Die Darstellung der Russischen Revolution als Staatsstreich einer Handvoll skrupelloser Querulanten, die entschlossen waren, dem Volk eine totalitäre Diktatur aufzuzwingen, gehört zum Dauerinventar antimarxistischer Schriften. Dieser Argumentation zufolge war die bolschewistische Partei vor 1917 lediglich eine kleine Sekte, die nur deshalb an die Macht kam, weil sie die Wirren der Revolution auszunutzen wusste. Doch was waren die Ursachen dieser Revolution und der dadurch erzeugten Wirren? Laut Richard Pipes, Historiker an der Harvard University, war sie ausschließlich das Werk einer überspannten Intelligenzija, »die wir als nach politischer Macht strebende Intellektuelle definiert haben … Ihre Mitglieder waren Revolutionäre, die nicht das Ziel verfolgten, die Lage des Volkes zu verbessern, sondern sich zu dessen Herrschern zu machen und es nach ihren eigenen Vorstellungen umzumodeln.«[1]
Seit den 1980er Jahren hat sich eine Reihe von Historikern bemüht, ein genaues Bild der russischen Arbeiterklasse und ihres politischen Lebens in der Zeit vor 1917 zu zeichnen. Die besten dieser Arbeiten vermitteln dem Leser einen Einblick in die Vorgänge unter den Massen und belegen, dass die Bolschewiki bereits lange vor 1917 eine einflussreiche politische Stellung in der russischen Arbeiterklasse erobert hatten. Schon 1914 befanden sich die Menschewiki, die zuvor in den gängigen Organisationen der Arbeiterklasse stark vertreten gewesen waren, allenthalben auf dem Rückzug vor den aufstrebenden Bolschewiki. Von daher verwundert es nicht, dass Professor Richard Pipes für empirische Forschung über die Entwicklung der russischen Arbeiterbewegung vor 1917 nur Verachtung übrig hat:
Scharen von Studenten in fortgeschrittenen Semestern haben unter Anleitung ihrer Professoren in der Sowjetunion wie im Westen, vor allem in den Vereinigten Staaten, eifrig die historischen Quellen durchforscht, um Belege für einen Arbeiterradikalismus in Russland vor der Revolution zutage zu fördern. Das Ergebnis waren gewichtige Bände, angefüllt mit zumeist bedeutungslosen Ereignissen und Statistiken, die nur eines beweisen: Während die Geschichte selbst stets interessant ist, können Geschichtsbücher nichtssagend und langweilig sein.[2]
Ich möchte anhand dieser »gewichtigen Bände« und »bedeutungslosen Ereignisse und Statistiken« die Entwicklung der russischen Arbeiterklasse in den zehn Jahren vor der Machteroberung der Bolschewiki kurz umreißen. Die Niederlage der Revolution von 1905 hatte zur Folge, dass die zahlenmäßige Stärke und der politische Einfluss der revolutionären Organisationen beträchtlich zurückgingen. In den Jahren des revolutionären Aufschwungs, von 1905 bis 1907, hatten sowohl die Bolschewiki als auch die Menschewiki, die beiden gegensätzlichen Fraktionen der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (RSDAP), Zehntausende neue Mitglieder gewonnen. Nach dem Juni 1907 schwand ihre Massenmitgliedschaft dahin. Nach der Niederlage griff Enttäuschung um sich. Selbst kampferprobte Aktivisten mit jahrelanger Erfahrung gaben die revolutionäre Politik auf und ließen ihre Bestrebungen fallen. Die Rückkehr breiter Schichten der russischen Intelligenz in den Schoß der Religion, die Ausbreitung aller möglicher Rückständigkeiten, beispielsweise Faszination für die Pornografie, schlug sich auch in der Mitgliedschaft der revolutionären Bewegung nieder. Im Jahr 1910 war es laut Trotzki so weit gekommen, dass Lenin in Russland nur noch mit etwa zehn loyalen und aktiven Mitstreitern in Verbindung stand.
Trotzdem war es keine fruchtlose Periode. Ungeachtet ihrer Differenzen analysierten sowohl Lenin als auch Trotzki die Ereignisse von 1905 und zogen daraus strategische Lehren, die 1917 zur Grundlage für den Sieg der Revolution werden sollten. Für Trotzki hatte die Revolution von 1905 gezeigt, dass die demokratische Revolution in Russland nur unter der Führung der Arbeiterklasse stattfinden konnte und mehr und mehr eine sozialistische Richtung einschlagen würde. Aus dieser Einsicht in die soziale und politische Dynamik der russischen Revolution ging die Theorie der permanenten Revolution hervor.
Lenin vertiefte anhand der Erfahrungen von 1905 seine Analyse der Differenzen zwischen Bolschewismus und Menschewismus. Die Spaltung in der sozialistischen Arbeiterbewegung erschien nun in einem neuen Licht. Die Taktik der Menschewiki während der gesamten Revolution von 1905 bestärkte Lenin in der Überzeugung, dass der Menschewismus eine opportunistische Strömung darstellte, die den Einfluss der liberalen Bourgeoisie auf die Arbeiterklasse widerspiegelte. Der Aufbau einer revolutionären Bewegung, betonte Lenin, setzte voraus, dass der Arbeiterklasse dieses Wesensmerkmal des Menschewismus in einem konsequenten Kampf immer klarer vor Augen geführt wurde.
