Vortrag an der Universität Glasgow vom 25. Oktober 1995.
Gestatten Sie mir, als Erstes dem Institut für Russland- und Osteuropastudien für die Einladung zu einem Vortrag hier an der Universität Glasgow zu danken. Ich bin von Berufs wegen nicht Historiker; aber das Studium der Geschichte ist eine unabdingbare Voraussetzung für die Mitgliedschaft in der Vierten Internationale. In der Tat wurde innerhalb der Vierten Internationale nie strikt zwischen Geschichte und Politik unterschieden. Dies hat den Trotzkisten von allen Seiten Kritik eingebracht. Unseren politischen Gegnern ist zuwider, dass wir in die Diskussion über die aktuelle Politik gern historische Fragen einbringen; professionelle Historiker wiederum missbilligen unsere Aussagen über die Russische Revolution und ihre Folgezeit oft als bloße Politik.
An unsere politischen Gegner ist meines Erachtens keine Annäherung möglich. Unsere Differenzen über unzählige programmatische Fragen widerspiegeln allgemein gesprochen grundverschiedene Auffassungen über die Beziehung zwischen den historischen Problemen der internationalen Arbeiterbewegung und den Problemen und Aufgaben der sozialistischen Bewegung heute. Doch besteht, denke ich, gegenwärtig die dringende Notwendigkeit eines neuerlichen Dialogs und, soweit möglich, eines aktiven geistigen Bündnisses zwischen den Marxisten, die ihre politische Herkunft auf die Oktoberrevolution zurückführen, und ernsthaften Historikern, die sich unabhängig von ihren persönlichen politischen Ansichten einem wissenschaftlichen Studium der russischen und sowjetischen Geschichte verpflichtet fühlen.
Dem Zusammenbruch der Sowjetunion folgte eine Flut pseudo-historischer Literatur, die nachzuweisen sucht, dass die Oktoberrevolution und die Sowjetunion das Ergebnis einer verbrecherischen Verschwörung gewesen seien, mittels derer einer arglosen Bevölkerung ein fremdartiges, nicht praktikables Dogma aufgezwungen worden sei. Diese tendenziösen – in den bewundernden Besprechungen der etablierten Presse für gewöhnlich als meisterhaft bezeichneten – Arbeiten sind zumeist Produkte zweier eng verwandter ideologischer Schulen. Die erste ist jene der alten Antikommunisten des Kalten Krieges; sie wird von Leuten wie Richard Pipes von der Harvard University und Martin Malia von der University of California vertreten. Die zweite ist jene der gewendeten Stalinisten, d.h. einstigen Anhänger und sogar hochrangigen Funktionäre des alten Sowjetregimes, die vor Kurzem, als es sich auszuzahlen begann, entdeckten, dass sie im Grunde Opfer des Bolschewismus waren. Der berüchtigtste Vertreter dieser Schule ist General Dimitri Wolkogonow.
In seiner jüngst erschienenen Lenin-Biographie widmet Wolkogonow der Auflösung der Konstituierenden Versammlung mehrere Seiten. Diese Maßnahme vom Januar 1918 führt der General als eines der schlagendsten Beispiele für den verbrecherischen Charakter der Bolschewiki an. Mit der Schließung der Konstituierenden Versammlung, schreibt Wolkogonow, »hat sich Lenin als neuer Intellektueller marxistischer Prägung entpuppt, als utopischer Fanatiker, der sich zu jedem Experiment berechtigt fühlte, solange es dem Machterhalt diente«.[1]
Wie immer man das angesprochene Ereignis auch interpretieren mag, immerhin ist bei der Auflösung der Konstituierenden Versammlung niemand ums Leben gekommen. Aber nicht lange, nachdem er dieses vernichtende Urteil über Lenins Moral gefällt hatte, leitete Wolkogonow im Oktober 1993 in seiner Funktion als oberster Militärberater von Präsident Jelzin die Bombardierung des russischen Parlamentsgebäudes, des Weißen Hauses, die zum Tode von mehr als 1000 Menschen führte. Offenbar ist Wolkogonow ungeachtet seiner Vorwürfe gegen Lenin fest von seinem eigenen Recht auf Experimente überzeugt, solange die Macht, in deren Dienst sie stattfinden, den richtigen Klasseninteressen dient.
Die postsowjetische Schule der Geschichtsfälschung
Pipes, Malia und Wolkogonow vertreten verschiedene Strömungen eines Phänomens, das man am besten als eine neue, postsowjetische Schule der Geschichtsfälschung bezeichnet. Ihre Widerlegung ist eine dringende Aufgabe aller seriösen Forscher. Denn dieser Schule geht es nicht nur darum, die Russische Revolution zu diskreditieren, sondern auch ein von ideologischem Kleinmut geprägtes Klima zu erzeugen, in dem eine wahrhaft wissenschaftliche Untersuchung der komplexen ökonomischen, sozialen, politischen und kulturellen Prozesse, die in ihrer Gesamtheit zusammenwirkend den Verlauf der Russischen Revolution bestimmten, gezielt verhindert wird. Dieser Vorstoß hat weitreichende Implikationen. In letzter Analyse richtet sich diese Schule der Geschichtsfälschung gegen das gesamte Vermächtnis des Jahrhunderte umfassenden fortschrittlichen und revolutionären Denkens und Kämpfens, aus dem der Marxismus hervorging.
Sollte man mir Übertreibung vorwerfen, so gestatten Sie mir den Hinweis auf eine Rede von Professor Alexander Tschudinow, seines Zeichens Mitglied der russischen Akademie der Wissenschaften in Moskau, auf dem 18. Internationalen Kongress der Historischen Wissenschaften, der Ende August, Anfang September 1995 in Montreal tagte. Tschudinow zitierte die Heiligen Matthäus und Augustin, um dann erbittert all jene ungezählten Vertreter des utopischen Denkens zu verdammen, die nach wie vor an der Möglichkeit einer weltlichen Lösung für die Leiden der Menschheit festhielten. »Nur Gott«, donnerte Tschudinow, »kann die Übel und Mängel dieses Lebens beseitigen, aber Er wird es erst am Ende der Welt tun.« Ja, dies wurde tatsächlich auf einem Internationalen Kongress der Historischen Wissenschaften geäußert. »Das Christentum«, verkündete Tschudinow, »erlöste die Menschen von der Illusion, es sei möglich, alle sozialen Übel zu heilen und eine Regierung ohne Fehl und Tadel zu schaffen.«
Tschudinow beklagte die »Entchristianisierung des sozialen und politischen Denkens im Zeitalter der Renaissance, das die utopische Tradition der antiken Philosophie wiederbelebte«. Wütend hieb er auf More und Campanella ein, bevor er zur Aufklärung kam, in der Rousseau, Mably, Diderot und, um mit Tschudinow zu sprechen, »viele Andere, weniger bekannte« eine Menge Unheil anrichteten. Das Teufelswerk der Rationalisten brachte erst Robespierre hervor, dann Marx und natürlich Lenin. Schließlich gelangte Tschudinow zu seiner Schlussfolgerung:
Am Ende bleibt festzuhalten, dass die totalitären Regime des 20. Jahrhunderts das Ergebnis der Entchristianisierung des öffentlichen Bewusstseins in vorangegangenen Epochen waren.[2]
All dies wurde in Anwesenheit Dutzender Professoren gesagt. Viele von ihnen wanden sich vor Verlegenheit, und sie hatten allen Grund dazu. Der geeignete Rahmen für die Ergüsse des Rasputins Tschudinow wäre kein Kongress der Historischen Wissenschaften, sondern eine Synode der Russisch-Orthodoxen Metropoliten gewesen. Es widerspiegelt den erschreckenden Niedergang des geistigen Niveaus, dass vom Podium einer wissenschaftlichen Konferenz solch theologischer Unfug verbreitet werden durfte, und dass, schlimmer noch, kein einziger Historiker das Wort ergriff, um Tschudinow zu widersprechen.
