Peter Schwarz
Wissenschaft oder Kriegspropaganda?

Ulrich Rippert: Die Universitäten als ideologische Zentren des Militarismus

Diesen Vortrag hielt Ulrich Rippert am 19. Januar 2015 auf einer Veranstaltung der IYSSE an der Humboldt-Universität in Berlin.

Zunächst möchte ich mich für die Einladung zur heutigen Veranstaltung bedanken. Ich freue mich sehr, hier an der Humboldt-Universität auf einer Veranstaltung der IYSSE sprechen zu können.

In wenigen Tagen begehen wir den siebzigsten Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz. Als die Rote Armee am 27. Januar 1945 dieses Lager befreite, bot sich ihr ein furchtbares, ein entsetzliches Bild. Die Videosequenz, die wir eben gesehen haben, stammt aus dem Dokumentarfilm »Night Will Fall«. Sie gibt einen Eindruck von den NS-Verbrechen in den Konzentrationslagern Bergen-Belsen, Auschwitz und Dachau. Ich war sechzehn Jahre alt, als ich diese Bilder auf einer Gewerkschaftsschulung hier in Berlin zum ersten Mal sah. Ich war nicht Student, wie viele von euch, sondern Lehrling und später Arbeiter in einem großen Metallbetrieb.

Wir waren damals über diese Bilder tief schockiert. Die Dokumentaraufnahmen von Bulldozern, die Leichenberge in Massengräber schoben, von ausgemergelten, bis aufs Skelett abgemagerten, verhungerten Menschen, von der Vernichtung von Menschen auf industrielle Art und Weise, von Bergen von Frauenhaar und Kinderschuhen, von Lampenschirmen, angefertigt aus der tätowierten Leichenhaut – diese entsetzlichen Bilder brannten sich in unser Gedächtnis ein.

Die Verbrechen der Nazis lagen damals erst zwei Jahrzehnte zurück. Um die damalige Zeit herrschte in der Bundesrepublik eine gespenstische Stimmung. Niemand sprach darüber, was geschehen war. Sechs Millionen Juden waren in den Vernichtungslagern der Nazis ermordet worden, dazu noch Hunderttausende Roma und Sinti, Kriegsgefangene und viele andere, von den fünfzig Millionen Kriegstoten ganz zu schweigen. Ein ungeheures Verbrechen – und die offizielle Politik tat so, als sei nichts gewesen. Niemand sprach darüber.

Die Adenauer-Regierung hatte nach dem Krieg die so genannte »Stunde Null« ausgerufen. Sie erklärte: Wir fangen neu an, wir setzen alles auf Neustart. Heute würde man vielleicht sagen: ein gesellschaftlicher Reset. Aber unter der Oberfläche herrschten überall, auf allen Ebenen der Gesellschaft, in Wirtschaft, Politik, Medien und vor allen Dingen an den Universitäten die alten Nazi-Eliten und ihre Seilschaften.

Ein Beispiel: Nehmt die Liste der Bundespräsidenten und betrachtet ihre Nazivergangenheit. Beginnen wir mit Theodor Heuss, dem ersten Nachkriegspräsidenten. Er war kein Nazi, aber er hatte 1933 dem Ermächtigungsgesetz zugestimmt. Ihm folgte Heinrich Lübke. Er war KZ-Baumeister und oberster Bauleiter der Heeresversuchsanstalt Peenemünde, wo die Nazis in unterirdischen Militäranlagen die V2-Rakete entwickelten und bauten. Dafür wurden KZ-Häftlinge und Kriegsgefangene mit äußerst brutalen Methoden eingesetzt.

Auf Heinrich Lübke folgte Gustav Heinemann. Er war eine Ausnahme. Er hatte die Nazis aus religiösen Gründen abgelehnt. 1974 wurde Walter Scheel Präsident. Er war ebenso NSDAP-Mitglied gewesen wie sein Nachfolger Karl Carstens, der schon 1934 der SA-Sturmabteilung beigetreten war.

Richard von Weizsäcker, der dann folgte, war zu jung, um selbst Mitglied der Nazipartei gewesen zu sein. Aber er begann seine politische Karriere als Rechtsanwalt, indem er im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess einen Kriegsverbrecher verteidigte, nämlich seinen eigenen Vater. Ernst Heinrich Freiherr von Weizsäcker war Staatssekretär im Außenamt und SS-Brigadeführer gewesen. Wegen der Mitwirkung an der Deportation französischer Juden wurde er in den Nürnberger Prozessen als Kriegsverbrecher angeklagt und verurteilt. Sein Sohn Richard, der später viel gepriesene Bundespräsident, war sein Verteidiger.