Unter der Führung des gewitzten Premierministers Stolypin rappelte sich das zaristische Regime wieder auf, nachdem es 1905 gehörig in die Klemme geraten war. Aber die Ermordung Stolypins im Jahr 1911 infolge einer Verschwörung der Geheimpolizei raubte dem Zaren gerade in dem Moment, in dem die Arbeiterbewegung in eine neue Phase radikaler Aktivitäten eintrat, seinen fähigsten Minister. Die Massenstreiks von 1912 schufen ein neues politisches Klima, das ein schnelles Wachstum des politischen Einflusses der Bolschewiki begünstigte.
Die Periode der Reaktion, von 1907 bis 1912, führte in den Reihen der Menschewiki zu einer ausgeprägten Rechtswende. Sie nahmen sich ausgerechnet die schwächste Seite der deutschen Sozialdemokratie – die Vorherrschaft reformistischer Gewerkschaften in der Partei – zum Vorbild und begaben sich in das politische Umfeld der bürgerlichen Liberalen. Ihre Tätigkeit nahm ganz eindeutig reformistische Züge an. Während der Reaktionsperiode hatten die Menschewiki von ihren Verbindungen zu den bürgerlich-liberalen Konstitutionellen Demokraten profitiert. Mit dem erneuten Aufschwung der Arbeiterklasse ab 1912 jedoch begannen die Bolschewiki sie selbst in den einst menschewistisch dominierten Gewerkschaften zu überrunden.
Ein Anzeichen für die politische Radikalisierung der Arbeiterklasse zeigte sich im April 1913 auf einer Versammlung der Metallarbeitergewerkschaft von Petersburg. Diese Organisation war mehrere Jahre lang von den Menschewiki beherrscht worden. Aber nun wählten die 700 bis 800 anwesenden Arbeiter eine bolschewistische Mehrheit in ihren vorläufigen Vorstand.[3]
Ende August 1913 fand die zweite Wahl für den ständigen Vorstand statt. Von den 5600 Mitgliedern der Gewerkschaft hatten sich zwischen 1800 und 3000 eingefunden. Es wurde ein bolschewistischer Vorstand gewählt; die Menschewiki konnten nur etwa 150 Stimmen auf sich vereinen. Die klassenbewussten Arbeiter von St. Petersburg wussten zwischen den Positionen der Bolschewiki und der Menschewiki zu unterscheiden. Letztere stellten sich gegen die Beteiligung der Gewerkschaften an unmittelbar politischen, revolutionären Kämpfen. Die Bolschewiki dagegen waren offen bestrebt, die Gewerkschaften gerade für diesen Zweck einzusetzen.
Während der restlichen Monate von 1913 bis in das Jahr 1914 hinein vertrieben die Bolschewiki die Menschewiki weiter aus den Führungspositionen der Gewerkschaften. Unter den organisierten Schneidern etwa hatten die Bolschewiki im Juli 1914 eine überwältigende Mehrheit erobert. Zehn von elf Vorstandsmitgliedern waren Bolschewiki, einer war Sozialrevolutionär. Die Menschewiki hatten jede Unterstützung verloren.
Die Drucker, die zu den am besten ausgebildeten Arbeitern zählten, wählten im April 1914 für ihren 18-köpfigen Vorstand neun Bolschewiki, und für dessen zwölf Stellvertreter acht.
Ein weiterer Hinweis auf die wachsende Unterstützung für die Bolschewiki auf Kosten der Menschewiki ergibt sich aus den jeweiligen Auflagen ihrer Zeitungen. Die menschewistische Zeitung, »Luch«, hatte eine Auflage von etwa 16000. Die »Prawda«, die bolschewistische Tageszeitung, erreichte eine Auflage von 40000.
Im Juli 1914, am Vorabend des Krieges, hatte der Klassenkampf in den russischen Industriezentren revolutionäre Ausmaße angenommen. Aus St. Petersburg wurden Straßenkämpfe zwischen Arbeitern und der Polizei gemeldet. Der zaristischen Regierung kam der Krieg gerade recht. Zwar führte der Druck des Krieges über drei Jahre hinweg zu einer enormen Verschärfung der sozialen Konflikte, doch zunächst überflutete er die revolutionäre Arbeiterbewegung mit einer Welle des Chauvinismus. Die hochentwickelte bolschewistische Organisation, die am Rande der Legalität gearbeitet hatte, wurde zerschlagen und erneut in den Untergrund getrieben.
Trotzki schrieb später, dass, wäre der Krieg nicht gewesen, die Revolution Ende 1914 oder im Jahr 1915 von Anfang an als proletarische Massenbewegung unter der Führung der Bolschewiki begonnen hätte. Doch im Februar 1917 setzte die Revolution unter Bedingungen ein, die für die Bolschewiki weit weniger günstig waren als im Juli 1914. Erstens war ihre Organisation in Russland kaum funktionsfähig. Viele ihrer Arbeiterkader in den Fabriken waren in die Armee eingezogen worden und überall an der Front verstreut. In den Fabriken befanden sich jetzt Arbeiter mit weitaus weniger politischer Erfahrung. Die Massenmobilisierung der Bauern in der Armee schließlich bedeutete, dass der proletarische Charakter der sozialen Bewegung bei Ausbruch der Revolution zumindest in ihrem Anfangsstadium weitaus weniger ausgeprägt war als 1914. Aus diesem Grund ging die Partei der Sozialrevolutionäre, die sich vor allem auf die Bauernschaft stützte, aus den ersten Wochen der Revolution als größte politische Partei hervor.
