Welt, die verängstigte Philister und professionelle Pessimisten dem Stalinismus zuschreiben, ist nicht weniger trügerisch als die Rolle, die früher dem Faschismus zugeschrieben wurde. Im selben Moment, in dem der Stalinismus durch seine Ausdehnung den scheinbar größten Triumph genießt, hat ihn eine tödliche Krise erfasst. Die Revolte Jugoslawiens, die sich jetzt schon wie ein Buschfeuer im gesamten stalinistischen Herrschaftsgebiet in Osteuropa ausbreitet – und morgen auf China übergreifen wird –, ist das Todesurteil der Geschichte über das Recht des Stalinismus, sich auszubreiten oder auch nur fortzubestehen, außer als schreckliches Zwischenspiel im Fortschreiten der Menschheit.

Die Menschheit schreitet vorwärts zu Sozialismus und Freiheit, nicht zurück zu Barbarei und Sklaverei. Weder der Faschismus noch der Stalinismus haben das geringste Recht, sich ihr in den Weg zu stellen … Der Stalinismus ist ein degenerierter Auswuchs der Arbeiterbewegung – das Ergebnis einer unangebrachten Verzögerung und Verspätung der proletarischen Revolution, für die schon alle Bedingungen überreif sind. Weder der Faschismus noch der Stalinismus sind die »Tendenz der Zukunft«. Beide sind reaktionäre und vorübergehende Erscheinungen. Weder der Faschismus noch der Stalinismus sind die Haupttendenz der geschichtlichen Entwicklung. Im Gegenteil, sie sind Abweichungen davon, und in der nächsten Flutwelle kolonialer Aufstände und proletarischer Revolutionen müssen und werden sie untergehen.[23]

Um Bandas Behauptung zu beantworten, die Vierte Internationale habe nicht nur zu Osteuropa und Jugoslawien, sondern auch zu Vietnam und China »keinerlei Einschätzung« gehabt, wollen wir die abschließenden Sätze von Cannons bemerkenswerter Rede zitieren:

Die beispiellosen Aufstände der kolonialen Massen, die dem Krieg folgten, haben die verblüffende Schwäche und die Unfähigkeit der westlichen imperialistischen Mächte gezeigt, ihre koloniale Herrschaft aufrechtzuerhalten und zu sichern. Das lodernde Feuer des Orients kündigt den Untergang des Imperialismus an. Der überholte Kapitalismus hat nirgendwo mehr eine sichere Zukunft.

Den europäischen Arbeitern bot sich in der unmittelbaren Nachkriegsperiode die zweite Möglichkeit zu einer Revolution, und im Großen und Ganzen waren sie dazu bereit. Sie haben dieses Ziel abermals nur deswegen verfehlt, weil ihnen immer noch eine revolutionäre Partei fehlte, die genügend Einfluss hatte, um den Kampf zu organisieren und zu führen. Die Schlussfolgerung daraus ist nicht, die Revolution abzuschreiben, sondern eine revolutionäre Partei aufzubauen, um sie zu organisieren und zu führen. Dazu sind wir heute hier.

Die Perspektive der kommenden Jahre, wie sie sich aus dem vergangenen halben Jahrhundert ergibt, ist eine anhaltende Krise und zunehmende Schwäche des bankrotten Kapitalismus, neue koloniale Aufstände immer größeren Ausmaßes und neue Streiks und Klassenschlachten in den wichtigsten kapitalistischen Ländern. Im Verlauf dieser Kämpfe werden die Arbeiter aus ihren eigenen Erfahrungen die wichtigsten Lehren ziehen. Sie werden ihre Rechnungen mit dem verräterischen Stalinismus und der Sozialdemokratie begleichen und sie aus der Arbeiterbewegung vertreiben. Sie werden revolutionäre Parteien schmieden, die dem Jahrhundert von Blut und Eisen gewachsen sind. Und diese Parteien werden ihre Kämpfe organisieren und sie zu ihrem revolutionären Ziel führen …

Das ist die wichtigste Aufgabe, die die Geschichte dem zwanzigsten Jahrhundert gestellt hat, und sie wird erfüllt werden. Die Arbeit geht voran und das Ziel ist in Sichtweite. Die erste Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts wurde Zeuge des Beginns der notwendigen sozialen Umwälzung der Welt. Die zweite Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts wird ihren triumphalen Abschluss erleben. Der Sozialismus wird die Welt erobern und verändern und Frieden und Freiheit in ihr sichern.[24]


[1]

National Education Department Socialist Workers Party, Education for Socialists: Class, Party, State and the Eastern European Revolution, November 1969, S. 12.

[2]

Ebd.

[3]

Ebd., S. 12–13.

[4]

Ebd., S. 13–14.

[5]

Ebd., S. 14.

[6]

Ebd., S. 15.

[7]

Ebd., S. 16.

[8]

Leo Trotzki, »Die UdSSR im Krieg«, in: Verteidigung des Marxismus, Essen 2006, S. 21.

[9]

Ebd.

[10]

Ebd., S. 5.

[11]

Internes Bulletin der SWP, Jg. 11, Nr. 5, Oktober 1949, S. 12.

[12]

Ebd., S. 19.

[13]

Ebd., S. 23.

[14]

Ebd.

[15]

Ebd., S. 25.

[16]

Ebd., S. 25–27.

[17]

Ebd., S. 30.

[18]

Internationales Informationsbulletin der SWP, Dezember 1949, S. 3.

[19]

James P. Cannon, Speeches for Socialism, New York 1971, S. 365–366.

[20]

Ebd., S. 372.

[21]

Ebd., S. 373–374.

[22]

Ebd., S. 374–375.

[23]

Ebd., S. 375–376.

[24]

Ebd., S. 377–380.