Es ist bemerkenswert, dass in der Diskussion um die »Pufferstaaten« ausgerechnet Ernest Mandel (Germain) zu denjenigen zählte, die sich zunächst am heftigsten dagegen wehrten, die verstaatlichten Eigentumsverhältnisse zum zentralen Kriterium für einen Arbeiterstaat zu erheben.
In einem im Oktober 1949 verfassten und im folgenden Januar veröffentlichten Dokument verfocht er die Auffassung, dass Marxisten bei der Bestimmung des Klassencharakters eines Staats nicht von der einen oder anderen wirtschaftlichen Maßnahme eines neuen Regimes – mag sie auch noch so radikal erscheinen – ausgehen, sondern von dessen geschichtlichen und politischen Ursprüngen. Darüber hinaus betonte Mandel, dass die Zerschlagung des kapitalistischen Staats nicht nur einen negativen, sondern auch einen positiven Inhalt habe – das heißt, sie setzt die Schaffung eines neuen Staatsapparats voraus, der sich auf das revolutionäre Proletariat gründet.
Mandel befasste sich mit entscheidenden theoretischen Fragen, über die Leute wie Pablo, Cochran und Joseph Hansen kein Wort verloren. Diese Gruppe arbeitete in Wirklichkeit darauf hin, unter dem Deckmantel korrekter »soziologischer« Definitionen sämtliche marxistischen Prinzipien zu verwerfen und die historische Perspektive der Vierten Internationale aufzugeben.
Der wichtigste Abschnitt in Mandels Dokument trug die Überschrift »Die Metaphysik der verstaatlichten Eigentumsverhältnisse« und verdient, ausführlich zitiert zu werden. Mandel erinnerte daran, wie die Johnson-Forrest-Tendenz 1948 versucht hatte, der Vierten Internationale den Standpunkt zu unterstellen, ein Arbeiterstaat werde einfach durch die Verstaatlichung der Produktionsmittel geschaffen.
Diese absurde Anschuldigung wiesen wir sofort zurück. Wir sagten, die Verstaatlichung der Produktionsmittel sei nur ein Kriterium für die Existenz eines Arbeiterstaats, wenn sie das Ergebnis einer proletarischen Revolution sei.
Nur wenn man von der Gesamtheit aller durch die Oktoberrevolution geschaffenen ökonomischen Umwälzungen ausgeht, kann man im Falle der UdSSR Begriffe wie »Produktionsweise«, »Produktionsverhältnisse« und »Eigentumsverhältnisse« mit dem Vorhandensein der proletarischen Revolution in den wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und rechtlichen Verhältnissen gleichsetzen. Aber daraus folgt keineswegs, dass jedes beliebige verstaatlichte Eigentum gleichbedeutend mit einer nicht-kapitalistischen Produktionsweise sei und damit einer Revolution in den Produktionsverhältnissen gleichkomme.
Eine derartige Auffassung wäre in Wirklichkeit »ökonomistisch«, also eine schwerwiegende phänomenologische Abweichung vom Marxismus. Weder Trotzki noch die gegenwärtige Mehrheit der Vierten Internationale haben je eine derartige Position vertreten.
Die Genossen von der RCP [damals unter Jock Haston] und einige weitere Anhänger der Theorie, Jugoslawien sei ein Arbeiterstaat, machen uns heute denselben Vorwurf wie die Genossen von der Johnson-Forrest-Tendenz, nur in umgedrehter Form. Sie werfen uns vor, wir hätten die ihrer Meinung nach von Trotzki vertretene Auffassung verworfen, verstaatlichte Eigentumsverhältnisse seien gleichbedeutend mit einem Arbeiterstaat.
Natürlich lassen sich mit etwas Mühe und Geduld in Trotzkis Artikeln gelegentlich zweideutige Formulierungen finden, die man »ökonomistisch« interpretieren kann. Aber diese Formulierungen sind keinen Deut mehr wert als gewisse Zitate von Lenin über den möglichen »Sieg des Sozialismus in Russland«, wie sie von den Stalinisten unkritisch angeführt werden.