Roman Herzog, der auf ihn folgte, und der bis 1999 als Bundespräsident amtierte, war wissenschaftlicher Assistent bei Theodor Maunz. Gemeinsam mit Maunz brachte er einen maßgeblichen Kommentar zum Grundgesetz heraus. Später wurde bekannt, dass dieser Maunz seit 1933 Mitglied der NSDAP und der SS gewesen war, sich an der Ausarbeitung der Nürnberger Rassengesetze beteiligt hatte und bis zu seinem Tode unter einem Decknamen für die neofaschistische »National-Zeitung« schrieb.

Von Hans Globke, der in der Nazidiktatur als Ministerialrat antisemitische Gesetze und Verordnungen entworfen hatte und von 1953 bis 1963 Chef des Kanzleramtes unter Konrad Adenauer war, will ich gar nicht sprechen. Kurt-Georg Kiesinger, Bundeskanzler von 1966 bis 1969, war wie Lübke KZ-Baumeister und NSDAP-Mitglied gewesen. Was nicht so bekannt ist: Auch der langjährige Außenminister der Bundesrepublik, Hans-Dietrich Genscher, war NSDAP-Mitglied gewesen, wenn auch in jungen Jahren.

Als Studierende in den 1960er Jahren feststellten, dass in ihren Vorlesungen alte Nazis das Wort führten, rebellierten sie dagegen. Wir alle waren entsetzt über die ungeheuren Verbrechen, die stattgefunden hatten. Abgesehen von wenigen, sehr wenigen, war niemand zur Rechenschaft gezogen worden. Der Film »Im Labyrinth des Schweigens« über den Auschwitz-Prozess gibt ein sehr gutes Bild über die Verhältnisse, die damals in der Bundesrepublik herrschten. Wir sind mit diesen geschichtlichen Fragen aufgewachsen. Immer wieder stellten wir uns die Frage: »Wie war das möglich, woher kam dieser ungeheure Rückfall in die Barbarei?« Für uns spielte das Studium der Geschichte immer eine zentrale Rolle.

Wie ist es mit euch? Wie seht ihr die Geschichte? Wie weit seid ihr mit dieser Geschichte vertraut? Wer von euch kann etwas mit dem Datum 10. Mai 1933 anfangen? Am 10. Mai 1933 fand hier, nur wenige hundert Meter entfernt, gegenüber der Universität auf dem damaligen Opernplatz, dem heutigen Bebelplatz, die zentrale Veranstaltung der Bücherverbrennung statt. Goebbels persönlich hielt damals seine berühmte Brandrede, in der er sagte: »Ich übergebe den Flammen die Werke von …«. Habt ihr davon gehört? Und wisst ihr, von wem der Ausspruch stammt: »Dort, wo man Bücher verbrennt, verbrennt man am Ende auch Menschen«? Er stammt von Heinrich Heine.

Seit Jahren findet an den Universitäten eine Kampagne gegen ein wissenschaftliches Verständnis der Geschichte statt. Für postmoderne Auffassungen gibt es in der Geschichte keine Objektivität, sondern nur subjektive Geschichtserzählungen, und jede dieser Geschichtserzählungen ist gleichberechtigt. Als Folge kennen immer weniger Menschen die geschichtlichen Fakten, denn diese spielen in der postmodernen Geschichtsauffassung kaum noch eine Rolle. Die Unterdrückung von Faktenwissen und geschichtlichen Zusammenhängen dient dazu, die Geschichte so dar­zustellen, dass sie den politischen Interessen der herrschenden Eliten dient.

An dieser Universität kann ein Professor auftreten und erklären: »Hitler war kein Psychopath, er war nicht grausam. Er wollte nicht, dass an seinem Tisch über die Judenvernichtung geredet wird«[1], ohne dass ihm jemand entgegen tritt. Vor fünfzig Jahren hätten solche Äußerungen heftigen Protest ausgelöst. Kein Professor hätte in einem Hörsaal solche Aussagen machen können, ohne dass Studierende aufgestanden wären und gesagt hätten: »Ein Moment, das ist nicht zulässig! Wir akzeptieren diese Verharmlosung von Hitler und den Nazis nicht.« Die Studierenden wären massenhaft aus der Vorlesung raus marschiert. Aber heute wird durch die systematische Untergrabung eines wissenschaftlichen Geschichtsverständnisses versucht, Bedingungen zu schaffen, unter denen ein solcher Geschichtsrevisionismus unwidersprochen verbreitet werden kann.