Trotz ihrer anfänglichen Schwäche waren die Bolschewiki während der revolutionären Ereignisse, die zum Sturz des zaristischen Regimes im Februar-März 1917 führten, nicht ohne Einfluss. Wie Trotzki in seiner monumentalen »Geschichte der Russischen Revolution« anschaulich erklärt, war der Aufstand vom Februar 1917 nicht rein »spontan«, d.h. ohne jegliche politische Führung. Jahre politischer Agitation und Erziehung durch die Bolschewiki – und sogar die Menschewiki in dem Maße, wie deren Tätigkeit die allgemeinen Konzeptionen des Marxismus ausdrückte – hatten im Bewusstsein der Arbeiter von St. Petersburg ihre Spuren hinterlassen.
Jede Massenbewegung zeichnet sich durch eine bestimmte Art oder Ebene des Bewusstseins aus, die sich über eine längere Zeit hinweg entwickelt hat. Das kollektive gesellschaftliche und politische Bewusstsein der Arbeiterklasse war kein unbeschriebenes Blatt. Die Ereignisse von 1905 waren nicht einfach in Vergessenheit geraten. Eine neue Generation bewussterer Arbeiter war herangewachsen, die durch die theoretischen und politischen Konflikte zwischen Bolschewiki und Menschewiki geprägt worden war. Es hat seinen Grund, dass der Aufstand vom Februar 1917 zur Schaffung von Sowjets (Arbeiterräten) führte und die Form eines politischen Kampfes gegen den Zarismus annahm, anstatt eines unpolitischen Aufruhrs und von Plünderungen. Insoweit der Krieg die Untergrundorganisation nicht vollkommen zerstört und ihre Kader nicht restlos aus den Fabriken vertrieben hatte, konnten die Bolschewiki den Massenaufstand von 1917 überdies mit einem militanteren Bewusstsein erfüllen. Unter Berücksichtigung all dessen stimmen wir mit Trotzkis von der heutigen Forschung bestätigten Feststellung überein, dass die Februarrevolution von den aufgeklärten und gestählten Arbeitern geführt wurde, die größtenteils von der Partei Lenins erzogen worden waren.[4]
Lenins »Geheimnisse«
Die gängigste Behauptung der reaktionären Historiker besteht darin, dass die Machteroberung der Bolschewiki das Ergebnis einer finsteren Verschwörung gewesen sei, angezettelt und vollzogen hinter dem Rücken der russischen Bevölkerung und auch der Arbeiterklasse, in deren Namen die Revolution gemacht wurde. Um zu verstehen, wie die größte Revolution der Geschichte aus einer solchen Verschwörung hervorgehen konnte, muss man nochmals Richard Pipes zu Rate ziehen:
Lenin war ein sehr verschlossener Mensch; obwohl er wie besessen Reden und Schriften verfasste, genug, um 55 Bände einer Werkausgabe zu füllen, bestehen diese zum größten Teil aus Propaganda und Agitation mit dem Ziel, potentielle Anhänger zu überzeugen und bekannte Gegner zu vernichten, ohne deshalb seine Gedanken preiszugeben. Selbst engen Parteifreunden enthüllte er nur selten, was wirklich in ihm vorging. Als oberster Feldherr im Weltkrieg zwischen den Klassen behielt er seine Pläne für sich. Um sein Denken zu rekonstruieren, ist es deshalb notwendig von bekannten Taten auf verborgene Absichten rückzuschließen.[5]
Man stelle sich das vor: Lenins Nachlass umfasst 55 Bände, wobei jeder Band aus 300 bis 500 Seiten besteht; er beschrieb also im Laufe seiner 30-jährigen Laufbahn pro Jahr durchschnittlich 600 bis 1000 Seiten (in gedruckter Form). Darunter befinden sich ökonomische Studien, philosophische Abhandlungen, politische Aufsätze, Resolutionen, Zeitungskommentare und Artikel, ausführliche berufliche und private Briefwechsel, unzählige Memoranda und private Notizen wie etwa die »Philosophischen Hefte«, anhand derer wir die Entstehungsgeschichte seiner Ideen verfolgen können. Jahrelang verbrachte Lenin einen großen Teil seines Arbeitstages am Schreibtisch. Und doch waren all diese Schriften laut Pipes nichts weiter als das Mittel, mit dem Lenin raffiniert verbarg, was er wirklich dachte!