In beiden Fällen haben wir es nicht mit systematischen theoretischen Abhandlungen über die betreffenden Fragen zu tun, sondern mit Randbemerkungen in polemischen Artikeln, deren wirkliche Bedeutung man nur im Zusammenhang verstehen kann. Insgesamt bevorzugt Trotzki in seinen theoretischen Schriften, die sich speziell mit dieser Frage befassen, die Formulierung »die durch die Revolution geschaffenen vergesellschafteten Eigentumsverhältnisse«, deren Bedeutung oben erklärt wurde …
In Anbetracht all dieser Faktoren bezeichnen wir die Argumentation der Genossen als metaphysisch, die sagen, Jugoslawien (und die meisten Länder der Pufferzone) seien Arbeiterstaaten, weil die Industrie und der Großhandel fast vollständig verstaatlicht worden seien. Sie lassen in ihrer Einschätzung des Charakters dieser Verstaatlichungen entscheidende Merkmale außer Acht: Wer führte sie durch, wann, zu wessen Gunsten und unter welchen Bedingungen.
An die Stelle einer historischen Analyse setzen sie einen einfachen logischen Schluss, ja eine Tautologie, und umgehen die Frage. Denn wenn sie sagen, Jugoslawien sei ein Arbeiterstaat, weil das Industrieeigentum verstaatlicht sei, dann setzen sie voraus, dass diese Verstaatlichungen Verstaatlichungen der Arbeiter sind, das heißt, sie setzen voraus, was sie erst beweisen müssen …[1]
Mandel wies auf die Widersprüche hin, in die sich diejenigen, die die verstaatlichten Eigentumsverhältnisse einseitig hervorhoben, unweigerlich verstrickten:
In unserer Epoche, in der die kapitalistische Gesellschaft verfault und die proletarische Revolution sich beträchtlich verzögert, treffen wir auf Fälle von Übergangsstadien, von kombinierter Entwicklung, in denen die Eigentumsverhältnisse umgewälzt werden können, ohne dass sich die Wirtschaft dadurch automatisch weg vom Kapitalismus und hin zum Sozialismus entwickelt. Wir können dann nicht schließen, wir hätten es mit einem Arbeiterstaat zu tun.
Ein schlagendes Beispiel ist die Volksrepublik der Äußeren Mongolei. Sie ist das erste Beispiel, in dem mit einem Land so verfahren wurde wie mit den Ländern der Pufferzone der UdSSR. Ihre Verfassung wurde getreu dem Muster der sowjetischen Verfassung nachgebildet. Die fast vollständige Verstaatlichung der Produktionsmittel und des Handels wurde verfügt und zweifellos auch verwirklicht.
Aber man kann die Äußere Mongolei unmöglich als »Arbeiterstaat« bezeichnen, und zwar aus dem einfachen Grund, dass es dort kein Proletariat, keine Bourgeoisie oder auch nur eine größere landbesitzende Klasse gibt oder je gegeben hat. Fast die gesamte Bevölkerung besteht aus nomadischen Schäfern. Die Produktionsweise ähnelt viel eher dem Urkommunismus als dem modernen Sozialismus. Trotzdem finden wir dort die fortgeschrittensten Eigentumsverhältnisse der Welt.
Die kombinierte Entwicklung hat so allen Metaphysikern eine gehörige Lehre erteilt, die sie beim Studium der Übergangsgesellschaft in den Pufferstaaten nicht vergessen sollten.
Aber es gibt noch jüngere Beispiele für Verstaatlichungen: Burma und die Tschechoslowakei. Burma hat seit der Unabhängigkeitserklärung entschieden, seine Staatsform auf die Verstaatlichung der Industrieproduktion, des Landes und der Banken zu begründen. In Burma wurde eine Verfassung nach jugoslawischem Vorbild eingeführt, die erklärt, dass der gesamte Reichtum des Landes und des Bodens, alle Industriezweige und alle Banken dem Volk gehören. Würde irgendeiner von uns Burma aus diesem Grund als »Arbeiterstaat« bezeichnen? (Die burmesische Verfassung erklärt interessanterweise auch, dass die Macht von Volkskomitees ausgehe. Es wird Zeit, zu verstehen, dass Worten und einstmals klaren Begriffen heute – leider! – ein wechselnder Inhalt gegeben wird, je nachdem, wer sie verwendet) …[2]
Nachdem er anhand dieser Beispiele nachgewiesen hatte, dass die Verstaatlichung der Produktionsmittel von Staaten durchgeführt werden kann, die eindeutig keinen proletarischen Charakter haben, kam Mandel auf seinen wichtigsten Punkt zu sprechen:
Gemäß der marxistisch-leninistischen Staatstheorie kann sich der Übergang vom bürgerlichen Staat zum Arbeiterstaat nur durch die gewaltsame Vernichtung des bürgerlichen Staatsapparats und die Errichtung eines neuen Staatsapparats, des Apparats eines Arbeiterstaats vollziehen. Die Befürworter des proletarischen Charakters der Pufferstaaten haben diesen gesamten grundlegenden Bestandteil der marxistischen Theorie stillschweigend fallengelassen, ohne auch nur im Geringsten zu erklären, weshalb sie ihn verwerfen.[3]
Mandel warnte dann davor, dass sich hinter der Befürwortung des proletarischen Charakters der Pufferstaaten die historische Prognose verstecke,
dass der Stalinismus in den kommenden Jahren und Jahrzehnten auf internationaler Ebene wachsen und aufsteigen wird!