Als wir uns vor fünfzig Jahren mit der Frage des Faschismus beschäftigten, wurde uns schnell klar, dass es eine Verbindung zwischen Kapitalismus und Faschismus gibt. Wir lasen Hitlers Rede vor dem Düsseldorfer Industrieclub. Wir kannten die Broschüre »I Paid Hitler«, die Fritz Thyssen in England geschrieben hatte. Wir wussten, dass Hitler von den Banken und der Schwerindustrie finanziert worden war, weil er versprochen hatte, die organisierte Arbeiterbewegung zu zerschlagen. Wir wussten auch, dass Hitlers Hass auf die Juden eng mit seinem Hass auf die Arbeiterklasse verbunden war.

Aber dann stellte sich uns eine weitere Frage: »Warum hatte die Arbeiterklasse diese Katastrophe nicht verhindert?« Also studierten wir die Geschichte der Arbeiterbewegung. Das stalinistische Regime der DDR stieß uns ab. Wir wussten, dass die Stalinisten am 17. Juni 1953 hier in Ostberlin den Arbeiteraufstand niedergeschlagen und 1956 die Revolution in Ungarn blutig unterdrückt hatten. Und als im Sommer 1968 sowjetische Panzer den Prager Frühling niederwalzten, war uns klar, dass wir den Stalinismus ablehnten und bekämpften. Aber es gab Antistalinismus von links und Antistalinismus von rechts. Das heißt, es gab Kritiker des Stalinismus, die Antikommunisten waren. Wir dagegen kämpften gegen Stalinismus und Kapitalismus.

In dieser Situation entdeckten wir die Schriften Leo Trotzkis, des Gegners von Stalin, und jetzt wurde uns einiges klar. Wir studierten Trotzkis Analyse des Stalinismus. In seinem Buch »Verratene Revolution« hatte er aufgezeigt, wie die stalinistische Bürokratie entstanden war. Sie war nicht das Ergebnis der Russischen Revolution, sondern hatte sich unter dem Druck des Weltimperialismus gegen die Revolution und gegen den ersten Arbeiterstaat entwickelt. Wir studierten die Moskauer Prozesse, in denen alle Führer der bolschewistischen Partei unter falschen Anschuldigungen verurteilt und hingerichtet worden waren, immer unter der Anklage des »Trotzkismus«.

Trotzkis Kampf gegen den Stalinismus ist von historischer Bedeutung. Er widerlegt die große Lüge des zwanzigsten Jahrhunderts, dass Sozialismus und Stalinismus dasselbe seien. Er zeigt, dass es eine linke, marxistische Opposition gegen den Stalinismus gab. Daraus ergibt sich auch, dass mit dem Untergang der Sowjetunion nicht der Sozialismus gescheitert ist, sondern die stalinistische Bürokratie und ihr Regime – wie Trotzki es vorhergesagt hatte.

Trotzkis Schriften ermöglichten es uns auch, die deutsche Katastrophe zu verstehen. Die Arbeiterklasse war wegen der falschen Politik der stalinistischen KPD nicht in der Lage gewesen, den faschistischen Terror zu verhindern. Die KPD hatte die Sozialdemokraten als »Sozialfaschisten« bezeichnet, eine Einheitsfront gegen die Nazis abgelehnt und die Arbeiterklasse gespalten. Trotzki und die Internationale Linke Opposition hatten sich dagegen für eine Einheitsfront eingesetzt, für gemeinsame Kampfmaßnahmen von KPD und SPD gegen die Nazis.

Geschichte und Gegenwart

Für uns war eine genaue und detaillierte Kenntnis der Geschichte immer der Schlüssel zum Verständnis der Gegenwart. Wir haben die Bedeutung der Geschichte oft am Beispiel eines Films erklärt. Ein Film besteht aus einer großen Zahl einzelner Bilder. Schneidet man eines dieser Bilder heraus, das den heutigen Tag darstellt, kann man es beschreiben und interpretieren. Aber die Erkenntnis bleibt sehr beschränkt. Erst wenn man das Bild im Zusammenhang mit den vorangegangenen sieht, wird es lebendig und bewegt. Erst dann versteht man, was es wirklich zeigt. Man kann die handelnden Personen einschätzen, kennt ihr Handeln im Zusammenhang und kann bis zu einem gewissen Grad ihr zukünftiges Handeln vorhersehen. Die Geschichte, ein möglichst genaues Verständnis der Vergangenheit, ist der Schlüssel zum Verständnis der Gegenwart und ermöglicht einen Blick in die Zukunft. Deshalb nahm das Verständnis und das Studium der Geschichte immer eine wichtige Rolle in unserer Arbeit ein.