Man kommt nicht umhin festzustellen, dass Pipes Lenin mittels derselben Methoden verdammt, die Stalin bei den Falschanklagen gegen Leo Trotzki und die alten Bolschewiki in den Moskauer Prozessen der dreißiger Jahre verwandte. Damals wurde behauptet, dass die öffentlich zugänglichen Schriften und Erklärungen Trotzkis aus mehreren Jahrzehnten, darunter auch aus seiner Zeit als Führer der Roten Armee, lediglich ein Deckmantel für seine geheime, Jahrzehnte währende Verschwörung zur Vernichtung der Sowjetunion seien. Die »Untersuchungsmethoden« Stalins und des gefeierten Harvard-Historikers – von Pipes selbst mit den Worten beschrieben, man müsse »in umgekehrter Richtung von seinen bekannten Taten zu den verschwiegenen Absichten vordringen« – erinnern an die juristischen Gepflogenheiten eines mittelalterlichen Hexenprozesses.
Was im Einzelnen den Vorwurf angeht, Lenin habe seine Gedanken für sich behalten, während er insgeheim den Sturz der Provisorischen Regierung »anzettelte«, so kann man ihn kaum ernst nehmen. Man muss sich vor Augen halten, dass Lenin während des gesamten Jahres 1917 seinen Einfluss auf die bolschewistische Partei und die Arbeiterklasse in hohem Maße, manchmal sogar beinahe ausschließlich, mittels des geschriebenen Wortes ausübte. Es war ein schriftliches, unter dem schlichten Namen »Aprilthesen« bekanntes Dokument, das die Parteipolitik nach Lenins Rückkehr aus dem Exil entscheidend änderte und die Bolschewiki auf den Kurs der Machteroberung brachte. Später, zwischen Juli und Oktober 1917, befand sich Lenin in einem Versteck und war auf die Kraft seiner schriftlichen Argumentation angewiesen, um auf die bolschewistische Partei einzuwirken. Lenin hätte den starken Widerstand innerhalb der bolschewistischen Parteiführung gegen seinen Aufruf zum Sturz der Provisorischen Regierung schwerlich überwinden können, wenn er nicht vermittels seiner Schriften Einfluss auf die Masse der Parteimitgliedschaft gewonnen hätte. John Reed erkannte den einzigartigen Charakter von Lenins Autorität; er schrieb in seinem berühmten Werk »Zehn Tage, die die Welt erschütterten«, Lenin sei einer der wenigen praktischen politischen Führer der Weltgeschichte, die vermittels ihrer geistigen Fähigkeiten zum Führer der Massen geworden seien.
Der überzeugendste Gegenbeweis gegen die Verschwörungstheorie, der Pipes und mit ihm viele andere anhängen, sind die historischen Forschungen seriöser Wissenschaftler, die eine Fülle an Belegen für die außergewöhnliche Größe und Macht der Arbeiter-Massenbewegung, auf die sich der Machtanspruch der Bolschewiki stützte, zutage gefördert haben. Ein Studium dieses Materials führt zu der Schlussfolgerung, dass die Machteroberung der bolschewistischen Partei alles andere als ein Putsch war, der im Hinterzimmer einer konspirativen Wohnung in Petrograd vorbereitet wurde. Eher versuchte die bolschewistische Partei in jenem Jahr über weite Strecken, mit der Massenbewegung Schritt zu halten, die eine Dynamik entwickelte, wie man sie seit der Französischen Revolution nicht mehr erlebt hatte.
Der Bolschewismus und die Arbeiterklasse
Laut »The Blackwell Encyclopedia of the Russian Revolution« gab es in den Fabriken und Bergwerken Russlands rund 3,5 Millionen Arbeiter. Weitere 1,25 Millionen entfielen auf das Verkehrs- und das Bauwesen. Die Gesamtzahl an Menschen, die man letztlich als Lohnarbeiter einstufen konnte, belief sich auf zehn Prozent der Bevölkerung oder in absoluten Zahlen etwa 18,5 Millionen.[6] Petrograd war ein großes Industriezentrum, in dessen Vorstädten etwa 417000 Industriearbeiter wohnten. 270000 davon waren Metallarbeiter, 50000 Arbeiter waren in der Textil- und 50000 in der Chemieindustrie beschäftigt. Das zweite große Industriezentrum Russlands war Moskau mit rund 420000 Arbeitern, von denen ein Drittel in der Textil- und ein Viertel in der Metallindustrie beschäftigt waren.