Bisher haben wir unsere gesamte Haltung gegenüber dem Stalinismus immer dadurch begründet, dass wir seine Aktivitäten vom Standpunkt der Weltrevolution aus beurteilten. Niemals haben wir das Kriterium des historischen Materialismus aufgegeben, wonach eine Produktionsweise aufgrund ihrer Fähigkeit beurteilt wird, die Produktivkräfte zu entwickeln.
Wir haben den Stalinismus niemals von einem abstrakten, moralischen Standpunkt aus verurteilt. Wir haben unser gesamtes Urteil darauf gegründet, dass der Stalinismus mit seinen Methoden unfähig ist, den Kapitalismus weltweit zu stürzen. Wir haben erklärt, dass die schändlichen Methoden des Kremls der Sache der Weltrevolution nicht dienen, sondern sie nur behindern können.
Wir haben erklärt, dass es unmöglich ist, den Kapitalismus weltweit mit »irgendwelchen Mitteln« zu stürzen, sondern dass es nur eine einzige praktikable Methode gibt: die revolutionäre Mobilisierung der proletarischen Massen durch ihre Organe der proletarischen Demokratie. Die strukturelle Einbindung des einen oder anderen kleinen Landes in die UdSSR haben wir von eben diesem Standpunkt aus eingeschätzt – und verurteilt. Was heute zählt, ist nicht die Enteignung der Bourgeoisie in kleinen Gebietsfetzen, sondern die weltweite Vernichtung der kapitalistischen Herrschaft. Und was diese weltweite Vernichtung angeht, so wiegen die Verminderung des Bewusstseins der Arbeiter, die Demoralisierung und Verwirrung, die die Verbrechen des Stalinismus auf Weltebene hervorrufen, in ihren Folgen unendlich schwerer als diese wenigen, isolierten »Erfolge«.
Angenommen der Kapitalismus wäre nicht nur in Estland oder Rumänien oder selbst Polen, sondern in ganz Europa und dem Großteil Asiens zerstört worden, dann müsste sich unsere Haltung gegenüber dem Stalinismus natürlich von A bis Z ändern. Die Zerstörung des Kapitalismus bei über der Hälfte der Menschheit, in allen wichtigen Ländern der Welt mit Ausnahme der Vereinigten Staaten, würde das Verhältnis zwischen den historischen Vor- und Nachteilen der stalinistischen Aktivitäten radikal verändern. UNSER KRITERIUM, DEN STALINISMUS VOM STANDPUNKT SEINER UNWIRKSAMKEIT GEGEN DEN KAPITALISMUS AUS ZU BEURTEILEN, WÜRDE SEINE GESAMTE BEDEUTUNG VERLIEREN …
Die Genossen, die die Theorie des proletarischen Charakters der Pufferländer vertreten, sind weit davon entfernt, diese Möglichkeit in Betracht zu ziehen. Aber sie wäre die logische Schlussfolgerung aus dem Kurs, den sie eingeschlagen haben, und würde uns zwingen, unsere historische Einschätzung des Stalinismus von A bis Z zu revidieren. Wir müssten dann die Gründe untersuchen, weshalb das Proletariat nicht in der Lage war, den Kapitalismus in so großen Gebieten zu zerstören, während die Bürokratie diese Aufgabe erfolgreich erfüllt hat.