Die Analyse der alten, antikommunistischen Kalten Krieger und der gewendeten Stalinisten birgt einen nicht erklärten Widerspruch. Auf der einen Seite schreiben sie dem Marxismus einen rigiden Determinismus zu. Dieser theoretischen Quelle sei der Versuch der Bolschewiki entsprungen, der russischen Gesellschaft eine nicht praktikable, gegen den Markt gerichtete Utopie aufzuzwingen. Aber dann nehmen diese erbitterten Gegner des »Determinismus« selbst zu einer extremen Form des Determinismus Zuflucht: Sie interpretieren die sowjetische Geschichte nach 1917 als unausweichliches Ergebnis der bolschewistischen Ideologie: Jede Episode der sowjetischen Geschichte habe sich zwangsläufig aus der Oktoberrevolution ergeben. Nachdem der Zug der Geschichte Lenin im April 1917 am Finnländischen Bahnhof abgesetzt habe, sei er, gesteuert von skrupellosen Marxisten, auf einem Einbahngleis direkt in das Debakel von 1991 gerollt, mit vorprogrammiertem Halt an der Lubjanka und auf dem Archipel Gulag.
Stalins Angst vor Trotzki
Die unbestreitbare Tatsache, dass diese Interpretation weithin akzeptiert wird, schlägt sich sogar im Titel dieses Vortrags nieder: »Gab es eine Alternative zum Stalinismus?« Diese Fragestellung scheint anzudeuten, dass nur eine spekulative Antwort möglich sei. Dem ist jedoch nicht so. Das Studium der Geschichte der Sowjetunion zeigt, dass es eine Alternative zum Stalinismus gab. Das Wachstum der Bürokratie und ihre Usurpation der politischen Macht stießen innerhalb der bolschewistischen Partei auf bewussten, systematischen Widerstand. Die bedeutendste Opposition war jene, die sich 1923 unter der Führung Leo Trotzkis formierte. Eine Antwort auf die Frage »Gab es eine Alternative zum Stalinismus?« lautet, dass Stalin und die Sowjetbürokratie jedenfalls fest davon überzeugt waren. Trotzki und die Linke Opposition wurden einer ebenso brutalen wie unablässigen Unterdrückung ausgesetzt. Stalin wusste, wie zweifelhaft sein Anspruch auf die Kontinuität des Bolschewismus war, und hielt daher Trotzki für die gefährlichste politische Opposition gegen seine Herrschaft.
Eine anschauliche Darstellung der Furcht Stalins vor Trotzki findet man ausgerechnet in der Biographie des sowjetischen Diktators von Dimitri Wolkogonow, die 1987 erschienen ist. Gestützt auf Unterlagen, die er in Stalins persönlicher Bibliothek fand, zeichnet Wolkogonow das Bild eines allmächtigen Diktators, der in Angst vor einem isolierten, staatenlosen Exilanten lebte. Er berichtet, dass Stalin alles, was von oder über Trotzki geschrieben wurde, in einem Spezialschrank seines Arbeitszimmers aufbewahrte. Stalins Exemplare dieser Schriften waren über und über mit Unterstreichungen und giftigen Randbemerkungen versehen.
Bei diesem Dämon handelte es sich selbstredend um Trotzki. Stalin hasste ihn noch mehr als zu jener Zeit, als er sich in seiner Nähe befand. Er verfluchte den Augenblick, da er in den Vorschlag einwilligte, ihn aus dem Lande auszuweisen. Er wollte sich nicht einmal eingestehen, dass er sich damals vor Trotzki gefürchtet hatte. Doch auch jetzt hatte Stalin Angst vor diesem Dämon. Und das Gefühl, des »Problems« Leib Dawidowitsch (wie er früher Trotzki in Gedanken genannt hatte) nicht Herr zu werden, brachte seinen Zorn auf den Siedepunkt.[3]
Wolkogonow fährt fort:
Der Hauptgrund indes, weshalb der Dämon Trotzki Stalin unablässig Angst einjagte, bestand in etwas anderem: Jener hatte seine eigene politische Organisation, die IV. Internationale, aufgebaut … Der ewige Dämon rächte sich für die Niederlage derart schmerzlich, wie es Stalin selbst nie hätte einfallen können …
Besonders bedrückten und schmerzten Stalin Trotzkis Worte, dass er nicht nur in seinem eigenen Namen spreche, sondern auch im Namen seiner stummen Parteigänger sowie aller mundtot gemachten Oppositionellen in der UdSSR. Bei der Lektüre der übersetzten Trotzki-Arbeiten »Die Stalinsche Fälscherschule«, »Offener Brief an die Mitglieder der bolschewistischen Partei« und »Der Stalinsche Thermidor« verlor der »Führer« fast seine Beherrschung.
… Trotzkis Werke erschienen in vielen Ländern. Stalins Bild in der Weltöffentlichkeit wurde nicht so sehr durch Feuchtwangers und Barbusses Bücher geprägt als vielmehr durch Trotzkis Schriften.[4]
Wolkogonow sympathisiert natürlich nicht im Geringsten mit Trotzki oder seinen politischen Ideen. Der bloße Gedanke, dass man Trotzki als Alternative zu Stalin ansehen könnte, ist Wolkogonow ein Gräuel. Er ist bemüht, Trotzkis Handeln und Schriften in einem möglichst schlechten Licht erscheinen zu lassen. Umso bezeichnender ist seine Schilderung von Stalins Fixierung auf die Aktivitäten seines verbannten Gegners. Auf seine Weise, wenn auch ungewollt, unterstreicht er damit das eklatante Manko der zahlreichen Werke über die sowjetische Geschichte, in denen Trotzki und die Linke Opposition nur am Rande gestreift werden.
Die Frage nach Leo Trotzki als Führer der Oktoberrevolution und wichtigstem marxistischen Gegner des stalinistischen Regimes steht unausgesprochen hinter jeder Diskussion über die sowjetische Geschichte. Seine Persönlichkeit und seine politische Rolle sind bis heute mit einem starken Tabu belegt. Der Umgang mit Trotzki bereitete sowohl den Stalinisten als auch den antimarxistischen bürgerlichen Historikern seit jeher große Schwierigkeiten. Innerhalb der Sowjetunion konnte das Regime selbst nach dem Tode Stalins und den Enthüllungen Chruschtschows keine ehrliche Bilanz von Trotzkis Aktivitäten und Ideen zulassen. Von allen bolschewistischen Führern, die Stalin ermorden ließ, hat die Sowjetregierung allein Trotzki niemals offiziell rehabilitiert. Noch im November 1987, zur Blütezeit von Glasnost, als Gorbatschow aus Anlass des 70. Jahrestages der Oktoberrevolution einen lang erwarteten Rückblick auf die sowjetische Geschichte vortrug, verurteilte der Regierungschef der UdSSR Trotzki kategorisch, während er Stalins Beitrag zur Sache des Sozialismus mit ein paar freundlichen Worten bedachte.
Es ist nicht schwer zu begreifen, weshalb die historische Rolle Trotzkis der Sowjetbürokratie solche Probleme bereitete. Sein Lebenswerk ist ein vernichtendes Urteil über die gesamte stalinistische Herrschaft, das er im Titel seines politischen Meisterwerks, »Verratene Revolution«, zusammengefasst hat.
Im Gegensatz zu den Auffassungen antimarxistischer Historiker widerspricht der Kampf Trotzkis gegen Stalin implizit der These, dass das totalitäre Regime ein notwendiger, authentischer Ausdruck des Bolschewismus gewesen sei. Wenn die antimarxistischen Historiker Trotzki nicht ignorieren konnten, bemühten sie sich nach Kräften, die Bedeutung seines politischen Kampfes gegen den Stalinismus herabzumindern. Einer der bekannteren antimarxistischen Historiker ist noch weiter gegangen. Ich beziehe mich auf das einflussreiche dreibändige Werk von Professor Leszek Kolakowski: »Die Hauptströmungen des Marxismus«.