Das war auch für unsere Arbeit hier an der Humboldt-Universität wichtig. Vor fünf Jahren luden wir den amerikanischen Historiker Alexander Rabinowitch ein, um die deutsche Ausgabe seines Buchs »Die Sowjetmacht: Das erste Jahr« vorzustellen. Rabinowitch war über den Vorschlag begeistert. Sein Vater Eugene hatte an dieser Universität studiert. Alexander Rabinowitch war bereits in frühen Jahren mit der Russischen Revolution in Verbindung gekommen. Seine Familie war 1921 aus der Sowjetunion emigriert und stand den Bolschewisten kritisch gegenüber. In ihrem Haus in den USA verkehrten führende Menschewiki. Alexander verfolgte schon als Jugendlicher die politischen Debatten über die Revolution. Als Geschichtsstudent wollte er dann herausfinden, wie es wirklich gewesen war.

Er wurde ein international anerkannter und sehr geachteter Historiker, dessen Bücher in viele Sprachen übersetzt wurden. Doch das Institut für Geschichtswissenschaften an der Humboldt-Universität war weder bereit, ihn zu empfangen, wie dies unter weltweit bekannten Akademikern üblich ist, noch dazu, einen Hörsaal für seinen Vortrag zur Verfügung zu stellen. Erst nach langen Auseinandersetzungen konnten wir schließlich einen abgelegenen Raum im Agrarinstitut mieten.

Rabinowitch ist kein Marxist, aber er ist ein ernsthafter Historiker, der die Geschichte studiert, um zu rekonstruieren, wie es tatsächlich war. Er verbrachte einen großen Teil seines Lebens – er ist mittlerweile schon achtzig – in Archiven. Er studiert die Protokolle von Sitzungen und Konferenzen, er untersucht akribisch die Fakten, um die Geschichte so zu schreiben, wie sie wirklich stattgefunden hat. Deshalb sind seine Bücher sehr interessant und lesenswert. Das ist aber auch der Grund, warum ihm von Seiten des hiesigen Geschichtsinstituts offene Feindschaft entgegenschlug. Die Veranstaltung mit Rabinowitch wurde trotzdem ein großer Erfolg. Obwohl der Hörsaal schwer zu finden war, kamen über 400 Studierende und Arbeiter. Es war eine großartige Versammlung mit einer intensiven Diskussion. Selbst »Spiegel Online« berichtete darüber.

Wenige Tage später organisierten wir eine Veranstaltung zur Verteidigung Leo Trotzkis gegen eine verleumderische Biografie des britischen Autors Robert Service. Der Chefredakteur der »World Socialist Web Site«, David North, hatte Service im Buch »Verteidigung Leo Trotzkis« zahlreiche Fehler und Verleumdungen nachgewiesen, die von anerkannten Historikern in mehreren Ländern bestätigt wurden, unter anderem von Bertrand Patenaude von der Stanford University, der im führenden amerikanischen Fachmagazin »The American Historical Review« eine ­vernichtende Kritik veröffentlichte. Auch der leider kürzlich verstorbene Nestor der Kommunismusforschung in Deutschland, Hermann Weber, bestätigte North’ Einschätzung. Zusammen mit dreizehn weiteren bekannten Historikern und Politikwissenschaftlern riet Weber dem Suhrkamp Verlag in einem Brief von der Veröffentlichung der deutschen Ausgabe ab.

Service war also als Historiker gründlich diskreditiert. Trotzdem lud ihn Professor Baberowski im Februar 2014 zu seinem Kolloquium an die Humboldt-Universität ein, um über die Problematik politischer Biografien zu referieren. Das Kolloquium war öffentlich. Alle Interessierten seien eingeladen, hieß es in der Ankündigung. Auch wir kündigten unsere Teilnahme an und formulierten mehrere Fragen an Robert Service, die wir schriftlich und sogar in englischer Übersetzung vorlegten. Daraufhin sagte Baberowski das Kolloquium ab und verlegte es an einen geheimen Ort. Er verwehrte jedem, den er verdächtigte, kritische Fragen zu stellen, mit Hilfe eines Sicherheitsdienstes die Teilnahme. Unter den Ausgesperrten waren neben vielen Studierenden auch David North und Professor Mario Kessler, ein Historiker aus Potsdam, der den Brief an den Suhrkamp Verlag unterschrieben hatte.

Es gibt einen direkten Zusammenhang zwischen den Attacken auf Leo Trotzki, den Angriffen auf die historische Wahrheit und der Ankündigung der Bundesregierung, die bisherige Politik der militärischen Zurückhaltung sei beendet, Deutschland werde künftig in den Krisenregionen der Welt wieder eigenständig und militärisch eingreifen. Diese Ankündigung bedeutet eine politische Zäsur. Der deutsche Imperialismus zeigt sich wieder so, wie er geschichtlich entstanden ist: aggressiv nach innen und nach außen.