Wir müssten dann ausdrücklich sagen, wie es einige Genossen der RCP bereits getan haben, dass die historische Mission des Proletariats nicht die Zerstörung des Kapitalismus, sondern der Aufbau des Sozialismus sei, eine Aufgabe, die die Bürokratie schon aufgrund ihres Charakters nicht lösen kann. Damit müssten wir die gesamte trotzkistische Argumentation gegen den Stalinismus seit 1924 verwerfen, die sich darauf begründet, dass die Sowjetunion unweigerlich vom Imperialismus zerstört werden wird, wenn sich die Weltrevolution extrem lange verzögert.
Schon heute erklären gewisse Genossen: »Die Zerstörung des Stalinismus wird sich durch seine Ausdehnung vollziehen.« All diese Revisionen des Trotzkismus wären vollkommen gerechtfertigt, wenn sie den Tatsachen entsprächen. ABER MAN MUSS DEN MUT HABEN, DIESEN GEDANKENGANG BIS ZU ENDE ZU FÜHREN UND DIE SCHLUSSFOLGERUNGEN AUSZUSPRECHEN, DIE SICH AUS DEN TATSACHEN ERGEBEN.[4]
In den ersten Monaten des Jahres 1950 erklärte sich die Mehrheit des Politischen Komitees der SWP mit Mandel einverstanden und äußerte erneut ihre Besorgnis über die Implikationen der Diskussion über die Pufferstaaten. Im Februar fasste Morris Stein auf einer Plenartagung des Nationalkomitees der SWP ein weiteres Mal die Entwicklung der Diskussion zusammen:
Wir wollen deswegen mit der Frage beginnen: Was sind die Kriterien für einen Arbeiterstaat? Aus der marxistischen Theorie und der geschichtlichen Erfahrung kennen wir nur einen Weg, auf dem ein Arbeiterstaat geschaffen werden kann – durch eine proletarische Revolution. Das heißt, dass das Proletariat und seine unabhängige Massenaktion unter Führung der revolutionären Partei die einzige Kraft in der heutigen Gesellschaft sind, die die kapitalistische Herrschaft abschaffen und einen Arbeiterstaat aufbauen kann.
Außerdem lehrt uns die Theorie und nicht zuletzt ein Jahrhundert marxistischer Praxis, dass der bürgerliche Staat nicht durch Reformen zu einem Arbeiterstaat gemacht werden kann, sondern mit all seinen Institutionen abgeschafft werden muss. Und nur dann kann er durch einen Arbeiterstaat mit seinen eigenen Herrschaftsorganen ersetzt werden …
Wir haben in unserer Bewegung nur dann rein ökonomische Kriterien verwendet, um festzustellen, ob es sich um einen Arbeiterstaat handelt oder nicht, als wir über die Degeneration eines Arbeiterstaats diskutierten, der zuvor durch eine proletarische Revolution geschaffen worden war …
Kurz, das wichtigste Element in der sozialen Revolution ist das Bewusstsein und die eigenständige Aktion der Arbeiterklasse, wie sie sich in der Politik der Partei ihrer Vorhut ausdrückt.[5]
Stein erhob Einwände gegen die Argumente Hansens, der in der Diskussion darauf beharrt hatte, dass die Verstaatlichung der Produktionsmittel das wesentliche Kriterium für die Existenz eines Arbeiterstaats sei:
Mir scheint, dass Genosse Hansen und nicht Germain belehrt werden muss – nicht über Planung, sondern über den Unterschied zwischen einem Arbeiterstaat, der einer proletarischen Revolution entspringt, und diesem Prozess der strukturellen Einbeziehung oder Eingliederung von Ländern, den die Sowjetunion jetzt als Ersatz für eine proletarische Revolution vollziehen will …
Die Minderheit verschwendet ihre Munition, wenn sie weiterhin auf der Planung als Kriterium für einen Arbeiterstaat beharrt, auf die Abhängigkeit vom Weltmarkt hinweist oder auf den kapitalistischen Charakter der Landwirtschaft in den Pufferländern usw. All diese Punkte gestehen wir ihnen gerne zu. Wir gehen sogar noch einen Schritt weiter und sagen, dass auch die unmittelbare Verstaatlichung der Industrie kein notwendiges Kriterium für einen Arbeiterstaat ist – vorausgesetzt, dass in dem Land eine Regierung der Arbeiter herrscht, die durch eine Revolution an die Macht gekommen ist …