Kolakowski schreibt:
Viele Autoren, die sich über diese Themen geäußert haben (darunter der Verfasser), sind der Ansicht, dass das unter der Herrschaft Stalins entstandene sowjetische System eine Fortsetzung des Leninismus war und dass der Staat, für den Lenin die politischen und ideologischen Fundamente legte, nicht anders als in der stalinistischen Form aufrechtzuerhalten war.[5]
Wenn der Stalinismus tatsächlich die legitime und notwendige Apotheose der von Lenin gelegten »politischen und ideologischen Fundamente« war, wie soll man dann den Kampf Trotzkis und der Linken Opposition erklären? In Voraussicht dieser Frage bietet Kolakowski folgende Erklärung:
Für die Trotzkisten – und natürlich für Trotzki selbst – war der Ausschluss Trotzkis von der Herrschaft ein entscheidender Moment der Geschichte. In Wirklichkeit gibt es für eine solche Auffassung keinen Grund. Es gibt gute Gründe für die Auffassung, dass es einen »Trotzkismus« nie gegeben hat, sondern dass er ein von Stalin erdachtes Phantom war. Bis zu einem gewissen Grade waren die Streitigkeiten zwischen Stalin und Trotzki real, doch wurden sie infolge des persönlichen Kampfes um die Macht phantastisch aufgebläht, und sie waren nie eine Konfrontation zwischen zwei geschlossenen Theorien … In Wirklichkeit ging es durchaus nicht um prinzipielle politische oder gar theoretische Gegensätze.[6]
Mit diesen Behauptungen bezeugt Kolakowski die geistige Armseligkeit und zynische Gleichgültigkeit gegenüber historischen Tatsachen, die der Behauptung, es habe keine Alternative zum Stalinismus gegeben, zugrunde liegen. Welche Glaubwürdigkeit kann eine These beanspruchen, die auf einer unglaubwürdigen Annahme basiert: dass der erbitterte Kampf, der in den 1920er und 1930er Jahren die bolschewistische Partei und die internationale kommunistische Bewegung spaltete, im Wesentlichen nichts zu bedeuten hatte. Die von Stalin angeordneten Massenmorde, die Vernichtung all jener, die in der sowjetischen Gesellschaft aufgrund ihres politischen Werdegangs oder ihrer geistigen Interessen auch nur der entferntesten Verbindung zum Trotzkismus verdächtigt wurden – all dies geschah angeblich, obwohl der sowjetische Diktator keine grundsätzlichen politischen oder theoretischen Meinungsverschiedenheiten mit Trotzki hegte. Gleichzeitig verlangt man von uns, zu glauben, dass Trotzki Tausende von Artikeln gegen das Sowjetregime schrieb und unermüdlich am Aufbau einer internationalen Bewegung arbeitete, die dessen Sturz anstrebte, nur um seine Übereinstimmung mit Stalins Politik zu verbergen!
War der Stalinismus unvermeidlich?
Ausgehend von ihrer ideologisch motivierten Schlussfolgerung – dass die Herrschaft des stalinistischen Totalitarismus das vorherbestimmte Ergebnis von Theorie und Politik der Bolschewiki gewesen sei – ignorieren die Vertreter der postsowjetischen Schule der Fälschung die historischen Tatsachen, die eine andere Sprache sprechen, und bewegen sich damit fachlich auf einem beklagenswert niedrigen Niveau. Und doch wirkt ihr grundlegendes Argument zum Teil noch verführerisch, sogar auf viele Studenten, die den ideologischen Vorurteilen der postsowjetischen Schule der Fälschung durchaus nicht zuneigen. Doch wie soll man den Übergang von Lenin zu Stalin erklären? War es nicht so, dass sich die bolschewistische Regierung nur wenige Jahre nach der Machteroberung in eine brutale Diktatur verwandelte? Ist es nicht vernünftig, die Saat dieser Umwandlung in der bolschewistischen Partei und insbesondere in deren Ideologie zu suchen?
Dieses Argument ist nicht neu. Schon in den 1930er Jahren, auf dem Höhepunkt des stalinistischen Terrors, als seine alten Genossen hingeschlachtet wurden und er selbst von Mördern der GPU verfolgt wurde, sah sich Trotzki wiederholt der Anschuldigung ausgesetzt, dass er als Führer der Oktoberrevolution für die Gräueltaten des Sowjetregimes mitverantwortlich sei.
Er beantwortete diese Vorwürfe, indem er auf den grundlegenden Fehler in der historischen Methodik seiner Kritiker hinwies. Indem sie die Quelle des Stalinismus in der Ideologie des Bolschewismus suchten – d.h., indem sie den Begriff der Erbsünde auf das Studium der Sowjetpolitik anwandten –, behandelten die Antimarxisten den Bolschewismus, als habe er sich unter sterilen Laborbedingungen entwickelt. Sie übersahen, dass die bolschewistische Partei trotz all ihrer Dynamik nur ein Element in dem großen gesellschaftlichen Panorama der Russischen Revolution war. Zwar stellte sie zweifellos den entscheidenden politischen Faktor in der Russischen Revolution dar, hatte diese aber nicht aus dem Nichts geschaffen. Und selbst nachdem sie die Staatsmacht erobert hatte, wurde die bolschewistische Partei nicht kraft dieser Tat zum alleinigen Herrn über die gesellschaftliche Realität. Ihre Macht wurde von zahllosen ererbten historischen Faktoren begrenzt, von dem komplexen Zusammenwirken politischer und ökonomischer Faktoren auf internationaler Ebene ganz zu schweigen.
Die Partei übte nicht nur Einfluss auf die gesellschaftlichen Bedingungen aus, sondern unterlag nach der Machteroberung auch deren Einfluss. Die bolschewistische Partei konnte per Dekret das Privateigentum an den Produktionsmitteln beseitigen, aber sie konnte nicht tausend Jahre russischer Geschichte aus der Welt schaffen. Sie konnte nicht all die verschiedenen Formen gesellschaftlicher, ökonomischer, kultureller und politischer Rückständigkeit beseitigen, die in Russland über Jahrhunderte hinweg entstanden war.
Jedes menschliche Wesen trägt auf seiner DNA die Erbinformation, mit der das allgemeine Muster seiner biologischen Entwicklung vorgegeben ist. Aber selbst bei diesem natürlichen Prozess spielt der Einfluss äußerer Bedingungen auf den menschlichen Körper, wie etwa eine durch Industrieanlagen geänderte Atmosphäre, keine geringe Rolle. Und wenn man das Schicksal jedes Menschen unter dem Aspekt seiner Existenz als gesellschaftliches Wesen betrachtet, erkennt man, dass die historischen Umstände, unter denen er lebt, auch seine körperliche Entwicklung maßgeblich prägen können.
Wenn schon Anthropologen den entscheidenden Einfluss äußerer, gesellschaftlich bedingter Faktoren auf die Entwicklung von Individuen nicht ignorieren können, sollten auch Historiker bei einem so komplexen politischen Phänomen wie der bolschewistischen Partei nicht davon ausgehen, dass ihre Entwicklung von einem Code gesteuert wurde, der sich unsichtbar in ihrem theoretischen Gesamtkonzept verbarg.
Wenn wir die ideologischen Metaphysiker der postsowjetischen Schule der Fälschung zurückweisen, müssen wir deshalb die bolschewistische Partei nicht für unfehlbar erklären oder bestreiten, dass politische Fehler Lenins und Trotzkis nach der Oktoberrevolution – etwa das Verbot innerparteilicher Fraktionen auf dem 10. Parteitag 1921 – in der einen oder anderen Weise zum Anwachsen der Bürokratie und zur schließlichen Festigung der stalinistischen Diktatur beitrugen. Man könnte sogar schlussfolgern, dass es in den organisatorischen Auffassungen und Formen des Bolschewismus Elemente gab, die Stalin unter bestimmten Bedingungen ausnutzen konnte, um eine diktatorische Herrschaft zu errichten. Aber dies galt eben, und das ist entscheidend, unter bestimmten Bedingungen. Der Bolschewismus barg gegensätzliche Tendenzen in sich. Aber deren Entfaltung kann man nur im Zusammenhang mit der Entwicklung der ökonomischen und gesellschaftlichen Widersprüche der sowjetischen Gesellschaft als Ganzer verstehen.