Obwohl die Mehrheit der Bevölkerung die Wiederkehr von Militarismus und Krieg ablehnt und viele Menschen über die Kriegspropaganda in den Medien empört sind, gibt es keine Antikriegsbewegung. Grund dafür ist, dass alle Parteien die Kriegs­politik unterstützen: Die Regierungsparteien CDU/CSU und SPD, die Grünen und auch die Linkspartei, die ihre pazifistischen Hüllen fallen lässt und auf den Kriegskurs einschwenkt. Wir sind die einzige Partei, die der Wiederkehr des deutschen Militarismus konsequent entgegentritt.

Als die IYSSE im vergangenen Jahr hier an der Universität eine Veranstaltung zum Thema »Warum wollen die deutschen Eliten wieder Krieg?« vorbereiteten, erteilte ihnen die Universitätsleitung die Auflage, keine Mitglieder der Universität zu kritisieren. Sie durften zwar allgemein über Krieg sprechen, aber niemanden beim Namen nennen. Sie durften die Frage »Warum wollen die deutschen Eliten wieder Krieg?« stellen, aber sie nicht beantworten. Sie wiesen diesen Zensurversuch zurück, und die Veranstaltung wurde mit über 200 Teilnehmern ein großer Erfolg.

Die Gleichschaltung der Universitäten

Ich berichte das so ausführlich, weil es dem Thema unserer heutigen Diskussion brennende Aktualität verleiht. Die Entwicklung ruft Erinnerungen an die Gleichschaltung der Universitäten und die Unterdrückung von Kritik vor und während der Machtübernahme der Nazis wach.

Nachdem Adolf Hitler am 30. Januar 1933 von Reichspräsident Paul von Hindenburg zum Reichskanzler ernannt worden war, errichtete die NSDAP mithilfe von Terror, Notverordnungen, Gleichschaltungsgesetzen sowie Partei- und Organisationsverboten innerhalb weniger Monate einen zentralisierten Führerstaat. Dabei spielte der Reichstagsbrand in der Nacht vom 27. auf den 28. Februar 1933 eine wichtige Rolle. Er diente als Vorwand für die Verhaftung der Führer der Kommunistischen Partei. Sie wurden als erste in das Konzentrationslager in Dachau gebracht.

Die Besonderheit der Universitäten bestand darin, dass sie ohne Zwang gleichgeschaltet wurden. Unter den Professoren fand sozusagen in vorauseilendem Gehorsam eine Selbstgleichschaltung statt. Der Gießener Soziologe Bruno Reimann veröffentlichte 1984 den Aufsatz »Die ›Selbst-Gleichschaltung‹ der Universitäten 1933«, in dem er schreibt, dass die Universitäten immer noch Schwierigkeiten haben, wenn sie über ihre Geschichte von 1933 bis 1945 sprechen. Er nannte dafür in einem Artikel folgenden Grund:

Die Universität würde in ihrer Selbstachtung erschüttert werden, wenn herauskäme, dass Institutionen höherer Bildung nicht einfach Zwangsakten des Nationalsozialismus unterworfen waren, sondern dass vielmehr im Jahr 1933 ein Prozess der »Selbst-Gleichschaltung« einsetzte, d.h. ein Prozess freiwilliger Mitarbeiter mit einer Angleichung an die nationalsozialistische Maschinerie von Staat und Macht.[2]

Reimann zeigt auf, dass der Nationalsozialismus den Universitäten nicht einfach im Sinne einer politisch-gewaltsamen Disziplinierung von außen übergestülpt wurde. Vielmehr stieß er an den Universitäten auf mannigfache politische, ideologische, soziale und auch wissenschaftstheoretische Denkströmungen und Positionen, mit denen er eine enge Verbindung einging. Eine wichtige Rolle spielte dabei der Verband der Deutschen Hochschulen (VDH). In ihm waren die Hochschullehrer der deutschen Universitäten organisiert. Er war 1920 in Halle an der Saale gegründet und 1933 mit anderen Organisationen zum »Reichsverband der Deutschen Hochschulen« zusammengeschlossen worden. Am 21. April veröffentlichte der VDH eine Erklärung, die charakteristisch für die Selbstgleichschaltung der Universitäten ist. Darin hieß es:

Die Wiedergeburt des deutschen Volkes und der Aufstieg des neuen Deutschen Reiches bedeutet für die Hochschulen unseres Vaterlandes Erfüllung ihrer Sehnsucht und Bestätigung ihrer stets glühend empfundenen Hoffnungen … Nach dem Fortfall unseliger Klassengegensätze ist für die Hochschulen wieder die Stunde gekommen, ihren Geist aus der tiefen Einheit der deutschen Volksseele heraus zu entfalten und das vielgestaltige Ringen dieser durch Not und fremdes Diktat unterdrückten Seele bewusst auf die Aufgaben der Gegenwart hinzulenken.[3]