Sie sind sich beispielsweise völlig darüber im Klaren, dass der Ursprung der Sowjetunion in der Oktoberrevolution einen untrennbaren Bestandteil unserer Definition der Sowjetunion als degenerierter Arbeiterstaat bildet. Sie haben versucht, diese Schwierigkeit auf zwei Wegen zu umgehen, die beide gleich gefährlich sind. Zum einen haben einige von ihnen versucht, die Bedeutung des Ursprungs herabzumindern. Dies ist sehr gefährlich, weil es sie nur in die Falle der »bürokratischen Revolution« führen kann. Das wäre die unvermeidliche Schlussfolgerung, wenn man dieser Argumentationslinie bis zu ihrem logischen Ende folgt.[6]
Stein schloss mit den Worten:
Die vereinfachte Herangehensweise, die sich im Wesentlichen auf den Satz »Verstaatlichung ist gleich Arbeiterstaat« beschränkt, kann unsere Bewegung nur fehlorientieren. Sie ist ein Zerrbild des Marxismus. Anstelle einer wirklichen Analyse der lebendigen Klassenkräfte und ihrer jeweiligen Position in der Gesellschaft setzt sie bürokratische Verstaatlichungsdekrete. Es ist unvorstellbar, dass uns eine derartige Herangehensweise dabei anleiten kann, die Ereignisse in den Pufferländern zu verstehen oder uns helfen kann, unsere Politik dazu auszuarbeiten.
Die Verstaatlichung der Industrie, so wichtig sie ist, stellt nur einen Bereich dar, in dem die Bourgeoisie zur Aufgabe ihrer entscheidenden Stellungen gezwungen wurde. Aber die Bourgeoisie stellt immer noch, wie ich schon erwähnte, eine beträchtliche gesellschaftliche Kraft dar. Dazu trägt nicht zuletzt der Umstand bei, dass die Beziehungen in der Landwirtschaft nach wie vor kapitalistisch sind und die Bourgeoisie alle Institutionen des Staats durchdringt, einschließlich der verstaatlichten Industrie.[7]
Die Bedeutung der Argumente von Mandel und Stein bestand darin, dass sie das Hauptgewicht auf die historische Perspektive der proletarischen Revolution legten und damit der wachsenden Strömung entgegentraten, die sich an die Sowjetbürokratie und ihre vorübergehenden »Erfolge« anpasste. Das heißt aber nicht, dass die letztliche Entscheidung, die Staaten in Jugoslawien und Osteuropa als »deformierte« Arbeiterstaaten anzuerkennen, falsch war. Richtig verstanden und angewandt, erfüllte diese neue Definition eine notwendige politische und theoretische Funktion. Aber wie alle dialektischen Begriffe, so gilt auch der Begriff des »deformierten Arbeiterstaats« nur innerhalb gegebener historischer und politischer »Toleranzgrenzen«.
Das heißt, als Mittel zur Definition der »Zwitterstaaten«, die unter den besonderen und außergewöhnlichen Bedingungen nach dem Krieg entstanden sind, und zur Betonung ihrer verzerrten und unnormalen Ursprünge bezeichnet der Begriff des deformierten Arbeiterstaats die prinzipielle Grundlage, auf der die trotzkistische Bewegung diese Staaten gegen imperialistische Interventionen verteidigt. Gleichzeitig weist er klar auf die politischen Aufgaben der Arbeiterklasse in diesen Ländern hin.
Der Begriff deformiert betont den wichtigen historischen Unterschied zwischen dem Sturz des kapitalistischen Staats im Oktober 1917 und den Umwälzungen, die in den späten vierziger Jahren in Osteuropa stattfanden – das heißt, das Fehlen von Massenorganen der Arbeitermacht, Sowjets, unter Führung einer bolschewistischen Partei. Es bringt darüber hinaus zum Ausdruck, dass Staats- und Regierungsformen, deren Lebensfähigkeit historisch in Frage steht und deren Taten in allen Bereichen – den politischen und den ökonomischen – den Stempel ihrer verzerrten und abnormalen Herkunft tragen, nur ein vorübergehendes Dasein fristen können.