Selbst wenn man die Rollen der Schlüsselfiguren untersucht, muss man von der Vorrangigkeit objektiver Bedingungen und Umstände ausgehen.
Stalins politische Entwicklung
Vor einigen Jahren diskutierte ich in Moskau mit Iwan Wratschow, einem der wenigen, der in den 1920er Jahren Mitglied der Linken Opposition gewesen war – er hatte die oppositionelle »Erklärung der 84« mitunterzeichnet – und die Stalinzeit überlebt hatte. Er hatte Trotzki und die meisten anderen Führer der bolschewistischen Partei, einschließlich Stalin, sehr gut gekannt. Ich fragte Wratschow, ob Stalin irgendetwas an sich hatte, woran er hätte merken können, dass dieser Mann es fertigbringen werde, die Hinrichtung von Genossen anzuordnen, mit denen er viele Jahre lang eng zusammengearbeitet hatte.
Wratschow antwortete, dass er sich diese Frage selbst schon oft gestellt habe, sich aber an nichts erinnern könne, das ihm Anlass gegeben hätte, Stalin solche Verbrechen zuzutrauen. Wratschow erzählte dann folgende Begebenheit: Im Jahr 1922 sollte er mit einem wichtigen Auftrag von Moskau in die Provinz reisen. Er litt damals an Schmerzen in der Seite, bat aber dennoch nicht um einen Aufschub. Vor seiner Abfahrt musste sich Wratschow mit Stalin treffen, da dieser für die Parteiorganisation zuständig war. Er ging in den Kreml, wo er die bevorstehende Reise im Einzelnen mit Stalin besprach.
Während der Diskussion bemerkte Stalin plötzlich, dass sich Wratschow nicht wohl fühlte. Stalin war sehr beunruhigt, und sein gesamtes Verhalten schien aufrichtige Sorge auszudrücken. Er sagte Wratschow, dass er seine Gesundheit nicht derart aufs Spiel setzen dürfe, wies ihn an, seine Abreise zu verschieben, und griff persönlich zum Telefon, um für Wratschow einen Untersuchungstermin bei den besten Ärzten des Kremls zu vereinbaren. Es stellte sich heraus, dass Wratschow operiert werden musste. Als sich Wratschow an diesen Vorfall erinnerte, räumte er ein, dass Stalin möglicherweise nur Anhänger für seinen Apparat werben wollte. Sein damaliger Eindruck war jedoch, dass Stalin immer noch zu Mitgefühl und aufrichtigen menschlichen Empfindungen fähig war.
Stalin verübte ungeheure Verbrechen. Man muss annehmen, dass in seiner Persönlichkeit psychologische Anlagen schlummerten, die ihn zum Massenmord befähigten. Aber selbst im Falle Stalins kamen diese krankhaften und verbrecherischen Neigungen erst durch eine bestimmte Konstellation objektiver Umstände an die Oberfläche und nahmen ihre besonders groteske Form an. In diesem Zusammenhang ist eine Überlegung interessant, die Trotzki in den späten 1930er Jahren anstellte. Hätte Stalin, schrieb Trotzki, den Ausgang seines Kampfes mit der Linken Opposition vorausgesehen, so hätte er ihn nicht aufgenommen, selbst wenn er vorher gewusst hätte, dass er die absolute Macht erringen würde.
Ironischerweise bestand eine von Stalins politischen Vorteilen im Kampf gegen seine Gegner darin, dass er so wenig vorhersah. In seinem selbstgefälligen Pragmatismus ließ sich Stalin nicht von jenen prinzipiellen, auf einer ernsthaften theoretischen Analyse basierenden Erwägungen anfechten, die in den von Trotzki aufgezeigten politischen Alternativen eine ausschlaggebende Rolle spielten. Die eindringlichen Warnungen der Opposition, dass seine Innen- und Außenpolitik zu einer Katastrophe führen werde, schlug Stalin als Panikmache in den Wind. In einem jüngst veröffentlichten Brief Stalins an Molotow mit Datum vom 15. Juni 1926 finden wir einen Absatz, der viel über Stalin aussagt: »Die wirtschaftlichen Dinge schrecken mich nicht«, schrieb er, »Rykow wird damit fertig werden. Von den wirtschaftlichen Fragen profitieren die Oppositionellen überhaupt nicht.«[7]
So lautete Stalins ganz private Einschätzung der Gesamtbedeutung einer Frage, von der das Schicksal der Sowjetunion abhing. Mit ihr ließen sich »absolut keine Punkte« erzielen. Stalin konnte sich nicht vorstellen, dass die sich anhäufenden Widersprüche der Sowjetwirtschaft unter der Neuen Ökonomischen Politik (NÖP) schließlich auf ihn zurückschlagen und ihn wenige Jahre später zu der verzweifelten, rabiaten und mörderischen Politik der Massenkollektivierung treiben würden.
Der internationale Kontext der Oktoberrevolution
Im Zentrum von Trotzkis Perspektive der permanenten Revolution und auch der »Aprilthesen« Lenins stand die unlösbare Verbindung zwischen den Kämpfen der russischen Arbeiterklasse und dem internationalen, insbesondere dem europäischen Proletariat. Weder Lenin noch Trotzki sahen die Oktoberrevolution als vorwiegend nationales Ereignis. Sie verstanden und begründeten den Sturz der Provisorischen Regierung als Beginn einer internationalen, proletarischen Lösung der weltweiten kapitalistischen Widersprüche, die sich im Ersten Weltkrieg geäußert hatten. Diese Perspektive hatte nichts gemeinsam mit dem Ziel, innerhalb der Grenzen des ökonomisch rückständigen Russland ein selbstgenügsames sozialistisches System aufzubauen. Erst im Herbst 1924, mehrere Monate nach Lenins Tod, traten Bucharin und Stalin erstmals mit dem Gedanken hervor, dass der Sozialismus auf nationaler Grundlage, in einem Land, verwirklicht werden könne.
Vor dieser Zeit galt es als eine axiomatische Voraussetzung des Marxismus, dass das Überleben der bolschewistischen Regierung, vom Aufbau einer sozialistischen Wirtschaft ganz zu schweigen, vom Sieg sozialistischer Revolutionen in Westeuropa abhing. Man glaubte von ganzem Herzen, dass die Machteroberung der Arbeiterklasse in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern Sowjetrussland die politischen, finanziellen, industriellen und technologischen Mittel verschaffen würde, die es zum Überleben brauchte.
Man könnte natürlich – wie damals die Menschewiki und ihre Verbündeten unter den europäischen Sozialdemokraten – argumentieren, dass die Bolschewiki verrückt waren, ihren Kampf um die Macht auf derart weitreichende, internationale revolutionäre Berechnungen zu begründen. Doch dann sollte man wissen, dass Rosa Luxemburg, die sich Lenin gegenüber alles andere als unkritisch verhielt, gerade diesen Aspekt des Bolschewismus uneingeschränkt bewunderte. Sie schrieb 1918:
Die Revolution Russlands war in ihren Schicksalen völlig von den internationalen Ereignissen abhängig. Dass die Bolschewiki ihre Politik gänzlich auf die Weltrevolution des Proletariats stellten, ist gerade das glänzendste Zeugnis ihres politischen Weitblicks und ihrer grundsätzlichen Treue, des kühnen Wurfs ihrer Politik.[8]
Luxemburg beurteilte die Aussichten der bolschewistischen Herrschaft nicht optimistisch. Auch stimmte sie mit vielen Elementen der bolschewistischen Politik nach der Machteroberung nicht überein. Aber es lag ihr völlig fern, zu behaupten, dass die Bolschewiki die Macht nicht hätten erobern sollen oder dass ihre politischen Irrtümer Ausdruck eines utopischen Fanatismus seien. Selbst als sie die Unterdrückung der Demokratie und den unmäßigen Einsatz von Terror kritisierte, galt Luxemburgs moralische Missbilligung nicht den Bolschewiki, sondern den deutschen Sozialdemokraten, die mit ihrem Verrat an ihren revolutionären Grundsätzen und mit ihrer Unterstützung für die Kriegspolitik der deutschen Regierung, einschließlich der Besetzung großer Teile Russlands, die Sowjetregierung erst in die damalige verzweifelte Lage gebracht hatten.