Große Zusammenballungen von Industriearbeitern befanden sich zudem im Ural, in der Ukraine – dort waren in der Donbass-Region rund 280000 Arbeiter beschäftigt –, im Baltikum, in Transkaukasien und in Sibirien. Im Vergleich zur Gesamtbevölkerung war die Arbeiterklasse allerdings zahlenmäßig klein. Sie war aber stark konzentriert. Mehr als 70 Prozent der Arbeiter in Petrograd waren in Betrieben mit mehr als 1000 Arbeitern beschäftigt. Zwei Drittel der ukrainischen Arbeiter befanden sich in Unternehmen mit mehr als 500 Arbeitern. Genauso war es im Ural.[7]
Vor Lenins Rückkehr nach Russland im April 1917 hatte die Führung der bolschewistischen Partei in der Hauptstadt eine bedingte politische Unterstützung für die bürgerliche Provisorische Regierung beschlossen. Sie galt auch der Fortsetzung des Krieges gegen Deutschland und Österreich-Ungarn, und zwar mit der Begründung, dass die Revolution ihr bürgerlich-demokratisches Entwicklungsstadium nicht überspringen könne. Lenin widersetzte sich dieser Politik, hielt sich jedoch noch in der Schweiz auf und konnte nicht unmittelbar in die Diskussionen der Parteiführung eingreifen. Die Redaktion der »Prawda«, die von Stalin geleitet wurde, verweigerte Lenin sogar die Veröffentlichung von Erklärungen, in denen er der versöhnlerischen Politik der bolschewistischen Partei mit Nachdruck widersprach. Erst nach seiner Rückkehr konnte Lenin im Verlauf eines mehrwöchigen Fraktionskampfes die Orientierung der bolschewistischen Partei ändern. Hintergrund der Auseinandersetzungen war, dass Lenin jetzt für die Änderung einer programmatischen Position eintrat, die er selbst entwickelt und viele Jahre lang verteidigt hatte. Den alten Bolschewiki, die er jetzt angriff, erschien Lenins neue Linie – der Aufruf zur Vorbereitung auf den Sturz der Provisorischen Regierung und die Machtergreifung der Arbeiterklasse – als ketzerische Kapitulation vor der Theorie der permanenten Revolution, die Leo Trotzki zehn Jahre lang in Opposition zu den Bolschewiki vertreten hatte.
Lenin war auf eigenen Wegen zu derselben Perspektive gelangt, mit der Leo Trotzki allgemein identifiziert wurde. Die Erfahrung des Weltkriegs, aufgearbeitet durch sein eigenes Studium des modernen Imperialismus, hatte Lenin zu der Schlussfolgerung geführt, dass die Russische Revolution der Beginn der sozialistischen Weltrevolution war; dass die internationale Krise des Kapitalismus im Zusammenwirken mit der Schwäche der russischen Bourgeoisie und deren Unterordnung unter das internationale Kapital keinen Raum für ein progressives bürgerlich-demokratisches Stadium der russischen Entwicklung ließ; und dass die einzige Klasse, die Russlands Unterordnung unter den Imperialismus durchbrechen und die wesentlichen demokratischen Aufgaben der Revolution erfüllen konnte, das Proletariat war. Auf dieser Grundlage trat Lenin in den »Aprilthesen« dafür ein, die Übertragung der Staatsmacht auf die Arbeiterräte zu fordern.
Die Auseinandersetzungen auf dem Parteitag im April beschränkten sich nicht länger auf kleine Zirkel von Revolutionären im Untergrund. Mit dem schnellen Wachstum der Mitgliedschaft der Partei umfasste der innerparteiliche Kampf bedeutende Schichten der Arbeiterklasse und wurde von ihnen verfolgt. Der britische Historiker Steve Smith argumentiert, dass Lenins »Aprilthesen« starke und direkte Auswirkungen auf das Bewusstsein der fortgeschrittensten Teile der Arbeiterklasse in Petrograd hatten, insbesondere auf jene im Wyborg-Bezirk und auf der Wasiljewski-Insel. Als Beweis führt Smith eine Resolution an, die während der Apriltage in den Fabriken der Pusyrew- und der Ekwal-Werke von Vollversammlungen verabschiedet wurde – d.h. auf den ersten großen Arbeiterdemonstrationen gegen die Provisorische Regierung:
Die Regierung kann und wird die Wünsche der gesamten arbeitenden Bevölkerung nicht vertreten, und deshalb fordern wir ihre sofortige Abschaffung und die Verhaftung ihrer Mitglieder, um ihren Angriff auf die Freiheit zu unterbinden. Wir erkennen, dass die Macht nur dem Volk selbst gehören darf, d.h. den Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten als der einzigen Institution, die das Vertrauen des Volkes genießt.[8]
Leo Trotzki schrieb in seiner »Geschichte der Russischen Revolution«, das Hauptmerkmal der Revolution sei das direkte Eingreifen der Massen in den Lauf der Geschichte. Obwohl die Vertreter der Bourgeoisie, wie etwa Miljukow, und die gemäßigten Führer des Sowjets versuchten, die Macht der Provisorischen Regierung zu festigen, kannte der demokratische Erfindungsreichtum der Volksmassen nach den Ereignissen vom Februar keine Grenzen. Die Fabrik- und Betriebskomitees, die in Petrograd und ganz Russland entstanden, waren der praktische Ausdruck der Entschlossenheit des Proletariats, seine Macht geltend zu machen und die Gesellschaft auf antikapitalistischer Grundlage zu reorganisieren. Die Fabrikkomitees entwickelten sich rasch zu komplexen Strukturen, die sich um praktisch jeden Aspekt des täglichen Lebens kümmerten. Sie gründeten Unterkomitees für die Sicherheit der Betriebe, für die Nahrungsmittelversorgung, für Kultur, Gesundheit und Sicherheit, für die Verbesserung der Arbeitsbedingungen und für die Aufrechterhaltung der Arbeitsdisziplin durch die Ächtung der Trunkenheit.