Weit davon entfernt, diesen Staatsformen neue historische Perspektiven einzuräumen, unterstreicht also die Bezeichnung deformiert den historischen Bankrott des Stalinismus und weist zwingend auf die Notwendigkeit hin, eine wirkliche marxistische Führung aufzubauen, die Arbeiterklasse in einer politischen Revolution gegen die herrschende Bürokratie zu mobilisieren, wirkliche Organe der Arbeitermacht zu schaffen und die zahllosen Überbleibsel der alten kapitalistischen Verhältnisse im Staatsgebilde und in der Wirtschaft zu vernichten.
Aber die Zweideutigkeit der neuen Definition bot eine Lücke, die die Opportunisten sofort ausnutzten. Innerhalb der Vierten Internationale wurde die Bezeichnung »deformiert« immer mehr als eine Art bedeutungsloses Beiwort behandelt. Anstatt in den deformierten Arbeiterstaaten eine historische Verirrung zu sehen, bedingt durch besondere und außergewöhnliche Bedingungen, die mit der ungelösten Krise der revolutionären proletarischen Führung zusammenhingen, wurde die Theorie der deformierten Arbeiterstaaten zum Ausgangspunkt für eine völlig revisionistische Perspektive gemacht.
Das will heißen, die »dialektische Toleranzgrenze« dieses Begriffs wurde überschritten, um solche deformierten Staaten als soziale und politische Prototypen für künftige Staatsformen darzustellen! Damit wurden gleichzeitig die wesentlichen, allgemeingültigen Formen der Arbeiterstaaten, wie sie in der Pariser Kommune von 1871 und der Sowjetmacht nach der Oktoberrevolution 1917 in Erscheinung getreten waren, auf rein abstrakte theoretische »Normen« herabgewürdigt, die keine besondere Bedeutung für Lehre und Programm hätten.
Die proletarische Revolution – der bewaffnete Aufstand der Arbeiterklasse unter der Führung ihrer eigenen marxistischen Partei und mit Unterstützung der unterdrückten Massen, der in der Diktatur der Klasse durch ganz bestimmte staatliche Formen gipfelt – wurde immer weniger als die historische Voraussetzung für einen Arbeiterstaat angesehen.
Hansen stellte die Frage in ihrer plumpsten Form:
Einer der Fehler, in die man am leichtesten hineinrutscht, wenn man diese Frage [Was ist ein Arbeiterstaat?] bedenkt, besteht darin, die Kategorie »Arbeiterstaat« in eine Art Fetisch zu verwandeln. Jeder von uns stellt sich darunter gern etwas Großartiges vor, das entstand, um dem Blut und Schmutz des Kapitalismus ein Ende zu machen. Bis auf den heutigen Tag ist das Wort »Arbeiterstaat« von einer Aura umgeben wegen all der Erinnerungen an Lenin und Trotzki und den großen Befreiungskampf, den sie führten. Deswegen fällt es uns schwer, ihn mit irgendetwas Niedrigem in Verbindung zu bringen. Selbst wenn wir darauf beharren, dass er in der UdSSR degeneriert ist, so haftet ihm immer noch ein Leuchten an. Wir wollen, dass er etwas Edles, Großes und Inspirierendes ist.[8]
Wenn man Hansens Argumentation wie die SWP in den sechziger Jahren konsequent bis zu ihrer logischen Schlussfolgerung trieb, dann führte sie unweigerlich dazu, dass die Perspektive des Sozialismus von ihrer proletarischen und revolutionären Grundlage getrennt wurde. Hansens krasser Pragmatismus zeigte sich am klarsten darin, dass er die Pufferstaaten in Osteuropa unbedingt einzeln Land für Land analysiert haben wollte – eine Methode, die jede ernsthafte theoretische Einschätzung des historischen Prozesses in Osteuropa und seiner weitreichenden politischen Bedeutung für die Vierte Internationale ausschloss.
Hansens Idee, die Vierte Internationale zögere aus Gründen der Sentimentalität, dem Stalinismus die Schaffung von Arbeiterstaaten zuzugestehen, erinnerte an die ebenso vulgären Argumente verschiedener kleinbürgerlicher Intellektueller in den dreißiger Jahren, die gemeint hatten, Trotzki halte die UdSSR deshalb immer noch für einen Arbeiterstaat, weil er seelisch nicht verkraften könne, dass von der Revolution von 1917 nichts mehr übrig sei.