Die Erklärung des Hochschulverbands vertrat das Führerprinzip. Sie lehnte jede Art von demokratischer Auseinandersetzung und Diskussion ab. Die aus der Aufklärung stammende Konzeption, dass wissenschaftliche Erkenntnis den offenen und demokratischen Meinungsstreit, Rede und Gegenrede erfordert, dass erst dadurch die rationale Begründung zur bestimmenden Kraft des Denkens und Handelns werden kann, wurde abgelehnt. Stattdessen wurde mit dem Führerprinzip eine autoritäre, von oben bestimmte, undemokratische Struktur eingeführt, die jede ernsthafte Auseinandersetzung und Kritik unterdrückte. Die Universitätsleitung und die Professoren wurden in ihrem Bereich zu Führern, Widerspruch war nicht mehr erlaubt.

An der Humboldt-Universität, die von 1828 bis 1945 Friedrich-Wilhelms-Universität hieß, wurde die Gleichschaltung in konzentrierter Form vollzogen. Die Universität hatte seit ihrer Gründung 1809 eine zentrale Rolle im preußischen Staat gespielt. Mit der Gründung des Deutschen Reichs 1871 unter Bismarck galt sie als »erster geistiger Waffenplatz«. Burschenschaften und Reserveleutnants beherrschten das Bild. Die Humboldt-Professoren waren glühende Unterstützer und Befürworter der kaiserlichen Flottenpolitik und standen in der ersten Reihe deutscher Kolonialpolitik.

1914 diente die Friedrich-Wilhelms-Universität als ideologisches Zentrum für die Vorbereitung des Ersten Weltkriegs. Hier wurde der berüchtigte »Aufruf an die Kulturwelt« verfasst, in dem 93 Wissenschaftler, Künstler und Literaten die blutigen Verbrechen der deutschen Truppen in Belgien rechtfertigten und den Krieg als Kampf für die Kultur verherrlichten. Dieses Dokument der Schande war ein Ausdruck der politischen und moralischen Verkommenheit der Akademikerkaste.

Knapp zwanzig Jahre später, am 28. Februar 1933, dem Tag des Reichstagsbrands, veröffentlichten Professoren der Universität Berlin eine Unterstützungserklärung für Hitler:

Die unterzeichneten Hochschullehrer an der Universität Berlin erklären sich einig mit der nationalen Bewegung, die durch das deutsche Volk geht. Sie wollen mit allen ihren Kräften mitwirken am Wiederaufbau des Deutschen Vaterlandes und sehen in dem Zusammenschlusse der nationalen Kräfte unter Führung von Adolf Hitler als Reichskanzler den einzig möglichen Weg, das Vaterland aus seiner wirtschaftlichen Notlage und seelischen Bedrängnis herauszuführen, zur Wiedergewinnung nationaler Würde, Wehrhaftigkeit und Freiheit.[4]

An der Friedrich-Wilhelms-Universität wurden jüdische Professoren intensiver und systematischer als irgendwo sonst verfolgt, entlassen und vertrieben. Unter ihnen war auch der Nobelpreisträger Albert Einstein. Die Bücherverbrennungen, über die wir vorhin schon sprachen, nahmen hier ihren Ausgang. Hier hielt Goebbels seine berühmte »Brandrede«. Von hier aus wurden die Bücherverbrennungen im ganzen Land organisiert.

Warum haben die Nazis die Bücher nicht einfach verboten? Warum haben sie nicht nur die Werke jüdischer Autoren, sondern auch die Werke aller Sozialisten, Humanisten und fortschrittlichen Autoren ins Feuer geworfen?

Die Nazis standen einer Arbeiterklasse gegenüber, die seit den 1860er Jahren dank der Arbeiterbildungsvereine und der frühen Sozialdemokratie unter Wilhelm Liebknecht und August Bebel sehr belesen und mit Literatur vertraut war, die für Volksbildung gekämpft und Stadtteilbibliotheken aufgebaut hatte. Es genügte nicht, die Bücher zu verbieten, es war notwendig, sie durch diesen Feuerprozess quasi aus dem Gedächtnis und den Herzen von Millionen von Arbeitern zu reißen.

Wie zu Beginn des Ersten stand die Friedrich-Wilhelms-Universität auch zu Beginn des Zweiten Weltkriegs im Zentrum der ideologischen und strategischen Kriegsvorbereitung. Hier wurde Ostforschung betrieben und der »Generalplan Ost« ausgearbeitet mit dem Ziel, deutschen Lebensraum im Osten zu schaffen. Der Ostfeldzug, das Unternehmen Barbarossa und die damit verbundenen Massenmorde und Verbrechen waren von langer Hand vorbereitet und nicht, wie Ernst Nolte und Jörg Baberowski behaupten, eine Verteidigungsreaktion auf die Gewalt der Bolschewisten.