Es hieße von Lenin und Genossen Übermenschliches verlangen, wollte man ihnen auch noch zumuten, unter solchen Umständen die schönste Demokratie, die vorbildlichste Diktatur des Proletariats und eine blühende sozialistische Wirtschaft hervorzuzaubern …
… Wir alle stehen unter dem Gesetz der Geschichte, und die sozialistische Politik lässt sich eben nur international durchführen. Die Bolschewiki haben gezeigt, dass sie alles können, was eine echte revolutionäre Partei in den Grenzen der historischen Möglichkeiten zu leisten imstande ist. Sie sollen nicht Wunder wirken wollen. Denn eine mustergültige und fehlerfreie proletarische Revolution in einem isolierten, vom Weltkrieg erschöpften, vom Imperialismus erdrosselten, vom internationalen Proletariat verratenen Lande wäre ein Wunder.[9]
Und sie schloss:
Worauf es ankommt, ist, in der Politik der Bolschewiki das Wesentliche vom Unwesentlichen, den Kern von dem Zufälligen zu unterscheiden. In dieser letzten Periode, in der wir vor entscheidenden Endkämpfen in der ganzen Welt stehen, war und ist das wichtigste Problem des Sozialismus, geradezu die brennende Zeitfrage nicht diese oder jene Detailfrage der Taktik, sondern: die Aktionsfähigkeit des Proletariats, die revolutionäre Tatkraft der Massen, der Wille zur Macht des Sozialismus überhaupt. In dieser Beziehung waren die Lenin und Trotzki mit ihren Freunden die ersten, die dem Weltproletariat mit dem Beispiel vorangegangen sind, sie sind bis jetzt immer noch die einzigen, die mit Hutten ausrufen können: Ich hab’s gewagt![10]
Wie erfrischend klingen diese Worte noch heute, selbst nachdem beinahe achtzig Jahre vergangen sind! Sie bezeugen, dass die bewusstesten Sozialisten jener Zeit sich darüber klar waren, dass die Isolation der Russischen Revolution die größte Gefahr für ihr Überleben darstellte.
Die Niederlagen der europäischen Arbeiterklasse nach dem Ersten Weltkrieg, insbesondere in Deutschland, waren der Hauptgrund für die politische Degeneration der Sowjetherrschaft. Die Isolation Sowjetrusslands änderte das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen, das die bolschewistische Machteroberung ermöglicht hatte, von Grund auf. Wir haben es hier nicht mit einem rein theoretischen Problem, sondern mit einer handfesten Realität zu tun. Die wichtigste soziale Basis der Oktoberrevolution war die sehr kleine, aber strategisch positionierte Arbeiterklasse gewesen. Man kann die Krise des Bolschewismus nicht verstehen, ohne die Auswirkungen des Bürgerkriegs auf die Arbeiterklasse zu berücksichtigen.
Die Kosten des Bürgerkriegs
In seinen Schriften über die objektiven Ursachen für die Degeneration der bolschewistischen Partei verwies Trotzki oft auf die körperliche und geistige Erschöpfung der Arbeiterklasse zum Ende des Bürgerkriegs im Jahr 1921. Jüngst erschienene Studien einer Reihe herausragender Historiker – deren Werke erwartungsgemäß der breiten Öffentlichkeit weitaus weniger bekannt sind – enthalten wichtige Fakten, die ein klares Licht auf das Ausmaß der gesellschaftlichen Katastrophe werfen, vor der die Sowjetregierung stand.
In der wertvollen Studie »Sowjetstaat und -gesellschaft zwischen Revolutionen, 1918–1929« führt Professor Lewis Siegelbaum von der Michigan State University statistische Daten über das Schrumpfen der Industriearbeiterklasse im Verlauf des Bürgerkriegs an. Zur Zeit der Revolution gab es in Fabriken, die mehr als 16 Arbeiter beschäftigten, insgesamt 3,5 Millionen Arbeiter. Diese Zahl fiel im Jahr 1918 auf 2 Millionen und Ende 1920 auf 1,5 Millionen.
Am höchsten waren die Verluste in den großen Industriezentren. Die Zahl der Industriearbeiter in Petrograd betrug 406000 im Januar 1917. Mitte 1920 waren es noch 123000. Zu diesem absoluten Rückgang kam noch die deutliche Verringerung der Größe des Proletariats im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung der Stadt.
Moskau verlor zwischen 1918 und 1920 etwa 100000 Arbeiter, und während derselben Periode sank die Zahl der Fabrik- und Bergarbeiter im Ural von 340000 auf 155000.
Die großen Industrie- und Fertigungssektoren der sowjetischen Wirtschaft erlitten schwindelerregende Einbußen. Die Textilindustrie verlor 72 Prozent ihrer Arbeitskräfte. Die Maschinenbau- und Metallindustrie verlor 57 Prozent.
Der Rückgang des Proletariats war Bestandteil einer allgemeinen Entvölkerung der Städte. In Petrograd, das 1917 eine Bevölkerung von 2,5 Millionen gehabt hatte, lebten 1920 noch 722000 Menschen – dieselbe Zahl wie ein halbes Jahrhundert zuvor. Die Bevölkerungszahl Moskaus sank zwischen Februar 1917 und Ende 1920 von 2 Millionen auf knapp über 1 Million, also auf etwas weniger als die Größe, die bei der Volkszählung von 1897 ermittelt worden war.
Viele Faktoren, vor allem Krankheiten, trugen zu diesem zerstörerischen Prozess bei. Zehntausende fielen Epidemien von Cholera, Influenza, Typhus und Diphtherie zum Opfer. In Moskau stieg die Todesrate von 23,7 pro Tausend im Jahr 1917 auf 45,4 pro Tausend im Jahr 1920.
Ein weiterer bedeutender Faktor der Entvölkerung und Deindustrialisierung war der dringende Soldatenbedarf der neu geschaffenen Roten Armee, um die imperialistisch gestützten Weißen Armeen zu bekämpfen. Die Mobilisierungen der Roten Armee entzogen den Fabriken zwischen 1918 und 1920 weit über eine halbe Million Arbeiter.
Die Folgen dieser demografischen Katastrophe machten sich nicht nur ökonomisch, sondern auch politisch bemerkbar. Die Siege der Roten Armee hingen in großem Maße von der Hingabe und Initiative der klassenbewusstesten Teile der Arbeiterklasse ab. Das Ausbluten des Industrieproletariats bedeutete den Verlust gerade jener Arbeiter, die in den revolutionären Kämpfen von 1917 in Fabrikkomitees oder anderen von der Partei geführten Organisationen eine wichtige Rolle gespielt hatten. Es steht außer Zweifel, dass eine statistisch bedeutsame Anzahl Arbeiter, die zumindest bei den Wahlen zu den Sowjets und dann zur Konstituierenden Versammlung für die Bolschewiki gestimmt hatten, durch die Erfordernisse des Bürgerkriegs den Industriestandorten entzogen wurden.