Im April 1950 wurde auf dem Achten Plenum des Exekutivkomitees der Vierten Internationale offiziell beschlossen, Jugoslawien als deformierten Arbeiterstaat zu bezeichnen. (Mandel hatte inzwischen seine alten Positionen in seiner Aktentasche verstaut und vergaß sie bald völlig.) Wichtiger als die eigentliche Definition war für die Entwicklung der Vierten Internationale die Art und Weise, wie sie begründet wurde. Als Pablo und Mandel verkündeten, in Jugoslawien sei ein Arbeiterstaat geschaffen worden, überschütteten sie Titos Führung mit maßlosen Lobreden.
Es wurde offen angedeutet, in Belgrad werde die Krise der Führung gelöst, die jugoslawische KP befreie sich »von den letzten ideologischen Überbleibseln des Stalinismus« und Titos Anhänger bereiteten »die Umgruppierung der revolutionären Kräfte auf internationaler Ebene« vor. Sie würden damit »die Organisierung der neuen kommunistischen Opposition in den stalinistischen Parteien« erleichtern, mit der es möglich sein werde, »in naher Zukunft revolutionäre marxistische Formationen in einer ganzen Reihe von Ländern aufzubauen«.[9]
Während die SWP sich anschickte, der Linie des Exekutivkomitees zu folgen, gab es einen weitsichtigen und scharfsinnigen Abweichler – John G. Wright, den authentischen marxistischen Theoretiker in der amerikanischen Bewegung, der Ende der dreißiger Jahre Trotzkis engster geistiger Mitarbeiter gewesen war. Ihn beunruhigte die politische Strömung, die sich immer mehr in der Vierten Internationale durchsetzte. In einem im Mai 1950 verfassten Memorandum warnte Wright:
Die Entwicklungen in Jugoslawien befinden sich nach wie vor in einem Übergangs- und Zwischenstadium und lassen keine so definitive Bestimmung zu, wie ihr die Mehrheit zugestimmt hat.
Die angenommene Formulierung entspricht praktisch Wort für Wort Lenins Definition von Sowjetrussland, wie es aus der Oktoberrevolution hervorging, nämlich »ein Arbeiterstaat mit bürokratischen Auswüchsen«. Es ist verfrüht, Jugoslawien so kategorisch und umfassend zu definieren.
In der Sowjetrepublik unter Lenin und Trotzki konnte es nicht den geringsten Zweifel geben, dass die Staatsmacht aus den Händen der Bourgeoisie in die Hände der Arbeiterklasse übergegangen und ein neuartiger Staat errichtet worden war, eine neue Gesellschaftsordnung mit neuen, wirklich proletarischen Organen der Staatsmacht. Es ist nicht richtig zu sagen, dasselbe sei in Jugoslawien bereits der Fall.
Vom Standpunkt unserer Theorie aus ist es nicht ratsam und für ein möglichst wirkungsvolles und richtiges Eingreifen in die sich entfaltende jugoslawische Revolution ist es nicht erforderlich. Im Gegenteil, es könnte sich als theoretische Falle erweisen und unter bestimmten Bedingungen gefährliche Folgen haben.
In der jüngsten Periode haben die jugoslawische Partei und ihre Führung alles in allem große Fortschritte in Richtung auf die Vollendung der jugoslawischen Revolution unternommen. Sie gehen jetzt schneller nach links als jemals zuvor seit ihrem Bruch mit der Kominform 1948. Vieles deutet darauf hin, dass die weitere Entwicklung der jugoslawischen KP und Jugoslawiens selbst möglicherweise so verlaufen wird, dass relativ friedlich tatsächlich ein Arbeiterstaat aufgebaut und die Partei in eine wirklich leninistische, das heißt trotzkistische Partei verwandelt wird.