Konrad Meyer, Agrarwissenschaftler und Professor hier an der Universität, spielte dabei eine Schlüsselrolle. Er entwickelte die Pläne für die »Germanisierung des Ostens«. Meyer war ein glühender Nationalsozialist der ersten Stunde und SS-Schulungsleiter. Für seinen »Generalplan Ost« erhielt er nahezu unbegrenzte Forschungsmittel und sehr viele wissenschaftliche Mitarbeiter. Bereits sein erster Entwurf zur Eindeutschung und Zwangsumsiedlung sah vor, 560.000 Juden und 3,4 Millionen Polen aus dem zu besiedelnden westpolnischen Gebiet zu »entfernen«. Später wurde der Plan erweitert. 1942 wurde hier an der Universität ein »­Generalsiedlungsplan« entworfen, der die »Entfernung« von dreißig Millionen Menschen aus den geplanten Siedlungsgebieten vorsah.

In einer Rede, die Konrad Meyer in diesem Zusammenhang hielt, erklärte er, es gelte, »unserem Volk wieder das Bewusstsein seiner ostkolonisatorischen Mission« zu vermitteln und »den Willen zu einem totalen Umbau und einer damit verbundenen Auflockerung unseres gesamten Volks- und Wirtschaftsgefüges in Stadt und Land« zu wecken. In einem Artikel für die nationalsozialistische Münchner Studentenzeitung »Die Bewegung« schrieb Meyer:

Wir müssen uns heute darüber im klaren sein, dass der Osten erst in dem Augenblick wirklich erst für alle Zeiten deutsch bleiben wird, in dem aus dem geschlossenen deutschen Siedlungsraum alles fremde Blut, das die einheitliche Geschlossenheit des grenzdeutschen Volkstums irgendwie gefährden könnte, restlos entfernt ist.[5]

Die Ostforschung war in vieler Hinsicht das Markenzeichen dieser Universität. Neben dem »Generalplan Ost« wurden in den besetzten Gebieten zahlreiche wissenschaftliche Institute und Reichsuniversitäten gegründet, die eng mit der Berliner Universität in Verbindung standen und den so genannten »Volkstumskampf« unterstützten.

Die Humboldt-Universität nach 1945

Nach Kriegsende lag die Berliner Universität im sowjetisch besetzten Sektor Berlins. Es würde einen eigenen Vortrag erfordern, über die Rolle der Humboldt-Universität in der DDR zu sprechen. Sie wird heute fast nur negativ dargestellt, aber ich will hier eine Arbeit nennen, die für unser Thema bedeutsam ist. Hier wurde während dieser Zeit das sogenannte »Braunbuch« ausgearbeitet und im Sommer 1965 veröffentlicht. Es beinhaltet die Namen und Kurzbiografien von 1800 ranghohen Nazifunktionären, die nach 1945 als Wirtschaftsführer, Politiker, Richter, Staatssekretäre und führende Beamte der Bundesrepublik Karriere machten.

Eine zweite Auflage umfasste sogar 2300 Namen, darunter fünfzehn westdeutsche Minister und Staatssekretäre, hundert Generäle und Admiräle der Bundeswehr, 828 Richter, Staatsanwälte und hohe Justizbeamte, 245 leitende Beamte des Auswärtigen Amts und 297 hohe Polizeiangehörige und Mitarbeiter des Inneren Dienstes und des Verfassungsschutzes. Soviel über die so genannte Selbstreinigung und Demokratisierung, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in der Bundesrepublik angeblich stattgefunden hat.

Nach der Wiedervereinigung nahm die Bundesregierung Rache für die Veröffentlichung des »Braunbuchs«, das viele Altnazis der Adenauerzeit entlarvt und in der Studentenrevolte der Sechzigerjahre eine wichtige Rolle gespielt hatte. Große Teile der Humboldt-Universität wurden abgewickelt. Dabei kamen auch alte Nazis zum Einsatz. So wurde der seit 1982 emeritierte Wilhelm Krelle aus Bonn zum Gründungsdekan der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät ernannt. Er leitete auch deren zentrale Berufungs- und Strukturkommission, die über die Bewerbungen von Professoren entschied und dafür sorgte, dass rund neunzig Prozent der ehemaligen Professoren und Dozenten nicht weiterbeschäftigt wurden. Später fanden Studenten heraus, dass Wilhelm Krelle im Rang eines SS-Sturmbannführers in der Waffen-SS gekämpft hatte.