Je weiter die Revolution voranschritt, desto mehr kümmerten sich die Komitees um die Organisation und Leitung der Produktion. Die »Blackwell Encyclopedia« zitiert das Werk eines sowjetischen Historikers, S.W. Stepanow, der »zwischen dem 1. März und dem 25. Oktober 4266 Maßnahmen von 124 Fabrikkomitees in Petrograd zählt und ausrechnet, dass sich 1141 Maßnahmen mit der Arbeiterkontrolle über Produktion und Verteilung befassten; 882 mit Organisationsfragen; 347 mit politischen Fragen; 299 mit den Löhnen; 241 mit Einstellungen und Entlassungen und mit der Überwachung der Arbeitspflicht«.[9]
Im Spätsommer und Herbst 1917 begannen die Fabrikkomitees zu fordern, dass die Unternehmer ihnen Einblick in ihre Bücher und Bilanzen gewähren. Im Oktober bestand dann bereits eine Art Arbeiterkontrolle in 573 Fabriken und Zechen, die zusammen 1,4 Millionen Arbeiter beschäftigten.
Während des Jahres 1917 gewannen die Bolschewiki in den Fabrikkomitees enormen Einfluss. Bereits geraume Zeit, bevor sie die Mehrheit im Petrograder Sowjet erlangten, stellten sie die Führung der wichtigsten Fabrikkomitees. Die Resolutionen, die von den Versammlungen vor Ort verabschiedet wurden, zeigen eine breite und begeisterte Reaktion auf die Losungen und Hauptforderungen der bolschewistischen Partei. In Moskau, das politisch hinter Petrograd zurückblieb, wurden im Monat Oktober von mehr als 50000 Arbeitern Resolutionen zur Unterstützung der bolschewistischen Forderung nach dem Übergang der gesamten Macht an die Sowjets verabschiedet. Die Belege dafür, dass die Machtergreifung der Sowjets von einer großen Mehrheit der Arbeiterklasse begrüßt wurde, sind wahrlich beeindruckend.
Einen Einblick in die Stimmung der Arbeiterklasse im Oktober 1917 gewährt uns ein Blick auf die Ereignisse in Kineschma, einem Zentrum der Textilindustrie im Oblast Iwanowo, rund 400km nordöstlich von Moskau. Der Historiker David Mandel hat darüber eine Studie verfasst. Der Revolution ging große Unterstützung für die Bolschewiki voraus, die im Oktober 1917 überwältigende Ausmaße angenommen hatte. Die Arbeiter in Kineschma waren höchstens ungeduldig, weil ihnen die Bolschewiki in Petrograd nicht schnell genug vorangingen. Als ein bolschewistischer Redner in einer Rede vor dem Sowjet von Kineschma im späten September 1917 die rhetorische Frage stellte: »Die Geschichte fordert uns auf, die Macht zu übernehmen … Sind wir bereit?«, hörte man eine Stimme aus dem Publikum: »Wir sind schon lange bereit, aber wir fragen uns, warum sie im Zentrum immer noch schlafen.«[10]
Selbst wenn man solche historischen Anekdoten eher skeptisch bewertet, gibt es keinen Zweifel an der Realität des objektiven Prozesses, den sie illustrieren sollen. Zwischen April und Oktober erlebte die bolschewistische Partei ein phänomenales Wachstum. Im April 1917 bestand die Organisation der Bolschewiki in Petrograd aus etwa 16000 Arbeitern. Im Oktober war die Mitgliedschaft auf 43000 angewachsen, zwei Drittel davon Arbeiter. Im Juni 1917 ergaben die Wahlen zum Ersten Gesamtrussischen Sowjetkongress 283 Delegierte für die Sozialrevolutionäre, 248 für die Menschewiki und nur 105 für die Bolschewiki. Die Wahlen zum Zweiten Gesamtrussischen Kongress, der vier Monate später am Vorabend der Oktoberrevolution zusammentreten sollte, führten zu einer erstaunlichen Wandlung: Der Delegiertenanteil der Bolschewiki stieg auf 390, derjenige der Sozialrevolutionäre sank auf 160 und derjenige der Menschewiki auf 72.