Die Verluste der Kommunistischen Partei waren dramatisch. Man schätzt, dass von den 500000 Kommunisten, die in der Roten Armee dienten, 200000 im Bürgerkrieg fielen. Die politischen Auswirkungen dieser furchtbaren Todesrate unter den revolutionären Kadern werden besonders deutlich, wenn man bedenkt, wie viele neue Mitglieder in die Kommunistische Partei strömten, insbesondere, nachdem sich die militärische Lage der Sowjetregierung aufgrund bedeutender Siege im Herbst 1919 verbessert hatte. Von August 1919 bis März 1920 wuchs die Mitgliedschaft der Partei von 150000 auf 600000. Diese Neuzugänge waren im Allgemeinen von einem sehr viel geringeren Kaliber als die Verluste.
Zum Ende des Bürgerkriegs hatte sich also die soziale und politische Basis sowohl der Sowjetregierung als auch der regierenden Partei von Grund auf geändert. Die »Diktatur des Proletariats« hatte einen beträchtlichen Teil des Proletariats verloren, auf das sie sich gestützt hatte. Und die »Partei der Avantgarde« hatte einen großen Teil jener eingebüßt, die aufgrund ihrer langen Erfahrung die echte politische Avantgarde der Arbeiterklasse dargestellt hatten. Außerdem hatte sich die tatsächliche soziale Zusammensetzung der bolschewistischen Partei von Grund auf gewandelt. Der Prozentsatz an Mitgliedern, die ihre gesellschaftliche Herkunft als Angestellte im Gegensatz zu Arbeitern angaben, war beträchtlich gestiegen. Siegelbaum macht auf die wachsende Bedeutung dieser »unteren Mittelschicht« bzw. des Kleinbürgertums in Parteiangelegenheiten und Staatsorganisationen aufmerksam.
Es gelang den unteren Mittelschichten also, in der Arbeiter- und Bauernrevolution Fuß zu fassen. Das Ergebnis war, dass die soziale Zusammensetzung des revolutionären Staates heterogener und weniger proletarisch war, als für gewöhnlich angenommen. Welche Auswirkungen diese »fremden Elemente« auf das tagtägliche Funktionieren des Staates hatten, ob sie eine spezifische Psychologie besaßen, die dem ursprünglich revolutionären Projekt selbst fremd war, ist nicht ganz klar.[11]
Nicht nur der Verlust gestählter Arbeiterkader und das Hereinströmen Zehntausender unerfahrener und politisch fragwürdiger Neuzugänge änderten den Charakter der bolschewistischen Partei. Unter den älteren Kadern, die die Jahre der Revolution und des Bürgerkriegs überlebt hatten, forderte der »Fachkräftebedarf der Macht« (ein Ausdruck von Christian Rakowski, einem der engsten politischen Mitstreiter Trotzkis in der Opposition) einen unvorhergesehenen, aber politisch sehr schwerwiegenden Tribut. In einem rückständigen Land, wo ein großer Teil der Bevölkerung weder lesen noch schreiben konnte und nur wenige über eine Berufsausbildung verfügten, wurden die Parteimitglieder unweigerlich auf Leitungs- und Verwaltungsposten gebracht. Die unzähligen, ständig zunehmenden Staatsinstitutionen und Parteiorganisationen wetteiferten untereinander um den Dienst von Kadern, die über gewisse Leitungs- und Verwaltungsfähigkeiten verfügten. Auf diese Weise geriet ein bedeutsamer Teil der Parteikader in den Strudel des Bürokratisierungsprozesses.
Unter den Bedingungen des wirtschaftlichen Chaos und verzweifelter Armut boten gleichzeitig Stellungen in den Organisationen und Institutionen von Staat und Partei ein zumindest geringes Maß an persönlicher Sicherheit. Die Möglichkeit, wenigstens einmal täglich eine annehmbare Kantinenmahlzeit zu bekommen, stellte ein nicht unerhebliches Privileg dar. Auf allen möglichen kleinen, aber bedeutsamen Wegen formierte sich allmählich eine bürokratische Kaste mit eigenen gesellschaftlichen Interessen.
Die Auswirkungen der NÖP
Die Sowjetregierung führte die Neue Ökonomische Politik (NÖP) im Jahr 1921 ein. Sie förderte die Wiederbelebung eines kapitalistischen Markts, um in Russland wieder Grundlagen für eine organisierte Wirtschaftstätigkeit zu schaffen. Die NÖP war zwar eine notwendige Antwort auf die ruinöse wirtschaftliche Lage des isolierten Sowjetstaats, beschleunigte aber den politischen Degenerationsprozess der Regierungspartei. Da die proletarische Basis von Staat und Partei drastisch geschwächt worden war, musste der Anstoß zum Wachstum kapitalistischer Tendenzen innerhalb Sowjetrusslands, der von der NÖP ausging, unbedingt gefährliche politische Folgen zeitigen.
Die NÖP hauchte mit Sicherheit jenen Teilen der Gesellschaft neues Leben ein, in deren Augen die bolschewistische Revolution die Apokalypse gewesen war. Geschäftsleute und Händler tauchten wieder auf, und bereits 1922 war in Moskau wieder eine Börse in Betrieb. Das gesellschaftliche Klima war nun weit duldsamer gegenüber Ungleichheit, und unter den Parteimitgliedern, insbesondere in den oberen Etagen der Bürokratie, machten sich Stimmungen breit, die einen gewissen moralischen und politischen Niedergang erkennen ließen.
Die NÖP trug zu einer Wiederbelebung eindeutig nationalistischer Einstellungen bei. Die Oktoberrevolution war gewiss ein großes Ereignis in der Geschichte der internationalen Arbeiterbewegung. Aber auch in der Geschichte Russlands führte sie einen Wandel herbei. Die Revolution erweckte Millionen Menschen, Arbeiter und Bauern, die sich aktiv an dem epochalen Projekt des Aufbaus einer neuen Gesellschaft beteiligten. Unzählige Aspekte des Alltagslebens wurden durch den Aufstand verändert. Vielen Parteimitgliedern – insbesondere unter den Neuzugängen aus den unteren Mittelschichten, denen die bolschewistische Regierung neue Möglichkeiten eröffnet hatte – erschien die Oktoberrevolution als Auftakt zu einer großen nationalen Wiedergeburt. Vor dem Hintergrund der Niederlagen der europäischen Arbeiterklasse erschienen diesen Kräften die praktischen Aufgaben des Aufbaus der nationalen sowjetischen Wirtschaft weitaus realistischer als die Vision der sozialistischen Weltrevolution.
Das Niveau des politischen Lebens innerhalb der Partei sank. Von 1920 an häuften sich beunruhigte Äußerungen führender Bolschewiki über die Bürokratisierung des Staatsapparats. Lenin nannte Sowjetrussland sogar einen »Arbeiterstaat mit bürokratischen Auswüchsen«. Aber ungeachtet dieser Besorgnis wurde der Bürokratisierungsprozess von tief verwurzelten objektiven Tendenzen genährt, die mit der Rückständigkeit Russlands zusammenhingen, und die Partei selbst konnte gegen das Eindringen der Bürokratie in alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens nicht immun bleiben. Da eine politisch aktive Arbeiterklasse als Gegengewicht fehlte, breiteten sich in der Partei rasch Methoden der bürokratischen Leitung und Verwaltung aus. Der deutlichste Ausdruck dieses Prozesses war der wachsende Einfluss Stalins, dessen Hauptaufgabe als Generalsekretär darin bestand, das Personal für wichtige Ämter in Partei und Staat auszuwählen. Mehr und mehr ersetzte die Ernennung von oben, mit der sich Stalin ein Netzwerk von Getreuen schuf, die traditionellen Formen der Parteidemokratie.