Vielleicht werden sie diesen Weg bis zu Ende gehen. Das ist und muss das Ziel all unserer Bemühungen sein. Es besteht eine wirkliche Gefahr, dass dieses unser Ziel und das trotzkistische Eingreifen insgesamt von einem Standpunkt verdunkelt wird, der etwas für bereits erreicht erklärt, dessen Verwirklichung noch für die Zukunft ansteht und nur das Ergebnis bewussten politischen Handelns und Kampfs sein kann …
Mit anderen Worten, die wirklichen Organe der Arbeitermacht, die frei gewählten Sowjets und Massenorganisationen fehlen noch. Die Arbeiterklasse und vor allem ihre eigenständige Vorhut in der revolutionären Partei sind erst dabei, sich zu formieren.
Diese Situation ist nicht einfach ein Mangel, eine »Deformierung« oder ein Zufall. Historische Resultate können niemals höher stehen als die Politik, die sie hervorgerufen hat. Es geht hier nicht einfach um eine wünschenswerte »Reform«. Die Frage geht viel tiefer.
Wenn der tatsächliche Sprung noch nicht stattgefunden hat, sondern immer noch in der Zukunft liegt, bedeutet das, dass die kritische Periode im Innern der jugoslawischen Führung, der jugoslawischen Partei und des Landes selbst noch bevorsteht und nicht bereits vorbei ist. Gerade die gegenwärtige Periode könnte diese kritische Periode Jugoslawiens sein.
Wenn die wichtigsten Organe der Arbeitermacht – die Sowjets – nicht in der unmittelbar bevorstehenden Periode erscheinen, wenn den Massenorganisationen nicht bald ein Maximum an Eigeninitiative, Aktivität und proletarischer Demokratie gewährt wird, kann leicht und schnell eine Entwicklung in umgekehrter Richtung eintreten und Jugoslawiens Schicksal genau im entgegengesetzten Sinne entscheiden, als es die Mehrheit angenommen hat.
Die Formulierung der Mehrheit lässt diese Entwicklungsvariante völlig außer Betracht. Dies sollte korrigiert werden.
Eine der Garantien für die Vollendung der jugoslawischen Revolution ist nicht nur, was die jugoslawischen Führer und die jugoslawische Partei sagen und tun, sondern auch, was die trotzkistische Weltbewegung sagt und tut. Eine der größten Schwächen der jugoslawischen Bewegung war ihre Neigung, mehr oder weniger endgültige theoretische und politische Schlussfolgerungen aus episodischen, konjunkturellen und vorübergehenden Situationen zu ziehen. Dies verpflichtet die Trotzkisten zu umso größerer Sorgfalt bei ihren eigenen theoretischen und politischen Schlussfolgerungen.
Wir würdigen das revolutionäre Gewicht und Potenzial der jugoslawischen Bewegung voll und ganz, wenn wir den Standpunkt einnehmen, dass Jugoslawien noch kein Arbeiterstaat ist, dass die jugoslawische Revolution, eben weil sie noch nicht abgeschlossen ist, den einzigen Weg einschlagen muss, der ihr das Überleben sichert, und das heißt, in Jugoslawien wirklich das zu errichten, was in der Sowjetunion unter Lenin und Trotzki errichtet wurde.[10]
Etwas über einen Monat nach der Niederschrift dieser Zeilen wurde das unangebrachte Vertrauen, das Pablo und Mandel in die »bemerkenswerten Qualitäten« der Tito-Führung gesetzt hatten, durch den Ausbruch des Korea-Kriegs grell entlarvt. Bei einer entscheidenden Abstimmung in den Vereinten Nationen, die den Vorwand für die imperialistische Intervention lieferte, enthielt sich Jugoslawien der Stimme – und schlug damit genau den Weg ein, vor dem die Vierte Internationale im Juli 1948 gewarnt hatte, den Weg der Manöver zwischen dem Imperialismus und der sowjetischen Bürokratie anstatt den Weg, auf den die VI gedrängt hatte – den Weg der sozialistischen Weltrevolution.
Internationales Informationsbulletin der SWP, Januar 1950, S. 9–11.
Ebd., S. 12–13.
Ebd., S. 18–19.
Ebd., S. 40–42.
Diskussionsbulletin der SWP, Nr. 3, Juni 1950, S. 2–4.
Ebd., S. 7–8.
Ebd., S. 14.
Internes Bulletin der SWP, Jg. 12, Nr. 2, Februar 1950, S. 9.
Internationales Informationsbulletin, September 1950, S. 6.
Internes Bulletin der SWP, Jg. 12, Nr. 3, Oktober 1950, S. 5–6.