Die Arbeiter wechselten im Verlaufe der Revolution wiederholt ihre politische Bindung; im Allgemeinen gingen sie dabei nach links, da sie immer ungehaltener über die Provisorische Regierung wurden und sich darüber empörten, dass die gemäßigten sozialistischen Parteien nicht mit ihr brechen wollten. Der Historiker Tim McDaniel weist auf Folgendes hin:
Die Wirtschaftskrise, die Fortsetzung des Krieges, die Zuspitzung des Klassenkonfliktes und der Kornilow-Putsch machten die überwiegende Mehrheit der politisch aktiven Arbeiter zu Feinden der Provisorischen Regierung in ihren verschiedenen Zusammensetzungen … Sie sahen schließlich keinen wesentlichen Unterschied mehr zwischen der neuen Regierung und dem alten zaristischen Regime, mit Ausnahme dessen, dass die Provisorische Regierung jetzt eindeutiger eine »bürgerliche Diktatur« war.[11]
Der Brief eines Arbeiters, der Mitglied der Sozialrevolutionären Partei gewesen war, an eine bolschewistische Zeitung widerspiegelt diesen politischen Stimmungsumschwung während des Jahres 1917:
Wegen eines gründlichen Missverständnisses hatte ich mich der Partei der SR angeschlossen, die jetzt auf die Seite der Bourgeoisie übergegangen ist und unseren Ausbeutern zu Hilfe kommt. Damit ich nicht an diesen Schandpfahl gebunden bleibe, verlasse ich die Reihen der Chauvinisten. Als bewusster Proletarier schließe ich mich den bolschewistischen Genossen an, die allein die wirklichen Verteidiger der Unterdrückten sind.[12]
Die Radikalisierung der Arbeiterklasse im Jahr 1917 war natürlich kein gleichmäßiger Prozess ohne eigene, komplexe Widersprüche. Selbst in den Gebieten, wo die Bolschewiki rasch an Einfluss hinzugewannen, wie etwa unter den Bergarbeitern im Donbass, stießen sie auch auf Opposition. Manchmal mussten sie drastische Stimmungswechsel der Arbeiter einstecken. Doch trotz aller Verwicklungen dieses Prozesses besteht kein Zweifel daran, dass die Oktoberrevolution das Ergebnis einer gewaltigen, politisch bewussten Bewegung der Arbeiterklasse war.[13]
In einer Zusammenfassung seiner Forschungen über die Ursachen für den Sieg der Bolschewiki schrieb Professor Steve Smith:
Die Bolschewiki haben die Unzufriedenheit der Bevölkerung oder ihre revolutionäre Stimmung nicht selbst geschaffen. Diese erwuchsen aus den eigenen Erfahrungen der Massen mit komplexen ökonomischen und gesellschaftlichen Erschütterungen und politischen Ereignissen. Der Beitrag der Bolschewiki bestand vielmehr darin, dass sie das Verständnis der Arbeiter über die soziale Dynamik der Revolution formten und ihr Bewusstsein dafür weckten, wie die dringenden Probleme des Alltagslebens mit der gesamten gesellschaftlichen und politischen Ordnung zusammenhingen. Die Bolschewiki gewannen Unterstützung, weil ihre Analyse und die Lösungen, die sie vorschlugen, sinnvoll erschienen. Ein Arbeiter aus den Orudiinyi-Werken, einer Bastion der Landesverteidigung, wo die Bolschewiki früher nicht einmal sprechen durften, erklärte im September: »Die Bolschewiki haben immer gesagt: Nicht wir werden Euch überzeugen, sondern das Leben selbst. Und jetzt triumphieren die Bolschewiki, weil sich ihre Taktik im praktischen Leben als richtig erwiesen hat.«[14]
Vor mehr als einem halben Jahrhundert, als es noch eine amerikanische Intelligenz gab, die an die Möglichkeit des gesellschaftlichen Fortschritts glaubte und zu klugen, wenn auch nicht uneingeschränkt sympathisierenden Gedanken über die Russische Revolution fähig war, erschien ein interessantes und einflussreiches Werk des Literaturkritikers Edmund Wilson mit dem Titel: »Auf dem Weg zum Finnischen Bahnhof«. Ungeachtet seines überheblichen Misstrauens gegenüber den Massen in der Revolution und seiner pragmatischen Verachtung für die Dialektik sah Wilson in Lenins Ankunft am Finnländischen Bahnhof im April 1917 einen Höhepunkt im Kampf des Menschen, sich zum ungehinderten Herrn seiner eigenen gesellschaftlichen Entwicklung aufzuschwingen.
»Entscheidend ist«, schrieb Wilson, »dass der Mensch des Abendlandes einen wesentlichen Fortschritt in der Herrschaft über die Begierden, Ängste und Irrungen, in denen er zuvor lebte, gemacht hat.«[15]
Dieser Einschätzung, die Wilson später unter dem Druck der McCarthy-Hetze aufgab, können wir von ganzem Herzen zustimmen. Die Russische Revolution bleibt bis heute der Höhepunkt des bewussten Bemühens der Menschheit, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen und aus ihrem gesellschaftlichen Leben alles zu verbannen, was in der einen oder anderen Form die Herrschaft nicht verstandener Naturkräfte und unbewusster gesellschaftlicher Prozesse über die Entwicklung der Menschheit darstellt.
Der Marxismus hat kein neues System utopischer Vorstellungen in die Welt gesetzt. Er entdeckte das objektive Potenzial für die Änderung des geschichtlichen Verlaufs in den gesellschaftlichen Kräften, die von der Geschichte selbst geschaffen worden waren. Er fand in einer bestehenden sozialen Kraft, der Arbeiterklasse, die objektive Grundlage für die Beendigung der historisch entstandenen Formen der Klassenherrschaft. Die Unterdrückung des Proletariats durch die Kapitalistenklasse musste beendet werden, und zwar nicht einfach deshalb, weil sie im üblichen Wortsinne moralisch verwerflich, sondern weil sie zu einer Fessel für die Weiterentwicklung der menschlichen Gesellschaft selbst geworden war. Eben darin lag der unmoralische Charakter der kapitalistischen Unterdrückung.
Der Marxismus vermittelte der Arbeiterklasse ein Verständnis des historischen Prozesses, von dem sie selbst ein Teil war, und verwandelte sie dadurch aus einem Objekt der Geschichte in deren bewusstes Subjekt. Die Erziehung der Arbeiterklasse auf der Grundlage des Marxismus begann im Jahr 1847. Die Oktoberrevolution, die siebzig Jahre später stattfand, war das Ergebnis dieser großen sozialistischen Aufklärung.