Seit der Wiedervereinigung knüpft die Humboldt-Universität wieder an die negativen Seiten ihrer historischen Tradition an. Sie arbeitet eng mit der Bundesregierung zusammen, um wieder ein geistiger Waffenplatz für Kriegsvorbereitung und Großmacht­politik zu werden. Das Umschreiben der Geschichte spielt dabei eine wichtige Rolle.

David North schreibt im Vorwort seines Buchs »Die Russische Revolution und das unvollendete Zwanzigste Jahrhundert«, das der Mehring Verlag kürzlich in deutscher Sprache herausgebracht hat:

Die Geschichte ist zum Schlachtfeld geworden … Die ständig zunehmenden Konflikte und Krisen des 21. Jahrhunderts sind ausnahmslos mit Auseinandersetzungen über die Geschichte des 20. Jahrhunderts verwoben. Je stärker aktuelle politische Kämpfe an historische Fragen rühren, desto offener wird der Umgang mit ihnen durch politische Erwägungen bestimmt. Die Vergangenheit wird im Interesse der heutigen politischen Reaktion gefälscht … Die Geschichtsforschung – genau genommen Pseudo-Geschichtsforschung – wird immer schamloser den finanziellen und politischen Interessen der Herrschenden untergeordnet.[6]

Damit möchte ich zum Abschluss meines Vortrags kommen. Angesichts der intensiven Kriegsvorbereitung, der täglichen Kriegshetze in den Medien und der rasanten militärischen Aufrüstung sind wir alarmiert. Wir lassen uns aber nicht einschüchtern. Wir stützen uns auf die große Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung, die Rassismus und Krieg vehement ablehnt. Wir treten den Kampagnen in den Medien und hier an der Humboldt-Universität selbstbewusst entgegen. Wir werden verhindern, dass eine kriegslüsterne Elite diese und andere Universitäten wieder in ideologische Zentren der Kriegsvorbereitung verwandelt. Deshalb begrüße ich, dass die IYSSE an der Wahl zum Studentenparlament teilnehmen. Diese Wahlteilnahme ist Teil einer politischen Kampagne gegen die Verwandlung der Universität in eine Art »Hoover-Institution an der Spree«.

Wir gründen unsere Zuversicht und unseren Optimismus auf ein Studium der Geschichte. Das zwanzigste Jahrhundert mit seinen großen Klassenkämpfen, Revolutionen und Tragödien beinhaltet viele wichtige politische Lehren. Auf der Grundlage dieser Lehren bauen wir eine internationale Partei mit dem Ziel auf, die Arbeiterklasse weltweit zu mobilisieren. Sie ist die gesellschaftliche Kraft, die eine solche Kriegsentwicklung verhindern wird. Deshalb ist die Verteidigung der historischen Wahrheit für uns von solch entscheidender Bedeutung.


[1]

Jörg Baberowski, in: Dirk Kurbjuweit, »Der Wandel der Vergangenheit«, in: Der Spiegel 7/2014, 10.2.2014, S. 116, http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-124956878.html, aufgerufen am 16.6.2015.

[2]

Bruno W. Reimann, »Die Unterwerfung deutscher Universitäten 1933«, auf: Social Science Open Access Repository, http://www.ssoar.info/ssoar/handle/document/3461, aufgerufen am 26.6.2015.

[3]

Bruno W. Reimann, »Die ›Selbst-Gleichschaltung‹ der Universitäten 1933«, in: Hochschule und Wissenschaft im Dritten Reich, Jörg Tröger (Hrsg.), Frankfurt am Main 1984, S. 44.

[4]

»Verlautbarung Berliner Universitätslehrer zur Unterstützung der Hitler-Regierung«, 28.2.1933, auf: Jüdisches Museum Berlin, http://www.jmberlin.de/ 1933/2013/02/28/verlautbarung-berliner-universitatslehrer-zu-unterstutzung-der-hitler-regierung/, aufgerufen am 27.6.2015.

[5]

Dr. Isabel Heinemann, »Wissenschaft, Planung, Umvolkung. Konrad Meyer und der ›Generalplan Ost‹«, 21.5.2003, in: Die Berliner Universität und die NS-Zeit, Vortragsreihe der Humboldt-Universität 2003, zitiert nach: https://www.geschichte.hu-berlin.de/en/forschung-und-projekte-en-old/foundmed/dokumente/forschung-und-projekte/ns-zeit/media/vortrag_heinemann.pdf, aufgerufen am 27.6.2015.

[6]

David North, Die Russische Revolution und das unvollendete Zwanzigste Jahrhundert, Essen 2015, S. 31, 24.