Im März 1922, auf dem 11. Parteitag, warnte Lenin, dass die Partei von der Bürokratie in der Staatsverwaltung überwältigt zu werden drohte. Kurz darauf lähmte ihn ein Schlaganfall, so dass er mehrere Monate lang politisch handlungsunfähig war. Als er im Herbst 1922 zur Arbeit zurückkehrte, stellte Lenin entsetzt fest, in welchem Ausmaß sich die innerparteiliche Lage verschlechtert hatte. Er erkannte, dass Stalin die Schlüsselfigur des bürokratischen Degenerationsprozesses war. Aus den Notizen und Dokumenten, die Lenin während der letzten Monate seines politisch aktiven Lebens anfertigte, geht eindeutig hervor, dass er für den 12. Parteitag, der im April 1923 stattfinden sollte, einen Entscheidungskampf mit Stalin vorbereitete. Lenins berühmtes Testament, in dem er die Absetzung Stalins vom Posten des Generalsekretärs fordert, und der Brief Lenins an Stalin, in dem er ihm den Abbruch aller persönlichen Beziehungen androht, waren Bestandteil eines politischen Dossiers, das Lenin dem Parteitag vorzulegen beabsichtigte. Der schwere Schlaganfall, den Lenin im März 1923 erlitt, rettete Stalins politische Karriere.
In den Monaten, die Lenins endgültigem Ausscheiden folgten, wuchs die Opposition gegen die bürokratischen Methoden des »Triumvirats« aus Stalin, Sinowjew und Kamenew. Verstärkt wurden die politischen Spannungen durch wachsende Bedenken über die Folgen der NÖP, die sich insbesondere, wie Trotzki im Frühjahr 1923 ausführte, in dem immer größeren Auseinanderklaffen zwischen Industrie- und Agrarpreisen und in der ständigen Verschlechterung der Lebensverhältnisse der Arbeiterklasse niederschlugen.
Die Linke Opposition
Als sich abzeichnete, dass Lenin nicht in die Politik zurückkehren würde, wurde Trotzki gedrängt, offen gegen die Unterdrückung der innerparteilichen Demokratie Stellung zu beziehen. Am 8. Oktober 1923 richtete Trotzki einen Brief an das Zentralkomitee, in dem er auf die ernsten Schwächen der Wirtschaftspolitik aufmerksam machte und auch die Bürokratisierung des Parteilebens kritisierte. Eine Woche später wurde seine Kritik in einem Rundschreiben unterstützt; 46 bekannte Parteimitglieder unterzeichneten diese »Plattform«. Diese Ereignisse markierten den Beginn des politischen Kampfes der Linken Opposition.
Der Mythos, dass der Stalinismus organisch aus der marxistischen und bolschewistischen Ideologie hervorgegangen sei, wird durch die historischen Tatsachen widerlegt. Zehntausende von Dokumenten, die zumeist Jahrzehnte lang vor der sowjetischen Bevölkerung verborgen wurden, spiegeln die Entwicklung des wirklichen Marxismus in dem erbitterten Kampf gegen die stalinistische Bürokratie wider.
Die Weitsicht der Opposition äußerte sich deutlich in der »Plattform der 46«. Sie warnte: »Die Wirtschaftskrise in Sowjetrussland und die Krise der Fraktionsdiktatur in der Partei werden, falls die entstandene Lage nicht in der nächsten Zukunft grundlegend geändert wird, die Arbeiterdiktatur in Russland und die Russische Kommunistische Partei stark in Mitleidenschaft ziehen. Mit einer derartigen Last auf den Schultern können die Diktatur des Proletariats in Russland und ihr Hegemon, die RKP, den nahenden neuen, die ganze Welt erfassenden Erschütterungen nur mit der Perspektive von Misserfolgen an der gesamten Front des proletarischen Kampfes entgegengehen.«[12]
Die Fragen, die zur Entstehung der Opposition im Jahr 1923 führten, waren die Zunahme des Bürokratismus in der Partei und Differenzen über die Wirtschaftspolitik. Aber erst nach Ausbruch des politischen Kampfes innerhalb der Partei wurden das ganze Ausmaß der programmatischen Differenzen und vor allem die gegensätzlichen gesellschaftlichen Kräfte, auf die sich die kämpfenden Tendenzen stützten, offen sichtbar. Die Kritik Trotzkis und die Plattform der 46 stürzten das Triumvirat zunächst in Verwirrung; und es bot einige unaufrichtige politische Zugeständnisse an. Aber dann besann es sich, ging zum Gegenangriff über und appellierte an die gesellschaftlichen Kräfte, die im Rahmen der NÖP zu einer neuen Stütze des Sowjetregimes geworden waren. Darin bestand die Bedeutung der Theorie vom »Sozialismus in einem Land«, mit der Stalin Ende 1924 aufwartete.
Es ist zweifelhaft, ob Stalin selbst vorausgesehen hat, welches Echo diese grundlegende Revision der historischen Perspektive, auf der die bolschewistische Revolution beruht hatte, hervorrufen würde; oder ob er auch nur verstand, weshalb Trotzki seiner neuen Theorie eine so weitreichende Bedeutung zuschrieb. Aber Stalin muss bereits gespürt haben, dass es innerhalb der Partei, ganz zu schweigen von breiteren Bevölkerungsschichten, eine große Basis gab, die eine solche nationalistische Umformulierung der Parteiperspektive begrüßen würde. Mit der Aussage, dass der Sozialismus in einem Land aufgebaut werden könne, wertete Stalin die Praktiken und die Anschauungen auf, die sich Zehntausende Parteibürokraten zur Gewohnheit gemacht hatten.
Sozialismus in einem Land
Die Theorie vom »Sozialismus in einem Land« gefiel besonders jener anwachsenden bürokratischen Schicht, die immer bewusster ihre eigenen materiellen Interessen mit der Entwicklung der »nationalen« sowjetischen Wirtschaft identifizierte. Aber nicht nur Bürokraten fühlten sich von dieser Perspektive angesprochen. Auch unter breiten Schichten der Arbeiterklasse führte die allgemeine politische Erschöpfung zu einem Rückzug von den internationalen Bestrebungen der Oktoberrevolution. Insbesondere nach dem Debakel, das die Kommunistische Partei Deutschlands im Oktober 1923 erlebte, schien eine nationale Lösung für die Krise der Sowjetgesellschaft der belagerten Revolution neue Aussichten zu eröffnen.
In einem seiner lichteren Momente äußerte Stalin, die Theorie des »Sozialismus in einem Land« erfülle eine wertvolle Funktion, weil sie den sowjetischen Massen die Zuversicht gebe, dass die Oktoberrevolution nicht vergebens gewesen sei. Jene, die bestritten, dass in Russland unabhängig vom Schicksal der internationalen revolutionären Bewegung der Sozialismus aufgebaut werden könne, unterhöhlten den Glauben und die Begeisterung der Arbeiterklasse. Man müsse den Arbeitern die Zuversicht geben, dass sie durch ihre eigenen Bemühungen den Sozialismus erreichen könnten. Auf solche Argumente antwortete Trotzki 1928:
Die Theorie vom Sozialismus in einem Land führt unausweichlich zu einer Unterschätzung der zu bewältigenden Schwierigkeiten und zu einer Übertreibung der erreichten Erfolge. Schwerlich könnte man eine Behauptung finden, die stärker gegen den Sozialismus und gegen die Revolution gerichtet wäre, als Stalins Erklärung, »der Sozialismus ist in der UdSSR bereits zu neun Zehnteln verwirklicht« …
Damit der Arbeiter, Landarbeiter oder arme Bauer, der im elften Jahr der Revolution um sich herum nichts als Armut, Arbeitslosigkeit, lange Brotschlangen, Analphabetentum, verwahrloste Kinder, Trunkenheit und Prostitution sieht, nicht die Hände sinken lässt, braucht man die harte Wahrheit und nicht süßliche Lügen. Anstatt ihnen vorzuschwindeln, der Sozialismus sei bereits zu neun Zehnteln verwirklicht, müssen wir ihnen sagen, dass wir gegenwärtig in unserem wirtschaftlichen Niveau, unseren Lebensbedingungen und unserer Kultur dem Kapitalismus, und überdies einem rückständigen und unkultivierten Kapitalismus, weitaus näher stehen als einer sozialistischen Gesellschaft. Wir müssen ihnen erklären, dass wir nur dann den Weg zu einem wirklichen sozialistischen Aufbau einschlagen können, wenn das Proletariat in den fortgeschrittenen Ländern die Macht erobert haben wird, und dass wir unermüdlich daran arbeiten müssen, indem wir beide Hebel benutzen – den kurzen Hebel unserer inneren wirtschaftlichen Anstrengungen und den langen Hebel des internationalen Kampfes des Proletariats.[13]
Das Beharren auf der unbedingten Abhängigkeit der Sowjetunion von der Entwicklung der sozialistischen Weltrevolution und, umgekehrt, die Unmöglichkeit, den Sozialismus in einem einzelnen Land aufzubauen, bildeten die theoretische und programmatische Grundlage des Kampfes, den Trotzki und die Linke Opposition gegen die stalinistische Bürokratie führten. Man kann das Programm der Linken Opposition nicht verstehen, wenn man seine verschiedenen Elemente – wie die Wiederherstellung der Parteidemokratie, die Weiterentwicklung der Planung, die Stärkung der Industrie – von diesem Grundgedanken trennt.