Aus Gründen, die studiert und verstanden werden müssen, erlitt die Russische Revolution einen enormen Rückschlag. Aber die bleibende Bedeutung und Relevanz der Ereignisse von 1917 werden dadurch nicht im Geringsten beeinträchtigt.
Richard Pipes, Die Russische Revolution, Bd. 3, Berlin 1993, S. 793.
Ebd., S. 792.
Victoria Bonnell, Roots of Rebellion, Berkeley 1983, S. 394.
Leo Trotzki, Geschichte der Russischen Revolution: Februarrevolution, Essen 2010, S. 133.
Richard Pipes, Die Russische Revolution, Bd. 2: Die Macht der Bolschewiki, Berlin 1992, S. 104.
Harold Shukman (Hrsg.), The Blackwell Encyclopedia of the Russian Revolution, Oxford 1994, S. 19.
Ebd.
Steve A. Smith, »Petrograd in 1917: The View From Below«, in: Daniel H. Kaiser (Hrsg.), The Workers’ Revolution in Russia, 1917, Cambridge 1987, S. 66 (aus dem Englischen).
Shukman, The Blackwell Encyclopedia of the Russian Revolution, S. 22 (aus dem Englischen).
David Mandel, »October in the Ivanovo-Kineshma industrial region«, in: Edith Frankel, Jonathan Frankel und Baruch Knei-paz (Hrsg.), Revolution in Russia: Reassessments of 1917, Cambridge 1992, S. 160 (aus dem Englischen).
Tim McDaniel, Autocracy, Capitalism and Revolution in Russia, Berkeley 1988, S. 355 (aus dem Englischen).
Steve A. Smith, »Petrograd in 1917: The View From Below«, in: Daniel H. Kaiser (Hrsg.), The Workers’ Revolution in Russia, 1917, Cambridge 1987, S. 73f. (aus dem Englischen).
Bestätigt wurde diese Erkenntnis durch die herausragende Forschung von Alexander Rabinowitch, emeritierter Professor an der University of Indiana. Im Vorwort zu »Die Sowjetmacht. Das erste Jahr«, dem letzten Teil seiner monumentalen Trilogie über die Russische Revolution, fasst Rabinowitch die Schlussfolgerungen aus den beiden vorherigen Bänden zusammen:
»The Bolsheviks come to Power und Prelude to Revolution widersprachen gängigen Vorstellungen von der Oktoberrevolution, sah man doch im Westen die Oktoberrevolution gemeinhin als eine Art Militärputsch, den eine kleine, verschworene Bande revolutionärer Fanatiker unter der genialen Führung Lenins angezettelt hatte. Demgegenüber ergaben meine Nachforschungen, dass die bolschewistische Partei in Petrograd 1917 zu einer Massenpartei herangewachsen war und keineswegs eine monolithische Bewegung darstellte, die sich im Gleichschritt hinter Lenin eingereiht hätte. Ihre Führung bestand vielmehr aus einem linken, einem zentristischen und einem gemäßigten Flügel, die alle dazu beitrugen, eine revolutionäre Strategie und Taktik zu entwickeln. Weiter zeigte sich, dass der Erfolg, der der Partei nach dem Sturz des Zaren im Februar 1917 im Kampf um die Macht beschieden war, folgenden ausschlaggebenden Faktoren zuzuschreiben war: der organisatorischen Flexibilität der Partei, ihrer Offenheit und Aufgeschlossenheit für die Anliegen der Bevölkerung sowie ihren engen und sorgsam gepflegten Verbindungen zu Fabrikarbeitern, Soldaten der Petrograder Garnison und den Matrosen der Baltischen Flotte.« (Essen 2010, S. x)
Professor Rabinowitchs Schlussfolgerungen haben nicht nur deshalb Gewicht, weil er sich im Verlauf von fünfzig Jahren einen herausragenden Ruf als Historiker erarbeitet hat. Rabinowitch wuchs, wie er selbst schildert, in einer russischen Emigrantenfamilie auf, die starke Sympathien für die Menschewiki hegte. Zu Beginn seiner Forschungen über die Russische Revolution ging er fest davon aus, dass die Bolschewiki die Macht ohne die Unterstützung der Massen erobert hatten. Doch die Beweise, auf die er in den Archiven von Leningrad-St. Petersburg stieß, veranlassten ihn, seine Auffassungen zu revidieren. Das Werk von Professor Rabinowitch zeichnet sich durch eine wissenschaftliche Integrität und Wahrheitsliebe aus, an der sich künftige Forschergenerationen ein Beispiel nehmen sollten.
Steve A. Smith, »Petrograd in 1917: The View From Below«, in: Daniel H. Kaiser (Hrsg.), The Workers’ Revolution in Russia, 1917, Cambridge 1987, S. 76 (aus dem Englischen).
Edmund Wilson, Auf dem Weg zum Finnischen Bahnhof: Über Geschichte und Geschichtsschreibung, Frankfurt a.M. 1974, S. 409