Die meisten Historiker – auch jene, die Trotzki nicht gänzlich ablehnen – neigen dazu, in seinem Festhalten an der Weltrevolution das schwächste Element seines Gesamtprogramms zu sehen. Und daher behandeln selbst die sympathisierenden Historiker seine Opposition gegen den Stalinismus gern als Don Quixoterie. Indem er der Schimäre der Weltrevolution nachjagte, meinen sie, versäumte es Trotzki, seine Opposition gegen den Stalinismus auf festem Grund zu verankern.
Diese Kritik unterschätzt auf schwerwiegende Weise das revolutionäre Potenzial der internationalen Arbeiterbewegung in den 1920er und 1930er Jahren und sieht über die wahrhaft fürchterlichen Auswirkungen des Stalinismus auf die Entwicklung der Weltrevolution hinweg. Die politische Zerstörung der Komintern durch die Stalinisten – d.h. ihre Verwandlung in ein Anhängsel der Sowjetbürokratie – war die Hauptursache für die verheerenden Niederlagen der Arbeiterklasse, vor allem 1926 in Großbritannien, 1927 in China, 1933 in Deutschland und 1936–1937 in Spanien. Diese Niederlagen wiederum hatten tiefgreifende Auswirkungen auf die Entwicklungen innerhalb der Sowjetunion.
Weshalb versäumen es selbst gewissenhafte zeitgenössische Historiker, der internationalen revolutionären Strategie Trotzkis und der Linken Opposition die Beachtung zu widmen, die sie verdient? Die Wissenschaftler stehen unter dem schädlichen Einfluss ihrer reaktionären politischen Umgebung und des stagnierenden Geisteslebens. Ihr jugendlicher Optimismus ist verflogen. Die skeptische Haltung, wenn nicht direkte Ablehnung gegenüber der bloßen Möglichkeit einer sozialistischen Revolution ist eine Reaktion auf das erschreckende Absinken des politischen und theoretischen Niveaus der internationalen Arbeiterbewegung. Zeitgenössische Historiker können sich, selbst wenn sie dem Sozialismus aufgeschlossen gegenüberstehen – und aus diesem Grund geneigt waren, die Russische Revolution zu studieren –, nicht vorstellen, dass es wieder eine von Marxisten geführte Arbeitermassenbewegung geben kann, die von revolutionären, internationalistischen Zielen beseelt wird. Ihr heutiger Pessimismus hat einen rückwirkenden Charakter angenommen. Sie projizieren die Hoffnungslosigkeit, mit der sie in die Zukunft blicken, auf ihre Einschätzung früherer Revolutionen.
Dies bringt uns abschließend zur heutigen Bedeutung der Linken Opposition als Gegenstand zeitgenössischer Geschichtsforschung. Sie bildet, davon bin ich überzeugt, eines der vielversprechendsten und wichtigsten Gebiete für ernsthafte Wissenschaftler. Bis vor Kurzem war es nicht möglich, die Linke Opposition systematisch zu studieren. Über diese außergewöhnliche politische Oppositionsbewegung gegen die totalitäre Diktatur weiß man noch vergleichsweise wenig. Diese erschreckende Wissenslücke über einen der wichtigsten politischen Kämpfe des 20. Jahrhunderts ist ein Vermächtnis des Stalinismus. Im Zuge der Festigung ihrer Macht diskreditierte, kriminalisierte und ermordete die Sowjetbürokratie ihre politischen Gegner. Ergänzt wurde dieser Terror durch Geschichtsfälschungen, deren Ziel darin bestand, aus dem Bewusstsein der sowjetischen und internationalen Arbeiterklasse jede Spur der großen marxistischen Tradition und Kultur, die von Trotzki und der Linken Opposition vertreten wurden, zu tilgen. Nur so konnte die Sowjetbürokratie die falsche Gleichsetzung von Stalinismus und Marxismus herbeiführen.
Heute entstehen die Voraussetzungen dafür, dieses Lügengebäude niederzureißen. Die Öffnung der Archive in Russland markiert – unabhängig von den politischen Umständen, die sie ermöglichten – ein neues Zeitalter der Sowjetstudien, das für die Zukunft des Marxismus von größter wissenschaftlicher und politischer Bedeutung ist.
Langsam, aber sicher werden die Entdeckung, Veröffentlichung und kritische Aufarbeitung der Dokumente und lange verlorenen Manuskripte das öffentliche Bewusstsein über die historische Entwicklung der Russischen Revolution umbilden. Die marxistische Alternative zum Stalinismus, die Trotzki und die Linke Opposition vertraten, wird zunehmende Anerkennung finden. Brillante politische Persönlichkeiten wie Rakowski, Preobraschenski, Pjatakow, Joffe, Sosnowski, Jelzin, Ter-Waganjan, Boguslawski, Wilenski und Woronski, um nur einige der führenden Oppositionellen zu nennen, werden Gegenstand umfangreicher Biographien sein; und natürlich wird auch das Leben Trotzkis – eine der größten politischen und intellektuellen Gestalten des 20. Jahrhunderts – im Lichte neuer, bedeutender Informationen neu untersucht werden. Der Marxismus und die Sache des internationalen Sozialismus können von diesem unerlässlichen wissenschaftlichen Erneuerungsprozess nur profitieren.
Dmitri Volkogonov, Lenin: A New Biography, New York 1994, S. 178 (aus dem Englischen).
»Utopias in History«, in: Acts/Proceedings, 18th International Congress of Historical Sciences, Montreal 1995, S. 487–489 (aus dem Englischen).
Dmitri Wolkogonow, Triumph und Tragödie: Politisches Porträt des J.W. Stalin, Bd. 1/2, Berlin 1990, S. 152.
Ebd., S. 153f., S. 159.
Leszek Kolakowski, Die Hauptströmungen des Marxismus, Bd. 3, München 1979, S. 12.
Ebd., S. 19 und S. 32.
Lars T. Lih, Oleg Naumow und Oleg Chlewnjuk (Hrsg.), Stalin: Briefe an Molotow 1925–1936, Berlin 1996, S. 126.
Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke, Bd. 4, Berlin (Ost) 1987, S. 334.
Ebd., S. 364f.
Ebd., S. 365.
Lewis Siegelbaum, Soviet State and Society Between Revolutions, 1918–1929, Cambridge 1992, S. 62f. (aus dem Englischen).
»An das Politbüro des Zentralkomitees der RKP (Erklärung der Sechsundvierzig)«, in: Ulf Wolter (Hrsg.), Die Linke Opposition in der Sowjetunion, Bd. 1, Berlin (West) 1976, S. 214f.
Leo Trotzki, Die Dritte Internationale nach Lenin: Das Programm der internationalen Revolution und die Ideologie vom Sozialismus in einem Land, 1928, Essen 1993, S. 81f.